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Ich begehr, nicht schuld zu sein

Auf der Schwelle eines neuen Gedenkjahres – wer begann den Ersten Weltkrieg?

Von Kurt Pätzold *

Hierzulande lässt sich keine Jahresschwelle überschreiten, ohne dass sich Gedanken auf einen bevorstehenden Tag richten, der in Geschichtskalendern hervorgehoben ist. Im eben zu Ende gegangenen Jahr war dies die Völkerschlacht bei Leipzig vor zweihundert Jahren. Nun, 2014, richtet sich der Blick auf jenen ersten Augusttag, da es ein Jahrhundert her sein wird, dass der Krieg begann, der von den Deutschen zunächst der Weltkrieg genannt wurde, bis er 1941 die Nummerierung »Erster« erhielt. Hinter dem Geschehen des Zweiten Weltkrieges verblasste die Erinnerung an die Jahre von 1914 bis 1918. Das betraf auch die wissenschaftliche, kritische Beschäftigung.

Nur eine Minderheit von Außenseitern des Faches und von Publizisten sowie Schriftsteller und Künstler hatten in der Weimarer Republik begonnen, die Ursachen des Ersten Weltkrieges, die Rolle des Deutschen Kaiserreiches sowie die Urheber, Autoren und Interessenten an den verfolgten, aber gescheiterten Eroberungsplänen bloßzulegen. Vor ihnen lag ein Lügengebirge, an dessen Errichtung bereits in den ersten Stunden des Krieges gearbeitet worden war, wovon die Erklärungen des Hohenzollern Wilhelms II. und des Habsburgers Franz Josef I. zeugen, die gleichlautend beteuerten, ihnen habe nichts mehr am Herrscherherzen gelegen als der Friede. Tatsächlich wurden Millionen Deutsche und Österreicher glauben gemacht, sie zögen in einen Verteidigungskrieg. Zehntausende taten das freiwillig und begeistert und meinten, sie wären Weihnachten wieder zu Hause.

Nach Kriegsende entbrannte der Streit um Kriegsursachen und Kriegsschuld angesichts der Millionen Toten und des Massenelends erst vollends. Angestachelt wurde er durch jenen Artikel 231 des Versailler Vertrages, der Deutschland und seine Verbündeten zu alleinigen Urhebern des Krieges erklärte und folglich deren Gegner als Opfer des Angriffs erscheinen ließ. Damit wurde nicht nur eine propagandistische Festschreibung vorgenommen, sondern vor allem der Anspruch auf wiedergutmachende Reparationen begründet. Diese These war genauso falsch wie die von Deutschlands Unschuld. Vor allem erleichterte sie deutschen Legendenbildnern die Polemik.

Schon in der Weimarer Republik verfügten die über die stärkeren Bataillone und Mittel, welche vom Verteidigungskrieg, vom Dolchstoß und dem »im Felde unbesiegten« Heer redeten und schrieben. In den Nazijahren beherrschten diese Legenden die Staats- und Parteipropaganda. Hitler rühmte sich in »Mein Kampf«, schon 1920 in Massenversammlungen in München zum Thema gesprochen zu haben, zu Zeiten, als sich angeblich keiner dafür interessierte. Er habe über »die wahren Ursachen des Weltkrieges« wieder und wieder Vorträge gehalten. In ihnen verfocht auch er die These von Deutschlands Unschuld, doch verband er sie mit einer Kritik und behauptete, die außenpolitische Devise der kaiserlichen Politik habe gelautet: »Erhaltung des Weltfriedens mit allen Mitteln«. Deutschland sei »Opfer einer Weltkoalition« geworden, die zum Weltkrieg entschlossen war. In einer Rede 1939 betonte er zudem, gerade amerikanische Staatsrechtler, Historiker und Geschichtsprofessoren hätten nachgewiesen, »dass Deutschland am Ausbruch des Weltkrieges genau so schuldlos war, wie irgend ein anderes Volk«. Eine verwandte Fassung dieses Bildes von gleicher Schuld oder Unschuld aller Beteiligten ist nun wieder in Verkehr gebracht ...

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sich die Aufmerksamkeit der im Kaiserreich ausgebildeten und in den Nazijahren auf ihren Universitätsposten gebliebenen Historiker auf das letzte Völkermorden gerichtet, das eingedampft wurde auf die Formel von »Hitlers Krieg«. Ein Wandel trat in der Bundesrepublik erst Anfang der 1960er Jahre ein, als der Hamburger Universitätsprofessor Fritz Fischer mit Forschungen hervortrat, die das Lügengebäude über die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges ins Wanken und zum Einsturz brachten, Vorkriegsträume und -pläne deutscher Imperialisten wiedergab und die Frage nach der Kontinuität imperialistischen Machtstrebens im Denken und Handeln deutscher Eliten aufwarf (»Griff nach der Weltmacht«, 1961). Die faschistische Diktatur erschien nicht mehr als bloße Abirrung deutscher Geschichte.

Aufgenommen von seinen Schülern und einer neuen Historikergeneration setzte sich in der Bundesrepublik das Bild von Deutschlands besonderer oder hauptsächlicher Verantwortung für den im August 1914 begonnenen Krieg durch. Dazu trugen Forschungen bei, die in der DDR eine Gruppe junger marxistischer Historiker leistete. An kritische Publikationen aus Weimarer Zeiten und dem Exil anknüpfend, begann sie am Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften eine mehrbändige Darstellung, ein Verdienst vor allem von Fritz Klein, Joachim Petzold und Willibald Gutsche. So war ein halbes Jahrhundert nach dem Ersten Weltkrieg in beiden deutschen Staaten ein nicht vollkommen identisches, aber in vielem verwandtes Bild von seiner Vorgeschichte entstanden, das später Ergänzungen erfuhr, aber dessen quellengestütztes Fundament niemand in Zweifel zog.

Nun jedoch wird wieder der Versuch gemacht, den Anteils des Kaiserreichs am Ausbruch des Krieges aus jener subjektiv idealistischen Perspektive zu deuten, die Männer die Geschichte machen lässt und das Geschehen als Ausfluss des Denkens und Entscheidens weniger Akteure ansieht. Ausgeblendet werden Fragen nach den gesellschaftlichen Wurzeln des Krieges, den ihn hervorbringenden und beherrschenden Interessen. Die Verdächtigen seien ermittelt und vorgestellt. Doch der Schein trügt.

Der Umfang der publizistischen Produktionen, die bereits im gerade zu Ende gegangenen Jahr aus der Feder von Historikern oder Autoren, die sich ebenfalls für sachkundig halten, erschienen, lässt Staunen. Allein in Deutschland und Österreich kamen schon mehr als zwei Dutzend Monografien auf den Markt. Sie sind nur das Vorspiel. Aufwendig gestaltete Ausstellung wurden bereits eröffnet oder werden vorbereitet. Wissenschaftliche Konferenzen haben stattgefunden, weitere sollen folgen. Von Staatswegen veranstaltete Erinnerungsrituale sind angekündigt, vorwiegend auf Soldatenfriedhöfen in Frankreich und Belgien, wo die Mehrheit der Menschen mordenden Schlachten stattfand und der Kriegsausgang letztlich entschieden wurde.

Neben diesem zunehmenden Aufwand vollzieht sich ohne lärmende Töne der Versuch, das inzwischen unter der Mehrheit der Deutschen akzeptierte, schwer errungene Bild von der Vorgeschichte des Weltkrieges zu revidieren. Das besagt: (1.) Der Krieg ging aus den Widersprüchen und Rivalitäten imperialistischer Großmächte hervor, von denen die einen ihre Macht mehren, andere die ihre behaupten wollten. (2.) Das Deutsche Kaiserreich, nach seiner Gründung 1871 Großmacht geworden, wollte Weltmacht werden und dessen Eliten gedachten, den Weg dahin durch einen Krieg frei zu machen. (3.) Nicht nur dessen führende Militärs fürchteten, dass sie den günstigsten Zeitpunkt dafür verpassen könnten, zumal die Gegner im Osten wie im Westen sich zur Abwehr dieses Anspruchs rüsteten. Insofern kam ihnen der in Sarajewo mit dem Attentat auf Österreichs Thronfolger gegebene Anlass für die Auslösung des Krieges gerade recht und bestimmte deren vorwärts treibende Rolle während der so genannten Julikrise 1914 und die Art ihrer »Lösung« mit den Kriegserklärungen an Russland und Frankreich. Kurzum: An die Stelle der verzeichnenden Bilder von der Un- oder der Alleinschuld des Kaiserreiches war ein die Realität widerspiegelndes gesetzt worden, dass den Großen Krieg aus den aufeinander prallenden imperialistischen Interessen der Großmächte hervorgehen und in der zivilen und militärischen Führung Deutschlands einen herausragenden Akteur sieht.

Nun aber erschien 2012 in London ein vom australischen Historiker Christopher Clark verfasstes Buch unter dem Titel »The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914«. Im Jahr darauf war es ins Deutsche übersetzt (»Die Schlafwandler«). Die Reklame empfahl es mit der Hervorhebung, es stelle infrage, »was bisher als Konsens unter Historikern galt, dass Deutschland die Hauptschuld am Ausbruch des Krieges trägt«. Das wichtigste Ergebnis dieser Untersuchung« bestünde darin, »dass man tatsächlich Abschied nehmen kann von der so lange quasi sakrosankten These, dass in erster Linie die Weltmachtambitionen Deutschlands Europa in den Abgrund gestoßen hätten«. Die Schuld oder Unschuld des Kaiserreiches am Absturz in den Krieg war demnach nicht größer oder kleiner als die anderer Großmächte.

In der bürgerlichen Presse erhob sich ein Chor der Lobschreiber. Clark selbst stellte sein Buch vielerorts vor, ließ sich in Fernsehen und Rundfunk interviewen, geriet gar in die politischen Nachrichtensendungen zur Hauptzeit. Auch vermeintlich versierte Journalisten schienen Schwierigkeiten zu haben, sich zwischen Allein-, Mit- und Hauptschuld zu Recht zu finden. Einsprüche wie von Volker Ulrich in der »ZEIT« blieben zunächst einsame Wortmeldungen.

Clark hat aber nicht nur die Kriegsschuldfrage in einer Weise beantwortet, die alle Deutschen befriedigen dürfte, die ihr schönes Bild von der Bundesrepublik nicht durch Verweise auf »dunkle Kapitel deutscher Geschichte« beeinträchtigt sehen wollen. Er hat zudem, und diese größere Herausforderung ist merkwürdigerweise nicht angenommen worden, die Frage gestellt: »Ist es wirklich nötig, dass wir ... eine Rangordnung der Staaten nach ihrem jeweiligen Anteil an der Verantwortung für den Kriegsausbruch aufstellen?« Darauf folgt statt einem Ja oder Nein eine Liste von Nachteilen und Gefahren, die bei der Untersuchung dieser Frage lauern würden, darunter »anklägerischer Ansatz«, Bestimmung von Aktionen als geplant und absichtsvoll und die Nennung von Verantwortlichen. Welches Urteil fiele aus Clarks Perspektive über die Richter und Ankläger der Prozesse in Nürnberg und Tokio? Bei letzterem waren seine Landsleute beteiligt.

1764 dichtete Matthias Claudius: »S’ist Krieg, s’ist leider Krieg – und ich begehr nicht schuld daran zu sein«. Das Gedenken an den Ersten Weltkrieg kann sinnvoll sein, wenn es nicht bei Ritualen und unverbindlichen Beteuerungen der Friedensliebe bleibt und dem Geschehenen auf den Grund gegangen wird. Das könnte den Blick auf die Gegenwart schärfen und den Nebel teilen helfen, der vor die Kriege unserer Zeit gelegt wird.

* Prof. Dr. Kurt Pätzold, Jg. 1930, lehrte an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Aus: neues deutschland, Samstag, 11, Januar 2014



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