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Über Krieg und Frieden

"Der Lebensnerv des Staates": 1914 setzte sich Rosa Luxemburg mit dem deutschen Militarismus auseinander *

Vor noch nicht einer Woche hat der berufene Vertreter des deutschen Militarismus, Falkenhayn, im Reichstage erklärt, wenn man sich künftig auf das deutsche Militär nicht mehr so verlassen könnte, wie das früher der Fall war, dann könne ihm die ganze Kultur gestohlen bleiben. In diesem Wort ist der Geist des heutigen Militarismus trefflich charakterisiert. Und mein lieber Staatsanwalt in Frankfurt hat das große Wort gesprochen: Ein Sozialdemokrat, der gegen Krieg und Militarismus agiert, muß auf lange Zeit ins Gefängnis gesperrt werden, denn das sei ein Attentat auf den Lebensnerv des Staates.

Also der blinde Gehorsam des Soldaten ist der Lebensnerv des Staates; wenn aber der Soldat anfängt, über die Zweckmäßigkeit der Befehle nachzudenken, statt als blindes Werkzeug allen Befehlen von oben Gehorsam zu leisten, dann wird es um den Lebensnerv geschehen sein, und die Herrlichkeit des heutigen Militärstaates bricht zusammen. Man bezeichnet den unbedingten sklavischen Gehorsam als den Lebensnerv des Staates. Dagegen ist man unbesorgt um die Nahrungsmittelversorgung des darbenden Volkes.

Seit Jahrzehnten regt sich in den Massen des deutschen Volkes der Hunger nach Bildung und Wissen. Das ist eine Frucht unserer Aufklärungsarbeit. Aber die herrschenden Klassen denken nicht daran, die Volksschulen auszugestalten, denn die Volksschulen sind ja nicht der Lebensnerv des Staates. (…) Wenn jemand das Recht hat, das Wort Vaterland im Munde zu führen, dann sind wir es. Wir, das arbeitende Volk, durch dessen Hände die gesamte Gesellschaft erhalten wird. Freilich sind wir nicht der Meinung, daß alle Völker gegeneinander wie reißende Bestien zum Sprunge bereitstehen müssen und daß der schließlich recht behält, der die größten Leichenhügel aufrichtet. Wir glauben vielmehr, daß es den Interessen der Menschheit besser entspricht, daß alle Völker ohne Unterschied der Rasse, der Sprache und des Glaubens in völligem Frieden und in Freundschaft miteinander leben und in der Erfüllung von Kulturaufgaben wetteifern. Wir geben uns natürlich nicht der Täuschung hin, dieses Ideal könne verwirklicht werden, solange der Kapitalismus noch besteht. Darin unterscheiden wir uns auch von den bürgerlichen Friedensfreunden, die (…) für die ungeheuersten Militärvorlagen stimmten, die je erlebt wurden. Damit, daß wir sagen, solange der Kapitalismus herrscht, sind Kriege unvermeidlich, wollen wir keineswegs das Volk wehrlos machen. Im Gegenteil wollen wir ja gerade den gesamten wehrfähigen Männern die Waffe in die Hand geben. Dann wird allerdings auch die Entscheidung über Krieg und Frieden in der ehrlichen Hand des Volkes ruhen.

Handelte es sich bei den Bestrebungen des heutigen Militarismus wirklich um die Verteidigung des Vaterlandes, dann brauchte man nicht das verwerfliche System der Soldatenmißhandlungen. Oder glaubt ein Mensch im Ernst, der malträtierte Soldat werde mit besonderer Begeisterung in den Kampf ziehen? Die Mißhandlungen gehören zum eisernen Bestand der militärischen Erziehungsmethoden. Sie sind nötig, willenlose Sklaven aus den Soldaten zu machen, die sich zu jedem Verbrechen kommandieren lassen, die sich gebrauchen lassen, jene Scheußlichkeiten zu begehen, die wir im Chinafeldzug, in dem Kampf gegen die Hereros erleben mußten. Sie sind aber auch nötig, damit der Soldat, ohne mit der Wimper zu zucken, bereit ist, auf seine Arbeitsbrüder, auf Vater und Mutter zu schießen.

Von welcher Seite wir also den Militarismus betrachten, wir müssen dem Frankfurter Staatsanwalt recht geben: Das Militär ist der Lebensnerv des heutigen Staates. Und gerade gegen diesen müssen wir unsere ganze Kraft richten. Macht man uns auch zum Vorwurf, daß wir die Entscheidung über Krieg und Frieden in die Hände des Volkes legen wollen, obwohl davon nichts in der Verfassung stünde, so antworten wir darauf mit den trefflichen Worten unseres Meisters Lassalle: Die wirkliche Verfassung – das sind die tatsächlichen Machtverhältnisse. (…) Der Militarismus jedoch und die herrschenden Klassen haben den Glauben an sich selbst verloren. Daraus erklärt sich die Angst vor unserer Agitation. Der Militarismus und der auf ihm aufgebaute heutige Staat sind eben durch und durch morsch. Wir aber sind die moralische Macht. Und die Verfolgungen, denen wir ausgesetzt sind, führen uns immer neue Massen zu. Mit zehnfacher Lust und Freude müsse wir in den Kampf ziehen, wenn solche aufklärenden Worte wie die des Kriegsministers und des Staatsanwaltes fallen.

Quelle: Rosa Luxemburg: Über Militarismus und Arbeiterklasse. Rede am 12. Mai 1914 im VI. Berliner Reichstagswahlkreis. Hier zitiert nach: Rosa Luxemburg, Werke, Band 3, Berlin 2003, Seiten 443–445

* Aus: junge welt, Samstag, 1. März 2014



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