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"Kam Hitler aus dem Weltraum?"

Gespräch. Mit Kurt Pätzold. Über deutschen Imperialismus im 20. Jahrhundert, Kontroversen zum Ersten Weltkrieg und über Ursachenforschung in der Geschichte


Kurt Pätzold (geb. 1930) ist Historiker. Er habilitierte sich 1973 mit der Arbeit »Antisemitismus und Judenverfolgung (Januar 1933 bis August 1935)« an der Humboldt-Universität, war dort bis 1990 Lehrstuhlleiter für deutsche Geschichte und wurde 1992 im Zuge der »Abwicklung« entlassen. Jüngste Buchveröffentlichungen: Kein Streit um des Führers Bart. Kontroversen um Deutschlands »dunkle Jahre« 1933 bis 1945 (2013); 1813. Der Krieg und sein Nachleben (2013); Kriegerdenkmale in Deutschland (2012).


Wie viele Tote hinterließ der Erste Weltkrieg?

Unmittelbar ungefähr 20 Millionen, darunter etwa zehn Millionen Soldaten. Zu den durch Waffengewalt getöteten Millionen Zivilisten müssen aber die Verhungerten und die medizinisch unzureichend Behandelten noch hinzugerechnet werden. So ergeben sich weitere zehn Millionen Tote. Das sind Schätzungen. Zu berücksichtigen ist, daß die Statistik Rußlands nicht sehr exakt war, noch schlechter war die des Osmanischen Reiches.

Läge es nicht nahe, beim Thema Erster Weltkrieg zuerst über diese Opfer zu sprechen? Bis dahin gab es in keinem Krieg der Menschheitsgeschichte solche Ziffern.

Es liegt tatsächlich nahe, damit zu beginnen. Allerdings führt eine solche Betrachtung rasch zu der allgemeinen Einsicht: Krieg ist schrecklich, Frieden ist gut. Gesagt wird dann aber nicht, wie es denn vom Frieden zum Krieg kommt. Genauer: Was sind die Ursachen für einen Krieg dieser Art gewesen?

Um diese Frage kommt keiner herum. Sie ist die Königsfrage an die Geschichte, und nichts berechtigt dazu, ihr auszuweichen. Sie verbindet sich außerdem mit der Frage nach Verantwortung und Schuld, denn Kriege sind nicht Ergebnis irgendeines Automatismus, sondern letzten Endes das Resultat von Entscheidungen konkreter Personen.

Bevor der erste Schuß des Ersten Weltkrieges fiel, war übrigens den Zeitgenossen klar, daß diese Frage auftauchen würde. Und schon damals galt für die Monarchen, die Regierungschefs, die Botschafter und alles übrige Personal: Keiner wollte es gewesen sein. Das erinnert an das »Kriegslied« von Matthias Claudius aus dem Jahr 1774, das mit dem Vers beginnt: »s’ ist Krieg! s’ ist Krieg!/O Gottes Engel wehre,/Und rede Du darein!/s’ ist leider Krieg –/und ich begehre/Nicht schuld daran zu sein!« Man sehe sich die Aufrufe Kaiser Wilhelms II. und Franz Josephs I. zum Kriegsbeginn an ihre Völker an. Bei beiden Aufrufen finden sich, man möchte fast sagen, heilige Beteuerungen, daß sie nichts anderes wollten als Frieden. Der hochbetagte Franz-Joseph hat das so ausgedrückt, daß er bis an sein Lebensende ein Mann sein wolle, der dafür steht. Nur, fuhr er fort, könne er sich daran leider nicht halten, weil die Nation bedroht sei. Dann folgt ein großes Bedauern.

Das bedeutet: Die Kriegsschuldfrage wurde nicht erst gestellt, als 20 Millionen Menschen tot waren, sondern vor dem Krieg und erst recht nach seinem Beginn. Sie stellte sich natürlich in den Schützengräben, in dem Maße nämlich, wie das Kriegselend den Soldaten völlig bewußt wurde.

Der deutsche und der österreichische Kaiser haben nicht Kriegsverhinderung, sondern das Gegenteil betrieben. War es so einfach: Intern für, nach außen gegen den Krieg?

Das gehört zu der ganzen demagogischen Konstruktion: Wir waren es nicht, es waren die anderen. Dazu muß man wissen, daß nicht nur Kriegsgegner vor diesem Krieg gewarnt haben. Der Begriff Weltkrieg taucht schon 1887 bei Friedrich Engels auf. Aber drei Jahre später hält z. B. der damals 90jährige ehemalige Generalstabschef der preußisch-deutschen Armee, Helmuth von Moltke, im Reichstag eine Rede, die viel weniger zitiert wird als der Text von Engels. Moltke war Abgeordneter und sprach zu Haushaltsfragen. Gegen den Militärhaushalt war er natürlich nicht, warnte aber in dieser Rede klar vor einem Weltkrieg. Der werde mit den Feldzügen unter seiner Führung von 1864, 1866 und 1870/71 nicht vergleichbar sein, das Feuer solle niemand legen. Es hat also unter Weitschauenden, auch unter Militärs, eine Vorstellung davon gegeben, daß sich in der gesamten Kriegsführung etwas ändert – mit furchtbaren Folgen. Moltkes Neffe, Helmuth von Moltke der Jüngere, 1914 Generalstabschef, gehörte nicht zu den Vorausschauenden. Er hätte gut daran getan, sich dieser Rede seines Onkels zu erinnern.

Schuld und Verantwortung für diesen Krieg lassen sich ziemlich klar zuordnen. Beherrschend in der gegenwärtigen Literatur scheint aber die These zu sein, daß die Frage danach und überhaupt nach Ursachen überflüssig ist. Diese Meinung vertritt vor allem der australisch-britische Historiker Christopher Clark, der sein Buch »Die Schlafwandler« mit dem Untertitel versah »Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog«. Bei der Buchvorstellung in Berlin betonte er, daß ihn vorrangig das Wie interessiere, das Warum enge nur ein. Warum wird diese »Königsfrage«, wie Sie sagen, heute so einfach beiseite gelegt?

Daß ein Historiker mit einer solchen These auftritt, kann man mehr oder weniger dem Zufall zuschreiben. Interessant wird die Sache erst, wenn eine solche These aufgenommen wird, wenn klar wird, ob sie als grotesk oder als zu vernachlässigen abgelegt wird oder ob sich daran eine Diskussion entzündet. Für die These von Clark gilt nicht einmal, daß sich an ihr eine Diskussion entzündet. Sie ist einfach verbreitet worden, und zwar als eine neue Erkenntnis…

… der Verlag wirbt mit der Behauptung für das Buch, es beinhalte die »bahnbrechende Erkenntnis«, daß nicht das deutsche Kaiserreich »die Hauptverantwortung am Ausbruch des Ersten Weltkriegs« habe.

Man könnte fast einen Preis für denjenigen aussetzen, der nachweist, daß irgendwo gegenwärtig eine dezidierte Auseinandersetzung mit den Thesen des 1999 verstorbenen Hamburger Historikers Fritz Fischer zur deutschen Hauptverantwortung am Ersten Weltkrieg gefordert oder vorgenommen wird. Die findet aber nicht statt. Es wird so getan, als hätte sich Fischers Auffassung durch langes Liegen erledigt. Der Name Fischer kommt bei Clark ganz am Ende seines Buches ein einziges Mal vor. Auch diejenigen, die Fischer in ihren Büchern nennen, stellen sich keiner Diskussion. Der Militärhistoriker Gerd Krumeich rief dem Buch Clarks beim Erscheinen der englischsprachigen Ausgabe 2012 in der Süddeutschen Zeitung ein Willkommen zu und knüpfte daran die Frage, ob man die Fischer-These nicht als erledigt ansehen müsse. Im Gegensatz zu jenen, die sich da keine Mühe gemacht haben, haben diejenigen, die Fischer verteidigen, das mit Argumenten getan, z.B. Volker Ullrich in der Zeit.

Wie kann man sich erklären, daß eine solche These wie die Clarks, die in seinem Buch keineswegs bewiesen wird, solche Verbreitung findet?

Alle sind danach in irgendeiner Weise schuldig, und alle sind in ähnlicher Weise auch wieder unschuldig – das ist wie ein Schmierfilm. Clark führt eine riesige Liste von Leuten an, die es wirklich gegeben hat, sowie ihre unterschiedlichen Rollen. Aber wenn es um die Frage geht, warum haben sie diese Rollen gespielt, warum haben sie sich so und nicht anders entschieden, dann wäre die nächste Frage: Von welchen Interessen und Ideen wurden sie dabei geleitet? Danach wird schon nicht gefragt, es genügt angeblich das Wie, wie sie ihre Rollen gespielt haben. Das plätschert an der Oberfläche der Geschichtsprozesse hin, Tiefgang kommt da nicht. Bleibt die Frage, wie zu erklären ist, daß das Buch zum Bestseller hochgejubelt wurde, daß Clark als Redner viel gefragt ist? Dazu habe ich nur eine Vermutung.

Wie lautet die?

Das kommt all denen recht, die – wo es irgend geht – die deutsche Geschichte einer Reinigungskur unterziehen wollen. Das bedeutet: Es war auch ein Verdienst Fischers, die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in der deutschen Geschichte als eine Einheit zu sehen. Das hatte sich durchgesetzt. Dazu gehört, die Verbindung zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg, zwischen imperialistischen Interessen am Jahrhundertbeginn und imperialistischen Interessen in der Umformung bei Hitler herzustellen. Dazu gehört, sich mit der gesamten Geschichte auseinanderzusetzen. Sich davon zu verabschieden, läuft, ob gewollt oder nicht, darauf hinaus, daß zu einer Betrachtung der deutschen Geschichte zurückgekehrt wird, in der Hitler von irgendwo aus dem Weltraum einmarschiert ist. Wer auf die Vorgeschichte verzichtet, macht ihn zu einem einmaligen Fehltritt, denn ansonsten sind wir Deutsche ganz normale Leute. Man hätte angesichts der Forschung meinen könne, ein solcher Versuch der Rückdrehung sei aussichtslos. Aber angesichts der Kräfte, die das gegenwärtig befördern, zögere ich zu sagen, das werde ohne Wirkung bleiben.

Ein Beispiel, wie schon einmal etwas als Neuerung in der Geschichtsbetrachtung angekündigt wurde, war die Debatte 1996 um das Buch »Hitlers willige Vollstrecker« von Daniel Goldhagen. Da ließ sich mit einiger Sicherheit sagen, das verraucht und verrauscht, es handelt sich um eine absonderliche Mode. Im Fall von Clark und anderen aber, die versuchen, eine solche Säuberung an der deutschen Geschichte zu vollziehen, hat das einen Bezug zu den Ansprüchen, die die Bundesrepublik Deutschland heute stellt.

Es gibt aber auch eine Kontinuität der Auseinandersetzung mit Fischers Thesen. Sein Buch »Griff nach der Weltmacht« von 1961 löste eine Kontroverse aus, in der es genau um dieses Thema ging: den deutschen Imperialismus in der ersten Jahrhunderthälfte. Nun sagt auch der Spiegel, Fischers These habe sich durchgesetzt, werde aber nun durch neue Erkenntnisse korrigiert. Erleben wir eine Wiederholung der Debatte aus den 60er Jahren?

Die Provokation lag schon im Titel von Fischers Buch »Griff nach der Weltmacht«. Unter deutschen Zeitgenossen war doch klar: Hitler – das und nur das – war der Griff nach der Weltmacht. Ein Buch mit diesem Titel schlug eine Brücke zum Ersten Weltkrieg, die es so nicht geben sollte. Fischer hat in der Auseinandersetzung mit der konservativen Gruppe von Historikern, seinen hauptsächlichen Gegnern, gesiegt. Sie hielten an »Vaterlandsverteidigung«, »Abwendung von Bedrohung« und ähnlichem fest. Für sie war er ein Renegat, also jemand, der besonders verwerflich gehandelt hatte und entsprechend behandelt werden mußte.

Woran will man messen, ob sich eine These durchgesetzt hat? Ich glaube, es gibt ein Maß – das sind die Schulgeschichtsbücher. Ich habe mir einige wenige angesehen, und dort ist die Tendenz eindeutig: Die besondere Rolle des Kaiserreiches bei der Herbeiführung dieses Krieges wird zumindest bisher vermerkt. Es gab eine Dominanz dieser These.

Dann stimmt die Behauptung des Spiegel?

Ja, sie ist weitgehend richtig, das heißt: Es war so. Ein sicheres Zeichen dafür ist, daß das Thema in der Wissenschaft nicht mehr Gegenstand irgendwelcher Debatten ist. Es ist daher schon überraschend und ein Geschenk – das wird auch so formuliert –, daß ein australischer Historiker angeblich etwas Neues herausgefunden hat. Wie man sich aber als Historiker hinstellen kann und sagen, das Warum hat mich nicht interessiert, ist mir schleierhaft. Denn auf dem Wege zum Warum – das ist jetzt eine Übertreibung – wird Geschichte erst richtig interessant, da liegen die Herausforderungen für Historiker. Und sich eines solch großen Themas anzunehmen und zu sagen, das Wie hat mich interessiert, das Warum aber nicht – dies ist schon merkwürdig.

Noch merkwürdiger ist: Selbst wenn ich der These, Deutschland habe bei der Herbeiführung dieses Krieges eine herausragende Rolle gespielt, nicht voll zustimme, bedeutet das nicht, der weitergehenden These Clarks zu folgen. Sie äußert sich in der Frage, ob überhaupt die Verursachung von Kriegen zu erforschen sei, ob man da nicht auf Holzwege kommt. Sein Buch erschien 2012 auf englisch, und damit kommt eine ganze Reihe von Leuten in der Welt in Betracht, die Beifall klatschen, wenn nicht danach gefragt wird, wer an Kriegen schuld ist. Die einen sitzen in New York, andere sitzen in Israel, und die Dritten sitzen da oder dort. Er könnte so ja mal über den Zweiten Weltkrieg schreiben. Dann wäre er aber in die Nähe einer politischen Richtung geraten, in der er sich bestimmt nicht wiederfinden will. Aber die Frage für den Ersten Weltkrieg ablehnen und für den Zweiten nicht – das geht nicht.

Für heutige Kriege wird aber genau das versucht: Die Frage nach Urhebern und Ursachen nicht zur Sprache kommen zu lassen bzw. wieder zu behaupten, die andern waren es.

Zwei Dinge sind zu unterscheiden, die munter durcheinandergebracht werden. Erstens: Was ist die Verursachung eines Krieges? Zweitens: Was löst ihn aus? Und das sind zwei ganz verschiedene Geschichten. Reden wir über die Verursachung, müssen wir über Widersprüche zwischen imperialistischen Mächten sprechen und über diejenigen, die bereit waren, das äußerste Risiko einzugehen, die sich auf einen Krieg vorbereiteten und eine Atmosphäre schufen, in der Krieg eine reale Möglichkeit war, weltpolitische Ansprüche durchzusetzen. Diese Atmosphäre herrschte im deutschen Kaiserreich, das bei der Aufteilung der Welt zu spät gekommen war.

Neben den Interessen muß es aber auch die Bereitschaft zum Krieg geben, sonst passiert nichts. Erst dann kommt die Frage: »Wann explodiert das?« Dafür benötige ich einen Auslöser, der kann mir recht für meine Pläne sein, muß es aber nicht. Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajevo paßte 1914 den Deutschen in ihre Generalpläne. Das bedeutet aber nicht, daß die Führungsgruppe eines Regimes gleichsam einen Fahrplan bis zum ersten Schuß hat. Sie haben allgemeine Vorstellungen, was sie mit einem Kriege durchsetzen wollen, was sie für einen Sieg benötigen und was für sie ein günstiger Anlaß für den Kriegsbeginn ist. Für den brauchen sie immer den Beweis, daß sie nicht angefangen haben.

Muß man noch die Kriegsziele zu diesen Voraussetzungen hinzuzählen, 1914 z. B. die »Vereinigten Staaten von Europa« unter deutscher Führung? Den Zustand haben wir heute.

Es scheint auch ohne Weltkriege zu gehen. Damals lagen die Kriegszielprogramme in verschiedenen Fassungen vor – mal mehr, mal weniger weitreichend. Vor allem galt aber: Der Appetit kommt beim Essen. Da wird argumentiert: Eigentlich hatte Deutschland keine Ziele, als der Krieg auf einmal über das Land gekommen war, als er »ausbrach« – ein schöner Ausdruck für einen Kriegsbeginn. Erst da hat man sich gesagt, wenn wir den Krieg führen und gewinnen müssen, dann wollen wir auch was dafür haben. Als sei dieses Kriegsziel das Produkt von fünf bis sechs Wochen Krieg. Dabei hatte der spätere Kanzler Bernhard von Bülow 1897 klar im Reichstag gesagt: Wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne. Was damit gemeint war, war ebenso klar: Wir sind mit dem, was wir in Afrika schon haben – Deutsch-Südwest, Togo, Kamerun – nicht zufrieden, wir wollen mehr. Klar war auch, daß das mittelafrikanische Kolonialreich wesentlich auf belgische Kosten entstehen sollte. Das geschah vor dem Hintergrund einer ökonomischen Entwicklung Deutschlands, die tatsächlich Wirtschaftswunder genannt zu werden verdient.

Es ist gar keine Frage, daß die Deutschen nicht die einzigen waren, die imperialistische Interessen hatten. Diese Konkurrenten wollten dem deutschen Reich nichts wegnehmen, aber die Bäume dieses deutschen Imperialismus auch nicht in den Himmel wachsen lassen. Die Bereitschaft, sich militärisch zur Wehr zu setzen, war bei Frankreich und Großbritannien eindeutig. Die Frage ist nur, wer in diesem Prozeß die vorwärtstreibende Rolle gespielt hat. Das ist der Kern der Angelegenheit, und alle Vorstöße Clarks gehen am Ende fehl.

Es wird nicht abgehen ohne die Feststellung, daß die Deutschen auf die Durchsetzung ihrer so verstandenen Interessen aus waren. Hinzu kommt etwas anderes: Je mehr die Vorkriegskrise sich zuspitzte, um so mehr Einfluß hatten die Militärs. Das war z.B. bei Hitler nicht so. Die deutsche Kriegskonzeption war seit 1905: Wir müssen die Ersten und die Schnellsten sein. Das ging im Schlieffen-Plan bis hin zu dem Wahnsinn, daß Soldaten pro Tag 40 Kilometer marschieren müßten. Der Punkt ist aber, wenn eine Führungsgruppe den Entschluß zum Krieg gefaßt hat, dann beginnen die Militärs zu drängen: Wir müssen in Luxemburg und in Belgien einmarschieren, die Krise darf sich nicht ewig hinziehen, die anderen mobilisieren schon usw. Ab einem bestimmten Punkt spielen die Militärs eine entscheidend vorwärtstreibende Rolle.

Noch einmal zurück zum heutigen Umgang mit dem Ersten Weltkrieg. Mir scheint es auf etwas wie im Märchen hinauszulaufen: Es hat einmal imperiale Interessen gegeben, aber es gibt sie nicht mehr. In heutigen Kriegen schon gar nicht.

Wir wissen: Die heutigen Interessen, die angeblich die Weltpolitik bestimmen, sind die Verbreitung von Demokratie, der Kampf gegen antihumanistische Bestrebungen und gegen Terrorismus. Mehr nicht. Wir hatten allerdings einen Bundespräsidenten, der erklärt hat, wir hätten auch ökonomische Interessen. Die Art und Weise, wie darauf reagiert wurde – seine Ablösung – zeigt, wo wir stehen.

Diese Gesellschaft ist in ihrem Streben nach Frieden »glückssüchtig«, hat der jetzige Präsident gesagt.

Richtig, es geht nur noch um moralisch hochwertige Begriffe und das Bedauern darüber, daß sie nicht rasch und weltweit durchgesetzt werden können. Dann unterstützen wir dummerweise zwar in Thailand diejenigen, die die Demokratie abschaffen wollen, aber wir haben ja Wladimir Putin in Moskau, einen machtbewußten Diktator. Daß da irgendwelche anderen realen Interessen dahinterstehen können und auch, ja, Reaktionen auf die, ist klar. Beim Zerfall der Sowjetunion hat der Westen einen gigantischen ökonomischen Reibach gemacht – den hätte kein Krieg eintragen können. Aber jetzt kommt Putin und gefährdet das, was sie schon glaubten, ganz zu haben. Wer Generationen ohne Begriffe wie Interessen aufwachsen läßt, der hat die komplette Kapitalismusherrschaft erreicht. Denn Voraussetzung für den Kampf gegen eine bestimmte Herrschaftsform ist, daß ich ihren Mechanismus verstanden habe.Daher hat der Streit, wie Dinge benannt werden, einen tiefernsten Grund. Wäre diese Art des Umgangs mit Begriffen in der Technik üblich, gäbe es Unfälle am laufenden Band.

Interview: Arnold Schölzel

* Aus: junge Welt, Samstag, 11, Januar 2014


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