Unsinnig und unbezahlbar - Die neuen Raketenpläne der Bundeswehr
Die Panorama-Sendung vom 10. Mai 2001 im Wortlaut
Es sieht so aus, als wären die Weichen für eine Beteiligung der Bundesrepublik an den US-Raketenabwehrplänen hinter den Kulissen schon längst gestellt worden. Im Licht der nachfolgenden Enthüllungen - es handelt sich um das Sendemanuskript von Panorama (ARD, 10. Mai 2001) - werden auch die Äußerungen von Bundeskanzler Schröder im März d.J. verständlicher, als er eine deutsche Beteiligung aus industriepolitischen und technologischen Gründen nicht mehr ausschließen wollte. Im Verteidigungsministerium wird nun ein neues Konzept für die Luftverteidigung gezimmert, in dem nicht nur mit dem US-amerikanischen NMD, sondern auch mit einem eigenen deutschen System gerechnet wird. Für beide Varianten aber wird es heißen müssen: nicht finanzierbar und politisch nicht erwünscht! Im Folgenden aber der Text des Panorama-Beitrags:
Der Bundesverteidigungsminister hat es nicht leicht. Die Ausrüstung der
Bundeswehr ist veraltet, die Truppe hat zu wenig Munition für Übungen, es
fehlen Transportflugzeuge und Ersatzteile für Panzer. Da muss dringend
investiert werden. Aber so, wie es aussieht, wird er dafür auch im
kommenden Jahr kein Geld haben. Die Haushaltsschlacht um die Finanzen
der Bundeswehr wird er wohl verlieren. Scharping in Not. Umso
überraschender sind da Pläne, die bei der sogenannten Geheimschutzstelle
des Bundestages liegen. Nur ganz wenige Abgeordnete kennen sie bisher. In
einem streng vertraulichen Papier wird ein deutsches
Raketenabwehr-Programm geplant, ein System, das sehr teuer ist und
dessen Nutzen und Notwendigkeit Fachleute bezweifeln.
Verteidigungsminister Scharping weiß kaum, wie er die Löcher in seinem
Etat stopfen soll. Der Bundeswehr fehlt das Geld, aber das setzt der
Fantasie der Generäle keine Grenzen, zumindest wenn es um teure und
hochfliegende Rüstungsprojekte geht. Der Generalinspekteur der
Bundeswehr hat sie in einem geheimen Papier zusammengefasst, das
Panorama vorliegt, dem Material- und Ausrüstungskonzept für die Streitkräfte
der Zukunft. Eines der wichtigsten Vorhaben: Luftverteidigung gegen
taktische Flugkörper, also feindliche Raketen. Man mag es kaum glauben:
Deutschland soll eine eigene Raketenabwehr aufbauen, genauso, wie es die
Amerikaner planen und auch von ihren Verbündeten erwarten.
Auf die Frage, wie groß eigentlich der Druck der Amerikaner sei, dass die
Deutschen nicht von der Fahne gehen, antwortet der Generalinspekteur der
Bundeswehr, General Harald Kujat: "Es gibt überhaupt keinen
amerikanischen Druck, sondern diese Entscheidung, uns an diesem
Technologieprogramm zu beteiligen, ist eine Entscheidung, die wir aus
nationalen Interessen heraus getroffen haben."
Geplant ist die Entwicklung und Anschaffung eines Luftverteidigungssystems
der neuen Generation. Außerdem soll ein Teil der schon vorhandenen
Patriot-Waffensysteme der Bundeswehr mit Milliardenaufwand modernisiert
werden.
Der frühere Luftwaffengeneral Hermann Hagena kennt das brisante Papier. Er
hat das neue Luftverteidigungskonzept untersucht und die Kosten errechnet:
"Die Gesamtkosten für beide System liegen zwischen 40 und 50 Milliarden
Mark nach der ursprünglichen Planung. Um diese Zahl verständlich zu
machen, muss man sich vorstellen, dass der Anteil, der im
Verteidigungshaushalte für Materialkosten zur Verfügung steht, bei 7 bis 8
Milliarden liegt. Das heißt, wir müssten sechs bis sieben Jahre lang den
gesamten Materialkostenanteil des Verteidigungshaushaltes nur für diese
beiden Systeme ausgeben."
30 Patriot-Luftabwehrbatterien besitzt die Bundeswehr bisher zur Abwehr
feindlicher Flugzeuge. 12 davon sollen aufgerüstet werden. Sie sollen dann,
so zumindest die Hoffnung der Generäle, künftig auch angreifende Raketen
bekämpfen. Die Hoffnung basiert weniger auf Fakten als auf erfolgreicher
Propaganda der US-Rüstungsindustrie. Im Golfkrieg vor zehn Jahren seien,
so deren vollmundige Behauptung damals, 9 von 10 angreifenden irakischen
Raketen zerstört worden.
Wie ertappte Schuljungen mussten amerikanische Generäle ein halbes Jahr
später einem Untersuchungsausschuss die Wahrheit berichten: Die meisten
Patriots hatten die angreifenden Sprengköpfe verfehlt, manche fielen sogar
den eigenen Truppen auf den Kopf. Als hätte es diesen Offenbarungseid nie
gegeben, investiert die Bundeswehr unverdrossen weiter in das fragwürdige
System.
Hermann Hagena: "Wir kaufen hier für mehrere Milliarden eine Waffe, die wir
nicht ein einziges Mal selber getestet haben. Das ist an sich ein absolutes
Unding. Wir verlassen uns darauf, dass die Tests, die also von der
Herstellerfirma gemacht werden. Das ist so, als ob Sie ein Auto fahren, und
Probefahrten gibt's nicht, Sie müssen sich schon darauf verlassen, dass es
funktioniert."
Im vertraulichen Konzept der zukünftigen Luftverteidigung erklären die
Generäle, wo sie den Feind vermuten. Sie fordern die Herstellung einer
einsatzwirksamen Grundbefähigung gegen taktische Raketen der
Reichweitenklasse bis 1.000 Kilometer.
Kujat: "Ich sehe im Augenblick für unser Territorium keine konkrete
Bedrohung in diesem Reichweitenspektrum, um das es ja geht im
Augenblick. Aber es deutet eben alles darauf hin, nach dem, was wir wissen,
dass diese Risiken im Jahre 2008, 2010 bestehen werden. Und wir planen
eben nicht für heute und morgen, sondern wir planen auf lange Sicht."
Aber wo steht der Feind? Im Umkreis von 1.000 Kilometern liegen nur
verbündete oder befreundete Staaten. Rechnet die Bundeswehr tatsächlich
mit einer Raketenbedrohung zum Beispiel aus Andorra, San Marino oder
Finnland?
Hagena ist dieser Ansicht: "Für Deutschland gibt es eine Bedrohung nicht,
oder es gäbe sie höchstens dann, wenn feindliche Kräfte, nehmen wir an,
aus dem islamischen Krisenbogen bis auf die Höhe des Gardasees etwa
vorrücken würde. Und das sind denn doch reichlich unwahrscheinliche
Szenarien."
Selbst Großbritannien, sonst immer engster Bündnispartner der USA,
beteiligt sich nicht an der Entwicklung des neuen Systems. Der
Rüstungsexperte Professor Neville Brown weiß, warum. Schließlich hat er
die wichtigste Studie für das britische Verteidigungsministerium verfasst: "Ich
kann das gar nicht anders sagen: Ich zweifle immer noch, ob eine Technik,
mit der man eine Angriffsrakete kurz vor dem Einschlag im Zielgebiet
bekämpfen will, überhaupt funktioniert. Und mittlerweile sieht man ja, dass
die technischen Schwierigkeiten noch viel größer sind, als ursprünglich
angenommen. Da sind sich die meisten Experten einig."
Weiter behauptet die Bundeswehr, die Raketenabwehrsysteme seien
notwendig für den Schutz eigener Truppen in Krisengebieten. Die bisherigen
Erfahrungen mit solchen Einsätzen aber sprechen eindeutig gegen diese
Begründung.
Brown: "Unter solchen Bedingungen sind diese Waffensysteme ungeeignet.
Vor allem Patriot ist nur sehr schwer transportierbar. Und ein schneller
Transport ist wichtig, denn Sie müssen die Truppen am Anfang solcher
Einsätze schützen, danach nützt es wenig."
Außer Scharping und seinen Generälen kennt kaum einer das heikle
Konzept zur Luftabwehr. Es schlummert noch in der Geheimschutzstelle des
Bundestages.
Hagena: "Man könnte zusammengefasst sagen: Die Patriot ist eine Waffe
gegen eine Bedrohung, die es nicht gibt, 1.000 Kilometer gegen
Deutschland. Es ist weiter ein System, das gegen diese Drohung, wenn es
sie gäbe, nicht funktionieren würde. Und wenn es denn irgendwann mal einen
technischen Durchbruch gibt, dann wird sie mit Sicherheit so teuer sein,
dass wir sie nicht bezahlen können."
Das Ganze erscheint also eher wie ein Förderprogramm für die
amerikanische Rüstungsindustrie.
Bericht: Thomas Berbner, Stephan Stuchlik
Schnitt: Michael Schlatow
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