Alle Macht den Raketen
ÜBERLEGENE ABSCHRECKUNG - George Bush führt Amerika in ein zweites Nuklearzeitalter
Von Otfried Nassauer
                               Hugh! George W. Bush, der kleine, große Häuptling hat gesprochen. Über
                               seine umstrittenen Pläne für ein neues Raketenabwehrsystem, die Zukunft
                               der Abschreckung und der nuklearen Abrüstung. Und was hat er gesagt?
                               "Die Welt von heute braucht eine neue Politik, neue Konzepte der
                               Abschreckung, die auf offensiven und defensiven militärischen Fähigkeiten
                               beruhen." Es sei möglich, schon "in naher Zukunft" erste, begrenzte
                               Fähigkeiten zur Raketenabwehr zu stationieren, die später durch neue,
                               bessere Technologien ergänzt werden können. Erforderlich sei ein neuer
                               rüstungskontrollpolitischer "Rahmen jenseits der Beschränkungen des 30
                               Jahre alten ABM-Vertrages". Dieser Rahmen soll "weitergehende
                               Reduzierungen der Nuklearwaffen" ermöglichen. Die USA sollten dabei "mit
                               gutem Beispiel vorangehen, um ihre Interessen und die Interessen des
                               Friedens in der Welt" zu erreichen. 
                               Das war alles? Keine konkreten Zahlen, keine Zeitpläne? Weder für die
                               Abrüstung, noch für die Raketenabwehr? Nein, keine Details. Bushs Rede
                               ist ein Meisterwerk der "deliberate ambiguity", der absichtlichen
                               Zweideutigkeit. 
                               Liest man die Ankündigungen wohlwollend, so bieten sie eine Chance:
                               Einseitige Abrüstungsschritte können den atomaren Abrüstungsprozess
                               beschleunigen, besonders dann, wenn sie von den USA als stärkster
                               Atommacht ausgehen. Russland kann künftig - sagen wir im Jahr 2015 -
                               kaum noch 1.000, wahrscheinlicher noch weniger Atomwaffen finanzieren.
                               Fachkundigen Beobachtern wie Steven Maaranen, der für
                               US-Verteidigungsminister Rumsfeld die Überprüfung der Nuklearpolitik
                               leitet, ist das nur allzu bewusst. Die USA können also mit gutem Beispiel
                               vorangehen und neue Schritte einleiten, schneller als im START-Prozess
                               vorgesehen abzurüsten. 
                               Wohlwollend könnte man auch die Forderung nach einem neuen,
                               rüstungskontrollpolitischen Rahmen, einer neuen Politik der
                               Proliferationsverhinderung betrachten. Verträge, ob Miet- oder
                               Rüstungskontrollverträge, werden nicht für die Ewigkeit geschlossen. Wäre
                               das Ziel, ein besseres, verbindlicheres und wirksameres Instrumentarium
                               der vertraglichen Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung zu
                               schaffen, so wäre es einen Versuch wert. Und natürlich wäre es zu
                               wünschen, das Zeitalter der MADness, der Fähigkeit zu gesicherter
                               gegenseitiger, nuklearer Zerstörung, hinter sich zu lassen wie Bush es
                               fordert. 
                               So weit, so schön, so gut. Die republikanische Wirklichkeit aber ist eine
                               andere. Sie ist unilateral an den Interessen der USA und innenpolitisch
                               klientelorientiert. Rüstungsindustrie, Militär und rechte Ideologiewächter - so unterschiedlich ihre Motive auch sein mögen -, sie plädieren für einen
                               anderen Weg. Es geht um nukleare Abschreckung aus der Position
                               eigener Überlegenheit. Dieses Konzept will das Zeitalter "gegenseitiger
                               gesicherter Verwundbarkeit" hinter sich lassen. Im Klartext heißt die Logik
                               dieses zweiten Nuklearzeitalters: Abschrecken ohne abgeschreckt zu
                               werden! Vertragliche Rüstungskontrolle? Ja, aber nur, wenn sie die eigenen
                               Möglichkeiten abzuschrecken nicht beschränkt. Das geht nur ohne
                               ABM-Vertrag. Und besser auch ohne den START-Prozess, denn einseitige
                               Abrüstungsschritte erlauben mehr Flexibilität; sie sind umkehrbar. 
                               Zudem: Die Chance, zusätzliche Mittel für neue, teure Rüstungsprojekte
                               zu akquirieren, wittern unter Bush auch jene, die gerne neue Nuklearwaffen
                               für das neue nukleare Zeitalter hätten. Die US-Luftwaffe hat bereits mit
                               Arbeiten für eine neue Interkontinentalrakete begonnen, die Marine möchte
                               eine neue Trident-Rakete. In den Atomwaffenlaboratorien wird über eine
                               neue Generation atomarer Waffen nachgedacht: Präzise
                               Langstreckenwaffen mit kleinen, atomaren Sprengköpfen zur Bekämpfung
                               tief verbunkerter Ziele in aller Welt. Keine gegnerische Regierung soll sich
                               selbst und ihre Massenvernichtungswaffen mehr sicher wähnen. 
                               In den kommenden Wochen will die Regierung Bush Freund und Feind
                               konsultieren. Eine diplomatische Charme-Offensive, republikanische
                               Sunshine-Politik? Hochrangige Delegationen reisen durch Asien und
                               Europa, um für die Grundstrukturen des "neuen Denkens" zu werben und
                               Reaktionen, Bedenken und Kritiken einzusammeln. Außenminister Powell
                               wird seinen russischen Amtskollegen Iwanow in Washington informieren.
                               Ende Mai oder Anfang Juni will George W. Bush eine zweite
                               sicherheitspolitische Rede halten und Details nachliefern. Wie viele
                               Nuklearwaffen sollen wann abgerüstet, welche vertrauensbildenden
                               Maßnahmen ergriffen werden? Wann und in welchen Schritten kommt das
                               künftige, mehrschichtige Raketenabwehrsystem zum Schutze der USA
                               und ihrer Verbündeten? 
                               Schon der Zeitplan lässt erahnen, worum es bei den Konsultationen
                               vorrangig geht: Die Feinabstimmung für Bushs zweite Rede. Mit welchen
                               Details soll diese aufwarten und mit welchen besser nicht? Das stellt die
                               Konsultierten angesichts der interpretierbaren ersten Rede vor ein großes
                               Problem. Sie müssen präzise Argumente gegen mögliche konkrete
                               Elemente der zweiten Rede formulieren. 
                               Am deutschen Beispiel: Die Bundesregierung könnte nicht nur Fragen
                               beantworten müssen, auf die sie vorbereitet ist - zur Zukunft der
                               Rüstungskontrolle und zu Auswirkungen auf die Beziehungen mit
                               Russland. Sie wird auch um Antworten auf unliebsame Fragen gebeten
                               werden. Ist Deutschland beispielsweise bereit, an einem europäischen
                               Raketenabwehrsystem gegen Bedrohungen aus 1.000 bis 3.000 Kilometer
                               Entfernung mitzuarbeiten? Ein solches System würde - anders als bisher
                               geplante Raketenabwehrsysteme - das Territorium der Bundesrepublik
                               schützen. Wäre Berlin dafür, ließe sich nur noch schwerlich dagegen
                               argumentieren, dass auch Washington sein Territorium schützt. Die Falle
                               ist längst gestellt. Sie wird wahrscheinlich auch zuschnappen.
                               
                               
                               
Aus: Freitag, 11. Mai 2001
                               
                               
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