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"Wer Kiew hat, kann Rußland zwingen"

Die Ukraine und die deutschen Kriegsziele im Ersten Weltkrieg

Von Reiner Zilkenat *

Als der deutsche Imperialismus im August 1914 daran ging, seinen »Platz an der Sonne« mit Waffengewalt einzufordern, spielte die Frage nach den Kriegszielen naturgemäß eine herausragende Rolle.

Am 9. September 1914 brachte Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg in einer geheimen Denkschrift zu Papier, für welche Ziele die Millionen deutscher Soldaten an den Fronten zu leiden und zu sterben hatten. Wir lesen hier u.a.: »Sicherung des Deutschen Reiches nach West und Ost auf erdenkliche Zeit. Zu diesem Zweck muß Frankreich geschwächt werden, daß es als Großmacht nicht neu erstehen kann, Rußland von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden.« Bereits einen Monat zuvor hatte der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Gottlieb von Jagow, folgende bemerkenswerte Sätze in einem Erlaß für den deutschen Botschafter in Wien formuliert: »Insurgierung nicht nur Polens, sondern auch der Ukraine erscheint uns sehr wichtig; 1. als Kampfmittel gegen Rußland; 2. weil im Falle glücklichen Kriegsausganges die Bildung mehrerer Pufferstaaten zwischen Rußland und Deutschland bzw. Österreich-Ungarn zweckmäßig würde, um den Druck des russischen Kolosses auf Westeuropa zu erleichtern und Rußland möglichst nach Osten abzudrängen.«

Mitteleuropa-Konzept

Zum Teil noch radikaler formuliert waren die Kriegszieldenkschriften des Alldeutschen Verbandes und von Organisationen und Repräsentanten der deutschen Industrie, darunter von August Thyssen, Walther Rathenau, Alfred Hugenberg und Gustav Stresemann. Im Laufe der Jahre gerieten die Zielsetzungen für den Osten Europas immer maßloser und bildeten eines der bevorzugten Themen in den Debatten über die anzustrebenden Kriegsziele. Die Kernfrage lautete: Was bedeutete es konkret, Rußlands Herrschaft »über die Vasallenvölker« zu brechen? Die territoriale Einverleibung eines Teils des Zarenreiches, z. B. des Baltikums und der Ukraine, in das Deutsche Kaiserreich bzw. die mit ihm verbündete Habsburgermonarchie? Die Schaffung eines selbständigen, aber von den Mittelmächten politisch und wirtschaftlich abhängigen Polen? Wie sollten sich derartige direkte Annexionen bzw. die Schaffung von »Einflußzonen« (informal empire) in das Konzept zur Herstellung eines von Deutschland dominierten »Mitteleuropa« einordnen?

Im Zentrum derartiger Überlegungen stand bald die Ukraine, sowohl aus ökonomischen als auch aus politisch-militärstrategischen Gründen.

Bereits am 10. Dezember 1887 hatte ein junger Diplomat, kein anderer als der damals in St. Petersburg als Botschaftsrat amtierende spätere Staatssekretär und Reichskanzler Bernhard von Bülow, in einem Bericht an das Auswärtige Amt folgende Gedanken formuliert: »Wir müssen eventuell dem Russen so viel Blut abzapfen, daß derselbe sich nicht erleichtert fühlt, sondern 25 Jahre außerstande ist, auf den Beinen zu stehen. Wir müssen die wirtschaftlichen Hilfsquellen Rußlands für lange hinaus durch Verwüstung seiner Schwarzerd-Gouvernements, Bombardierung seiner Küstenstädte, möglichste Zerstörung seiner Industrie und seines Handels zuschütten. Wir müßten endlich Rußland von jenen beiden Meeren, der Ostsee und dem Schwarzen Meer, abdrängen, auf denen seine Weltstellung beruht.« Und 1897 schrieb Paul Rohrbach, einer der führenden außenpolitischen Publizisten seiner Zeit, in seinem Artikel »Durch die Ukraine« leitmotivisch: »Wenn der Tag kommt, wo Rußland das Schicksal herausfordert, dann, ja dann könnte Rußland zertrümmert werden. Wer Kiew hat, kann Rußland zwingen!«

Zwanzig Jahre später waren diese Anschauungen weitgehend Konsens innerhalb der politischen und militärischen Führung des Kaiserreiches, allerdings mit einer erheblichen Einschränkung: Die Zerstörung der Industrie und des Handels wurde nicht mehr in dieser Radikalität gefordert, weil das Zentrum der Industrie, der Agrarwirtschaft und des Handels, gelegen in der Ukraine, sowohl für die deutsche und österreichische Kriegswirtschaft als auch für die strategischen Planungen für die Zeit nach dem Kriege, eine herausragende Bedeutung gewonnen hatte.

Investitionen und Besetzung

Vor dem Ersten Weltkrieg waren durch das deutsche Großkapital für die Förderung der Rohstoffe und den industriellen Aufbau der Ukraine große Summen investiert worden. Dabei handelte es sich u.a. um die Gelsenkirchener Bergwerks AG, das größte deutsche Bergwerksunternehmen, die Oberschlesischen Eisen- und Kohlewerke AG, die Borsig-Werke, Orenstein und Koppel sowie die Oberschlesische Eisenbahnbedarfs AG. Für das nötige Kapital sorgten vor allem die Deutsche Bank und die Berliner Handels-Gesellschaft. Das stärkste Engagement gab es bei der Förderung der Manganerze; drei Viertel seines Bedarfs deckte Deutschland mit Hilfe des Imports aus der Ukraine. Auch die Einfuhr von Eisenerzen befand sich auf einem hohen Niveau.

Vor allem waren Deutschland und die Habsburgermonarchie daran interessiert, neben mineralischen Rohstoffen auch Getreide und Vieh aus der Ukraine nach Deutschland und Österreich zu verbringen, um die sich immer mehr zuspitzende Versorgungskrise der Bevölkerung in der Heimat zu entspannen. Die Ukraine war schließlich traditionell die »Kornkammer« des Zarenreiches.

Als am 3. März 1918 der Frieden von Brest-Litowsk zwischen der bolschewistischen Regierung und den Mittelmächten geschlossen wurde, mußte die junge Sowjetmacht, um für das vom Krieg schwer heimgesuchte Land eine Atempause herbeizuführen, in Gebietsabtretungen zu Gunsten der Mittelmächte einwilligen. Dabei wurde auch die Ukraine, die als selbständiger Staat mit Deutschland und der Habsburgermonarchie einen gesonderten Friedensvertrag, den »Brotfrieden«, bereits am 9. Februar 1918 abgeschlossen hatte, von österreichisch-ungarischen und deutschen Truppen besetzt. Von deutscher Seite waren fünf Armeekorps mit zusammen über 500000 Mann als »Heeresgruppe Kiew« im Lande stationiert, darunter auch auf der Halbinsel Krim. Sie hatten die Aufgabe, endgültig die Rote Armee aus dem Lande zu vertreiben, jegliche revolutionären Bewegungen niederzuhalten und dabei die im April 1918 installierte Marionettenregierung des Hetman Pavlo Skoropadskij nach Kräften zu unterstützen. Insbesondere war sicherzustellen, daß die so dringend benötigten Rohstoffe und Agrarprodukte in ausreichender Menge, so wie es im »Brotfrieden« vereinbart worden war, »freiwillig« und gegen Bezahlung abgeliefert wurden. Geschah dies nicht, wurde mit militärischer Gewalt nachgeholfen.

Die österreichischen Einheiten, insgesamt 250000 Mann, wurden vom General der Infanterie Alfred Krauß kommandiert, der es übrigens im »Dritten Reich« der Faschisten noch zum »Reichstagsabgeordneten« und SA-Brigadeführer bringen sollte. Ihm war vom Oberkommando in Wien folgende Instruktion mit auf den Weg gegeben worden: »Ruhe und Ordnung in unserem Besatzungsgebiet aufrecht zu erhalten; die Ukraine für die Monarchie auszunützen, vor allem an Getreide und Vieh und für die Zukunft günstige Handelsbeziehungen anzubahnen.«

Die wichtigste Person auf deutscher Seite war der Stabschef der Heeresgruppe Ukraine, Generalleutnant Wilhelm ­Groener, der spätere Reichswehr-, Verkehrs- und Innenminister der Weimarer Republik. Als glänzender Organisator und Prototyp des »politischen Offiziers« sollte er die Willfährigkeit der ukrainischen Regierung sicherstellen und die Ablieferung der Agrarprodukte und Rohstoffe organisieren. Dazu war ein landesweites Netz von entsprechenden Ablieferungs- und Aufkaufstationen installiert worden, das seinen Zweck jedoch nur zum Teil erfüllen konnte. Ihm zur Seite stand als Vorsitzender einer »Wirtschaftskommission« der von der Firma Krupp beurlaubte Direktor Otto Wiedfeldt, der in der Weimarer Republik zum Botschafter in Washington avancierte. Auch Wiedfeldt vermochte es nicht, für den notwendigen Nachschub an Erzen, Getreide und Vieh zu sorgen. Die kleinen und mittleren Bauern horteten einen beträchtlichen Teil ihrer Ernten, zumal sie mit größtem Mißtrauen die Wiedereinsetzung der alten Großgrundbesitzer beobachteten, deren ökonomische und politische Macht nach der Einsetzung der Marionettenregierung Skoropadskijs neu auflebte. Übrigens stellte Skoropadskij der deutschen Regierung nicht weniger als 23 Millionen Rubel für die Vorbereitung und Durchführung seines Putsches in Rechnung, von denen allein jeweils bis zu drei Millionen Rubel für Agitationszwecke und »kräftige Händedrücke« sowie für »wohlgesinnte Leute« (insgesamt etwa 10000 Personen) aufgewandt worden seien. Außerdem: Bereits 1915/16 hatten Großindustrielle wie z. B. Emil Kirdorf (Vorstandsvorsitzender der Gelsenkirchener Bergwerks AG und Mitglied des Geschäftsführenden Ausschusses des Alldeutschen Verbandes) und Alfred Hugenberg (Vorsitzender des Direktoriums der Krupp-Werke und Gründungsmitglied des Alldeutschen Verbandes) für die entsprechenden finanziellen Voraussetzungen gesorgt, um in Deutschland den Gedanken für eine von Rußland »unabhängige« Ukraine zu propagieren. Zu diesem Zweck wurde die Zeitschrift Osteuropäische Zukunft aus der Taufe gehoben, als deren Herausgeber nach außen ein am 11. Dezember 1915 gegründeter »Verband deutscher Förderer der ukrainischen Freiheitsbestrebungen« firmierte, bei dem es sich um nichts anderes als eine Filiale des Alldeutschen Verbandes handelte.

Erste Etappe im Osten

Im Verlaufe des Jahres 1918 steigerte sich der offene Widerstand der Bauern gegen die deutschen und österreichischen Besatzungstruppen derart, daß Feldgerichte immer häufiger gegen Widerstand leistende Ukrainer harte Strafen, darunter auch die Todesstrafe, verhängten. Nicht mehr der Aufkauf von Getreide und Vieh, sondern das gewaltsame Requirieren war jetzt immer häufiger an der Tagesordnung. Mit den Worten des österreichischen Generals Krauß: »Die bolschewistisch aufgehetzte, nur auf Landerwerb erpichte Landbevölkerung war nicht gewillt, ihre Vorräte gegen schlechte Bezahlung abzugeben.«

Streit gab es beim Verteilen der Beute auch zwischen den verbündeten Deutschen und Österreichern, denen zu jener Zeit ökonomisch das Wasser bis zum Halse stand: Jeder beanspruchte den Löwenanteil der Beute für sich, so daß ungeachtet vertraglicher Abmachungen ständige Auseinandersetzungen zwischen ihnen an der Tagesordnung waren.

Hinter den Kulissen lief währenddessen die Debatte über die Zukunft der Ukraine auf Hochtouren. Zu einer Zeit, im Sommer und Herbst 1918, als sich die bevorstehende militärische Niederlage der Mittelmächte immer deutlicher abzeichnete, wurden hier noch Gedanken und Pläne entwickelt, wie die Ukraine nach dem Krieg als »deutsches Interessengebiet« organisiert werden könnte. Manches davon erinnert in seiner vollständigen Realitätsblindheit an die Planungen der Nazis für ein »Großdeutschland« im Zweiten Weltkrieg, als der Sieg der Alliierten längst entschieden war. So schrieb der Leiter der »Zentralen Einkaufsgesellschaft« in Kiew, Hugo Lindemann, am 27. September 1918 an den Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt von dem Bussche: »Man muß also das ganze Gebiet hier nicht vom heutigen, sondern mehr von einem zukünftigen Gesichtspunkt betrachten. Dies auch deshalb, weil ja der ganzen politischen Lage nach der Osten für uns nach dem Kriege das einzige Gebiet sein wird, in dem die deutsche Volkswirtschaft sich ohne größere Hemmungen wird betätigen können und zu diesem Osten bildet doch heute die Ukraine für uns die erste Etappe. Ihr Ausbau ist also, wenn auch die praktischen Resultate nicht sofort greifbar werden, auf jeden Fall weiter zu fördern.«

Am Ende stand der Abzug der deutschen und österreichischen Truppen. Die letzten deutschen Einheiten verließen eilig die Ukraine im März 1919. Drei Monate zuvor hatten bereits die Truppen der Habsburgermonarchie das Weite gesucht. Welch ein Kontrast zu den Postulaten eines »Gastkommentars«, den Eugen Lewinsky, Mitglied des österreichischen Abgeordnetenhauses, am 1. Oktober 1914 auf der Titelseite des Berliner Tageblatts formuliert hatte, den angeblich bevorstehenden Sieg der Mittelmächte vor Augen: »Das moskowitische Rußland muß vom Schwarzen Meer zurückgedrängt und zwischen Rußland und dem Balkan in den Gebieten der Ukraine ein Riegel eingeschoben werden. Wird Rußland durch die selbständige Ukraine wie durch einen Keil von Südeuropa getrennt, so wird es seine ganze Aufmerksamkeit sich selbst und seinen Besitzungen in Asien zuwenden.« Und weiter: »Es gilt, eigenes Kapital und eigenes Material an Arbeitskräften in ein fremdes Land zu übertragen, um daselbst das eigene Kapital nutzbringend zu verwenden und den Absatz und die Verwertung heimischer Produkte sicherzustellen. Welche Vorzüge und welch gute Aussichten sich eben für eine derartige Tätigkeit in der unabhängigen Ukraine für die angrenzende Donaumonarchie und das verbündete Deutschland erschließen, braucht nicht erst erörtert zu werden.«

Die Voraussetzungen, um diese abenteuerlichen Pläne mit Leben erfüllen zu können, waren im November 1918 durch die Niederlage der Mittelmächte und die revolutionären Ereignisse in Deutschland und Österreich gegenstandslos geworden. Der deutsche Imperialismus, seine politischen, militärischen und wirtschaftlichen Eliten, erwiesen sich jedoch als wenig lernfähig. 1939 bzw. 1941 starteten sie erneut den Versuch eines »Griffs nach der Weltmacht«, wobei auch dieses Mal der Ukraine eine wichtige Rolle zufiel Die Resultate sollten für Europa und die Welt allerdings weitaus verheerender werden als 1918.

* Reiner Zilkenat (geb. 1950) ist Historiker. Er studierte von 1970 bis 1976 Geschichte und Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Er promovierte 1989 zum Berliner Metallarbeiterstreik an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED. Jüngste Publikationen (als Herausgeber): »Deutschland im 20. Jahrhundert« (2007); »Antisemitismus und Demokratiefeindschaft in Deutschland im 20. Jahrhundert« (2011). Reiner Zilkenat arbeitet in der Bundesarbeitsgemeinschaft Antifaschismus der Partei Die Linke mit und gibt deren Rundbrief mit heraus. In jW veröffentlichte er zahlreiche Beiträge, zuletzt am 26. März »Heerschau der Industriellen« zur Tagung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie und des Arbeitgeberverbandes 1924.

Aus: junge welt, Mittwoch, 7. Mai 2014 (Beilage)



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