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Irgendwo steinalt

Theorie. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach der sogenannten Fischer-Kontroverse in der BRD nimmt die revisionistische Diskussion über den Ersten Weltkrieg Fahrt auf. Versuch einer vorläufigen Bestandsaufnahme

Von Leo Schwarz *

Imanuel Geiss, in jungen Jahren einer der engsten Mitarbeiter des Hamburger Historikers Fritz Fischer und nach 1980 – prominentes Exempel der konservativen Trendwende in den Geisteswissenschaften der BRD – glücklich zur Totalitarismustheorie bekehrt, hatte vor über zehn Jahren eine Idee. Fischer, so teilte er einem Gesprächspartner mit, habe eigentlich »ganz persönlich für sich das Dritte Reich durch seine wissenschaftlichen Arbeiten bewältigen« wollen. Diese recht eigentümliche Erledigung eines wissenschaftlichen Lebenswerks wurde zwischenzeitlich mehrfach dankbar aufgegriffen. Auch Christopher Clark, dessen Arbeit über die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs aktuell in zwölfter Auflage vorliegt, hat seinen deutschen Lesern, deren Mehrheit in dem Buch doch vor allem einen Anti-Fischer zu finden hoffte, nicht wesentlich mehr mitzuteilen. Die »Fischer school«, so Clark, sei der einflußreichste Exponent einer historiographischen Tradition, die die Diskussion über den Weltkrieg als »blame game« geführt habe. Die (vermeintliche) Schuldzuweisung an »the Germans« lasse sich aber nicht auf sachliche Gründe, sondern auf die sehr spezielle Gemütsverfassung dieser Historikergeneration zurückführen (»links between this debate and the fraught process by which German intellectuals came to terms with the contaminating moral legacy of the Nazi era« – »ein Zusammenhang zwischen dieser Debatte und dem schwierigen Prozeß innerhalb dessen deutsche Intellektuelle die kontaminierende moralische Erblast der Nazi-Ära bewältigt haben«).

Noch 2012, als die Erstausgabe der »Schlafwandler« in London erschien, hatte Clark eingeräumt, daß eine abgeschwächte Variante (»diluted version«) der Thesen Fischers nach wie vor die wissenschaftliche Diskussion über den Weg in den Krieg strukturiere. Diese Einschätzung dürfte er angesichts der nahezu uneingeschränkt euphorischen Aufnahme seines Buches in Deutschland inzwischen revidiert haben. Hierzulande wird Fischer nun ebenso unvermittelt wie selbstverständlich als erledigt behandelt, ohne daß bislang einer seiner Verächter ausgeführt hätte, was genau an dessen Befunden als grundsätzlich überholt oder widerlegt anzusehen sei. Die Geschwindigkeit und Radikalität dieses Perspektivenwechsels ist beeindruckend. Der Düsseldorfer Historiker Gerd Krumeich (der nicht einmal zu den vorbehaltlosen Cheerleadern Clarks gehört) gab im November 2013 einem Interviewer, der sich den Hinweis erlaubt hatte, daß Clark die Ergebnisse Fischers eigentlich nicht kritisiert, sondern »komplett ignoriert« habe, nachdrücklich Bescheid: Die Veröffentlichungen der Fischer-Schule würden »irgendwo steinalt« wirken, seien wohl auch nicht Wissenschaft, sondern »Abrechnung mit Deutschland, Abrechnung mit der Bundesrepublik«, er frage sich, »wie wir uns damals so dafür haben begeistern können«, und sowieso werde Fischer »unter Historikern ja heute nicht mehr ernstgenommen« – wovon Clark vor zwei Jahren offenbar noch nichts gehört hatte. Einmal in Fahrt, fiel Krumeich auch noch über die vor gar nicht allzu langer Zeit als Standardwerk gefeierte Wilhelm-II.-Biographie John C. G. Röhls her (»richtig alte Fischer-Schule«).

Entgleisungen dieses Kalibers gehen auch deshalb unwidersprochen durch, weil die Befunde Fischers in der Kontroverse um seine Arbeiten von Anfang an bewußt oder leichtfertig verzerrt wiedergegeben wurden. Die grotesk unsinnige Behauptung, Fischer habe »den Deutschen« eine »Alleinschuld« am Krieg zugeschoben, dient auch jetzt wieder dazu, die Debatte um Clarks Buch und die parallele Entlastungsoffensive nationalmoralisch zu befeuern – »Warum Deutschland nicht allein schuld ist«, schlagzeilt kongenial ein seltsames Manifest, das die drei Historiker Sönke Neitzel, Dominik Geppert und Thomas Weber zusammen mit der Überbauarbeiterin Cora Stephan Anfang Januar 2014 in Springers Welt untergebracht haben. Der von Clark indirekt angestoßenen Rehabilitierung der alten konservativen Gegenspieler Fischers wird demnächst die Wiederbelebung offen nationalistischer Geschichtslegenden folgen, wenn es nicht gelingt, die aus den Quellen herausgearbeiteten Ergebnisse Fischers gegen revisionistische Relativierungen zu verteidigen.

Andere Gründe, gleiches Ergebnis

Nach 1945 stellte sich die deutschsprachige Forschung zum Ersten Weltkrieg neu auf. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich Autoren der Zunft vor allem mit der Zurückweisung der »Kriegsschuldlüge«, einzelnen Fragen der Außenpolitik des Kaiserreiches sowie Aspekten des militärischen Kriegsverlaufs beschäftigt. Finanziell und infrastrukturell durch staatliche Stellen gestützt und zum Teil gelenkt, hatten sie eine schon in den letzten Jahren der Weimarer Republik nur noch schwer zu überblickende Quellen-, Memoiren- und Forschungsliteratur produziert. Die konservativ-deutschnationale Mehrheit der Historiker war sich mit der kleinen Gruppe liberaler Fachkollegen darin einig, daß der politischen Führung des Kaiserreiches keine Verantwortung für die Auslösung des großen Krieges im Sommer 1914 zuzuweisen sei. Gleichwohl griff man die Kategorie der »Kriegsschuld« methodisch umfassend auf; Untersuchungen zur Julikrise dienten vor allem dem Zweck, sie einem der ehemaligen Gegner – meist traf das Rußland – aufzubürden. Abweichende Auffassungen wurden geschlossen ignoriert oder gleich ganz unterdrückt, so das einschlägige Gutachten des linksliberalen Juristen Hermann Kantorowicz. Eine Aufarbeitung der Kriegszielproblematik fand so gut wie nicht statt. Die eigentlichen, oft erbittert geführten Kontroversen drehten sich um »Fehler« und »Versäumnisse« einzelner Militärs und Politiker, etwa des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg oder des Gespanns Paul von Hindenburg/Erich Ludendorff. Diese Debatten setzten im Grunde die Auseinandersetzungen fort, die sich während des Krieges zwischen dem alldeutsch-konservativen und dem liberalen Flügel der herrschenden Klasse entwickelt hatten. Die deutschnationalen Historiker stellten General Ludendorff als Lichtgestalt, Bethmann Hollweg aber als schwachen Zauderer und als Saboteur einer kraftvollen Machtpolitik Deutschlands hin. Dagegen verteidigten ihre liberalen Gegenspieler (Hans Delbrück, Friedrich Meinecke, Friedrich Thimme, Johannes Ziekursch u.a.) die politische Konzeption des Reichskanzlers Bethmann Hollweg und machten umgekehrt den annexionistischen Nationalismus der Alldeutschen bzw. die hinter diesen stehende schwerindustriell-großagrarische Interessengruppe für die Isolierung des Reiches und den »inneren Zusammenbruch« verantwortlich. 1933 wurde die deutschnationale Position administrativ durchgesetzt und blieb bis 1945 verbindlich.

Nach dem Zweiten Weltkrieg paßten die konservativen Professoren, die sich in den westlichen Besatzungszonen mit wenigen Ausnahmen bald wieder etabliert hatten, die Argumentation an die veränderte Situation an. Eine offene Apologetik der alldeutschen Ultras war durch die Ereignisse unmöglich geworden und wurde vom katholisch-integrativen Konservatismus der frühen Bundesrepublik auch nicht mehr nachgefragt. Historiker wie Hans Herzfeld und Egmont Zechlin entdeckten nun ihr Herz für Bethmann Hollweg, den sie über zwei Jahrzehnte als »Versager«, »Träumer« und »Verderber des Reiches« niedergeschrieben hatten. Galt dessen angebliche »Friedensliebe« ehedem als Makel, so wurde daraus nun das Merkmal eines maßvollen, nach innen und außen auf Ausgleich bedachten Staatsmannes, dessen Kreise bedauerlicherweise durch das Treiben der alldeutsch-militaristischen Fronde, auf deren Konto man jetzt den gesamten deutschen Imperialismus buchte, gestört worden seien. Diese Umwertung war etwa um 1960 abgeschlossen, ihre monumentale Ausarbeitung fand sie in Gerhard Ritters Opus magnum »Staatskunst und Kriegshandwerk«.

Tragik und Recht

In den anderthalb Jahrzehnten nach 1945 wurde auch der »Kriegsschuld«-Komplex grundlegend überarbeitet. Schuldvorwürfe an die deutsche Adresse wurden weiterhin abgewehrt, die ehemaligen Kriegsgegner, in der Weimarer Republik und der Nazizeit noch Gegenstand rüder Attacken, aber jetzt geschont; die »Schuld« war nun auf alle Schultern gleichmäßig verteilt. Neben Ritter etablierte vor allem Karl Dietrich Erdmann zwei spezifische neue Narrative – das Motiv des »Tragischen« und die Figur des »gleichen Rechts«. Eine stilbildende Interpretation der deutschen Geschichte als »Tragödie« hatte schon 1946 Friedrich Meinecke in »Die deutsche Katastrophe« geliefert. Hieran anschließend bewertete man nun auch die diplomatischen Verwicklungen des Sommers 1914 neu. Erdmann betonte 1959 in einem Handbuchbeitrag am Beispiel des österreichisch-serbischen Konflikts die »Verstrickung« der verantwortlichen Politiker aller beteiligten Staaten in eine »tragische Situation«, in der letztlich »Recht gegen Recht« gestanden habe: »Ebensowenig wie sich Serbien selbst preisgab, konnte Österreich darauf verzichten, Serbien auszuschalten.« Ein zentrales Ergebnis dieser Neutralisierung unterschiedlicher Interessen war, daß jegliche qualitative Bewertung der einzelnen »Rechte« unterblieb. Das imperialistische Interesse des deutsch-österreichischen Blocks, durch eine »Ausschaltung« Serbiens eine gegen Rußland und Italien gerichtete Vormachtstellung im zuvor jahrelang umstrittenen Südosteuropa zu schaffen, steht bei Erdmann neben dem »Recht« Serbiens, seine unabhängige Existenz zu verteidigen.

Es mutet beinahe gespenstisch an, daß dies bis in die einzelnen Kategorien und Bewertungen hinein exakt das Ergebnis ist, das Clark auf den letzten Seiten seines Buches präsentiert: Der Kriegsausbruch war eine Tragödie, kein Verbrechen (»a tragedy, not a crime«), weder Serben noch Österreicher hatten gegeneinander »recht« (»Was one of these enterprises more wrong than the other? The question is meaningless.«), »Schuld« hat niemand oder haben doch irgendwie alle (»There is no smoking gun in this story; or, rather, there is one in the hands of every major character.«). Daß Clark in seiner Arbeit indirekt durchaus eine mehr als nur kontingente Hierarchie von »Schuld« aufbaut (auf den Plätzen eins, zwei und drei in dieser Reihenfolge Serbien, Rußland, Frankreich), kann hier außer Acht bleiben. Wesentlich ist, daß sein Fazit den Stand der westdeutschen Kriegsunschuld-Apologetik vor dem Auftreten Fischers ziemlich deckungsgleich abbildet.

Die Rehabilitierung der Erdmannschen Idee, jede beteiligte Macht hätte durch einen Verzicht auf ihr »Recht« den großen Krieg verhindern können, haben die Autoren des oben erwähnten Manifests bereits dankbar aufgegriffen. Neitzel, Geppert, Weber, Stephan werfen Großbritannien vor, durch seinen Eintritt am 4. August 1914 den mutmaßlich kurzen Kontinental- erst zum mehrjährigen Weltkrieg gemacht zu haben. Das wiege besonders schwer, zumal seine Interessen am allerwenigsten berührt worden seien. Das hatte so ähnlich bereits 1998 der neokonservative Autor Niall Ferguson vorgetragen, damit unter Fachleuten aber noch für Heiterkeit gesorgt. Die implizite Behauptung, die damalige erste Weltmacht hätte aus ihrer De-facto-Allianz mit Frankreich und Rußland über Nacht aussteigen und der Errichtung einer deutschen Hegemonie auf dem Kontinent ruhig zusehen sollen, kann nur aussprechen, wer von den systemischen und historischen Mechanismen imperialistischer Machtpolitik nichts weiß oder aber das damalige Kalkül der deutschen Reichsleitung teilt. Die hatte im Juli 1914, auch das hat Fritz Fischer gezeigt, alle diplomatischen Hebel in Bewegung gesetzt, um Großbritannien aus dem geplanten, für gewinnbar gehaltenen Kontinentalkrieg herauszuhalten. Als sich das am Abend des 1. August 1914 kurzzeitig abzuzeichnen schien, knallten im Berliner Schloß die Sektkorken.

Griff nach der Weltmacht

Fritz Fischers berühmtes Buch, das 1961 in erster Auflage erschien, ist – das hat sich bis heute nicht so ganz herumgesprochen – in erster Linie eine Untersuchung der offiziellen und inoffiziellen Kriegsziele des Kaiserreiches bzw. der verschiedenen Fraktionen seiner herrschenden Klasse. Fischer wies nach umfangreichen Archivstudien erschöpfend nach, daß die politische Reichsleitung zwischen 1914 und 1918 kontinuierlich ein nur marginal variiertes Kriegszielprogramm verfolgt hatte, das in letzter Instanz darauf hinauslief, das Deutsche Reich als zweite Weltmacht neben Großbritannien zu etablieren. Dazu strebte sie – neben einem geschlossenen Kolonialreich in Afrika (»Mittelafrika«) und überseeischen Flottenstützpunkten – die Hegemonie auf dem europäischen Kontinent an. Dies hofften sie durch begrenzte Annexionen in Ost und West, vor allem aber durch einen ausgefeilten Mechanismus indirekter Herrschaft, ein an Deutschland politisch und ökonomisch angelehntes System formell unabhängiger Staaten (»Mitteleuropa«), durchzusetzen. Mit dem Buch entzog Fischer dem alten Märchen vom deutschen »Verteidigungskrieg«, nebenbei aber auch der Bethmann-Apologetik, die den »moderaten« Reichskanzler gegen die harten Annexionisten ausgespielt und so weichere, jedoch nicht weniger weit ausgreifende Kriegsziele weggezaubert hatte, den Boden. Indirekt rückte das ausgebreitete Material auch die Erzählung, der größenwahnsinnige »Dämon« Hitler habe die deutsche Außenpolitik auf ein völlig neues Gleis gesetzt, in bedenkliches Zwielicht und gab der von Fischer zunächst nicht weiter entwickelten These einer imperialistischen Kontinuität von der »Weltpolitik« der 1890er Jahre bis zum Faschismus ausreichende Plausibilität.

All das aber war nicht Gegenstand der Auseinandersetzung, die sich nun entwickelte. Fischer hatte dem Hauptteil seines Buches zwei einleitende Kapitel vorangestellt, in denen er zum einen die prekäre internationale Position des »deutschen Imperialismus« und zum anderen die Politik Berlins in der Julikrise behandelte. In letzterem lehnte er sich inhaltlich an die dem deutschen Publikum völlig unbekannten älteren Darstellungen des Italieners Luigi Albertini und des US-Amerikaners Bernadotte E. Schmitt an, die allerdings nur auf gedruckte Quellen zurückgegriffen hatten und von Fischer nun mit Primärquellen gestützt und akzentuiert wurden. Fischer urteilte abschließend: »Da Deutschland den österreichisch-serbischen Krieg gewollt, gewünscht und gedeckt hat und, im Vertrauen auf die deutsche militärische Überlegenheit, es im Jahre 1914 bewußt auf einen Konflikt mit Rußland und Frankreich ankommen ließ, trägt die deutsche Reichsführung einen erheblichen Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges.« Neben dem Kaiser, den führenden Militärs und dem Auswärtigen Amt habe sich auch der Kanzler Anfang Juli 1914 dazu entschlossen, das Risiko eines Kontinentalkrieges einzugehen, den er »jetzt noch« für gewinnbar hielt. Die entscheidende »Fehlrechnung« war nach Fischer die unrealistische Spekulation auf die britische Neutralität, sollte dieser Krieg tatsächlich stattfinden (unter den arrangierten Bedingungen mit Rußland als »Angreifer« nach Beginn eines österreichisch-serbischen Krieges). Fischers Position war also durchaus nuanciert; er wies den moralischen Begriff der »Schuld« explizit zurück und betonte, daß »die Regierungen der beteiligten europäischen Staaten in der einen oder anderen Weise und in sehr abgestufter Form an der Verantwortung für den Ausbruch des Weltkrieges teilhaben«. Daß die deutsche Regierung einen ausgewachsenen Weltkrieg absichtsvoll angezettelt habe, wird im »Griff nach der Weltmacht« mit keiner Silbe behauptet (vielmehr sogar ausgeschlossen), wohl aber, daß bei ihr »von einem ›Hineinschlittern‹ in den Krieg nicht die Rede sein kann«. Diese These hat Fischer 1969 in seinem zweiten großen Buch zum Thema deutlich zugespitzter formuliert, da er es zu diesem Zeitpunkt als erwiesen ansah, daß die Reichsleitung den Kontinentalkrieg im Sommer 1914 nicht einfach nur »riskierte«, sondern bewußt »auslöste«.

Solche Feinheiten freilich haben Fischer damals wenig geholfen. Die Phalanx der BRD-Professoren, die nach 1961 gegen ihn antrat, empfand bereits die These, Berlin habe 1914 bewußt einen Kontinentalkrieg gegen Rußland und Frankreich in Kauf genommen, als unerträgliche Zumutung. Sie zerrte das Buch sofort auf das ihr vertraute Terrain des Rechtens über die »Kriegsschuld«. Ritter denunzierte es instinktsicher als Wiederbelebung des Versailler Kriegsschuldparagraphen und gefährliche »Selbstverdunkelung deutschen Geschichtsbewußtseins«. Er führte bis zu seinem Tod im Juli 1967 im Zusammenspiel mit staatlichen Stellen und der Bundeszentrale für politische Bildung einen regelrechten Feldzug gegen die »Geißelbruderschaft« (Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier) um den Hamburger Historiker Fischer. Dessen in jeder Hinsicht verdienstvolles Werk ist den für seine Gegner nützlichen Verdacht, es lade »den Deutschen« die »Alleinschuld« am Krieg auf, bis heute nicht wieder losgeworden.

Riezlers Tagebuch

Die Jahre 1964 und 1965 brachten Höhepunkt und Umschlag der Fischer-Kontroverse. Zum einen setzte sich Fischer im Oktober 1964 auf dem Berliner Historikertag vor zahlreichen Zuhörern in einem Schlagabtausch gegen Ritter, Zechlin und Erdmann durch, die beim wissenschaftlichen Nachwuchs nun rasch an Kredit verloren. Zum anderen ging der parallele Versuch Erdmanns, das damals nur ihm zugängliche (und erst 1972 nach endlosen Streitereien, in denen sich die Fischer-Kontroverse schließlich verlief, vollständig veröffentlichte) Tagebuch Kurt Riezlers durch selektives Zitieren gegen Fischer in Stellung zu bringen, spektakulär daneben. Riezler, zu diesem Zeitpunkt eine fast vergessene Figur, war vor und während des Krieges der engste politische Berater des Reichskanzlers gewesen und ausweislich seines Tagebuchs eine Persönlichkeit von beachtlichem intellektuellen Format. Er hatte im Sommer 1914 die Überlegungen im inneren Berliner Machtzirkel präzise festgehalten, die, wie sich nach und nach herausstellte, Fischers Skizze der Julikrise eindrucksvoll bestätigten. Riezler notierte am 7. Juli 1914 eine Äußerung Bethmann Hollwegs, die der Behauptung Clarks, in Berlin habe man zu diesem Zeitpunkt nicht ernsthaft mit einem großen Krieg gerechnet, direkt widerspricht: »Eine Aktion gegen Serbien kann zum Weltkrieg führen.« Volker Ullrich hat in seiner Besprechung von Clarks Buch in der Zeit bereits darauf hingewiesen, daß Clark zwar aus der Tagebucheintragung zitiert, genau diesen Satz aber wegfallen läßt. In seinem Tagebucheintrag vom 8. Juli 1914 faßte Riezler die – von Fischer 1961 ohne Kenntnis dieser Stelle herausgearbeitete – Bereitschaft des Reichskanzlers, das Risiko eines großen Krieges einzugehen, in dem man Rußland den Part des »Angreifers« zugedacht hatte, in zwei Sätzen zusammen: »Kommt der Krieg aus dem Osten, so daß wir also für Österreich-Ungarn und nicht Österreich-Ungarn für uns zu Felde zieht, so haben wir Aussicht, ihn zu gewinnen. Kommt der Krieg nicht, will der Zar nicht oder rät das bestürzte Frankreich zum Frieden, so haben wir doch noch Aussicht, die Entente über diese Aktion auseinanderzumanövrieren.« Clark zitiert hiervon nur den ersten Satz und stellt ihn in den Rahmen einer unverbindlichen Reflexion über die Bündnistauglichkeit der Donaumonarchie. So ändern sich die Zeiten. Noch für den späten Imanuel Geiss, der seinem akademischen Lehrer Fritz Fischer psychologische Diagnosen stellte, war das Riezler-Tagebuch bereits für sich genommen »vernichtend für die traditionelle Kriegsunschuld-Apologie«.

Nimmt man das Riezler-Tagebuch und andere zentrale Quellen ernst, dann läßt sich Clarks Buch bei unvoreingenommener Lektüre nicht gegen Fischers wesentliche Ergebnisse in Stellung bringen. Dieses Urteil schließt Fischers zweites Buch, in dem er 1969 die deutsche Vorkriegspolitik von 1911 bis 1914 untersuchte und die im »Griff nach der Weltmacht« nur gestreifte These einer Kontinuität deutscher Hegemonialpolitik von der Vorkriegszeit bis zum Weltkrieg breit ausführte, aber auch die meisten Studien seiner Schüler ein. Clark treibt – mit allerdings beeindruckender Präzision – die Debatte über die Julikrise auf den Stand der späten 50er Jahre zurück. Es ist aufschlußreich, überrascht aber nicht, daß ihm die veröffentliche Meinung in Deutschland dabei kritiklos folgt. Die an seine Darlegungen anschließenden, bislang alles in allem noch recht ungelenken Versuche, die Kriegsschuldfrage unter apologetischen Vorzeichen erneut aufzurollen, werden indes ins Leere laufen, solange man sich nicht an die Kriegszielproblematik herantraut, deren konzeptionelle Bedeutung die mit der Julikrise verbundenen Fragen weit in den Schatten stellt. Mit solchen Vorstößen aber ist zu rechnen. Propyläen/Ullstein hat für den Mai 2014 ein Buch von Jörg Friedrich angekündigt, das dem Vernehmen nach vor allem die Kriegszielpolitik der Entente-Mächte behandelt. Friedrich wird sich treu bleiben und vermutlich mit großer Geste enthüllen, daß etwa Großbritannien diesen Krieg nicht lediglich zu dem Zweck geführt hat, die Unabhängigkeit Belgiens zu verteidigen. Derlei ist in der Fachwissenschaft zwar schon seit Jahrzehnten unstrittig und war auch für Fischer kein Geheimnis, wird aber zu dessen weiterer Relativierung ausgenutzt werden. Um hier in den nächsten Jahren nicht völlig unter die Räder zu kommen, kann der kritischen Geschichtswissenschaft nur geraten werden, sich die Anerkennung der Ergebnisse Fischers – und, nebenbei bemerkt, auch die der Forschergruppe um Willibald Gutsche und Fritz Klein an der Akademie der Wissenschaften der DDR – nicht leichtfertig ausreden zu lassen.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 3. April 2014


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