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Geistlose Apologie

Herfried Münklers Buch über den Ersten Weltkrieg

Von Daniel Bratanovic *

Von Peter Hacks gibt es, aufgeschrieben 1987, im Begleitessay zu seinem Stück »Jona« einen Satz, der dem Leser zur Orientierung bei der Lektüre der »Großschrift« aus der Feder Herfried Münklers gleichsam leitmotivisch vorangestellt werden kann. Er lautet: »Die Außenpolitik ist an der Politik das Geistlose«. Dieser fehle, schreibt Hacks, »zur Vernunft nicht lediglich der Inhalt; ihr fehlt sogar die Form der Vernunft, die Folgerichtigkeit: ein Zusammenhang, der Schlüsse zuläßt«.

Nun ist Münkler kein Außenpolitiker. Von Hause aus Politikwissenschaftler ist er aber, wie es sich für einen anständigen deutschen Professor gehört, Politikberater. Er macht das sogar so gut, daß man ihm irgendwann einmal das Eindruck schindende Prädikat »Ein-Mann-Think-Tank« verliehen hat. Das verpflichtet. Und letzten Endes muß auch »Der Große Krieg« als Politikberatung gelesen werden. Denn Münklers Geschichte über »Die Welt 1914–1918«, die im übrigen aus einer sehr deutsch-zentrierten Perspektive erzählt wird, hält an ihrem Ende eine Lektion bereit. Es geht um die »Last der geopolitischen Mitte«, die angesichts einer wiedererlangten Stärke einhundert Jahre danach, von Deutschlands Eliten erneut zu tragen sei – diesmal jedoch umsichtiger, nicht so ungestüm wie einst: »Der Erste Weltkrieg als politische Herausforderung«.

Münklers Untersuchung ist mithin keine historiographische Arbeit im eigentlichen Sinne. Vielmehr nimmt sie sich ihren Gegenstand und preßt ihn in eine Denkschablone, die »Realismus« heißt. So wird eine Schule innerhalb der politikwissenschaftlichen Teildisziplin »Internationale Beziehungen« genannt. Zu einer der Grundannahmen dieses Realismus gehört, daß Staaten als monolithischer Block betrachtet werden, deren Innenpolitik nichts zur Formulierung der Außenpolitik beiträgt. Dieser Ansatz wird bei Münkler konsequent durchgehalten. Gesellschaftliche Strukturen und Dynamiken, Klassen gar und – Gott bewahre – (einander widerstreitende) ökonomische Interessen spielen auf rund 900 Seiten nicht einmal eine marginale Rolle, sie sind schlicht abwesend.

Präsent sind hingegen Psychologisierungen: An die Stelle der Vernunft in Form und Inhalt treten Irrationalismen und Zweckrationalität. Als handlungsleitend werden »Niedergangsängste« (England) und »Einkreisungsobsessionen« (Deutsches Reich) präsentiert, einzelne Entscheidungen im Kriegsgeschehen auf ihre Zweckmäßigkeit hin überprüft. Die Darstellung eines »Zusammenhangs, der Schlüsse zuläßt«, ist vorgestrig. Bei Münkler, seines Zeichens Spiritus rector der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), klingt das einleitend so: »Dennoch war dieser Krieg nicht zwangsläufig oder überdeterminiert, wie die Imperialismusstudien behauptet haben. Er hätte vielmehr (...) bei mehr politischer Weitsicht und Urteilskraft vermieden werden können. Eine Neukonturierung ist schon deswegen lohnend, weil sich daraus ein Lehrstück der Politik ergibt, in dem das Zusammenspiel von Angst und Unbedachtheit, Hochmut und grenzenlosem Selbstvertrauen analysiert werden kann.« Der Krieg erklärt sich auf der Grundlage »mentaler Dispositionen«.

Zur Geschichte über ängstliche und hochmütige Männer gehört auch die Berücksichtigung der spezifischen Bündniskonstellationen der Staaten, wie sie 1914 und davor bestanden haben. Deren Veränderungen, fast »durchweg gegen die deutschen Interessen«, sei lange genug vernachlässigt worden: »Das Desinteresse, das in den letzten Jahrzehnten ein Großteil der deutschen Forschung an diesem Thema (...) gezeigt hat, und ihre statt dessen erfolgte Fixierung auf die inneren Verhältnisse des Reichs, vor allem den Konflikt zwischen Industrie und Großagrariern, dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, daß sich vor 1989 bündnispolitische Fragen nicht stellten und der Aufmerksamkeitsfokus der Gesellschaft auf sich selbst gerichtet war; in der zur außenpolitischen Abstinenz verurteilten Bundesrepublik fand die Theorie vom Primat der Innenpolitik kaum zufällig offene Ohren.«

Wer solcherart die inneren Angelegenheiten geringschätzt, behandelt auch die gesamte deutsche Kriegszieldebatte abschätzig und bestenfalls pflichtschuldig. Ohne Vorgeschichte und gänzlich unabgeleitet tritt diese Debatte, den »Entscheidungseliten« von den »Deutungseliten« aufgenötigt, plötzlich auf den Plan: »Sie mußten nach einem Sinn des Krieges suchen und Kriegsziele finden oder erfinden.« Die Ursache dieser Sinnsuche sei »der Mangel an politisch (oder ökonomisch) überzeugenden Gründen« gewesen, »überhaupt einen Krieg zu führen«. Eine Untersuchung darüber, auf welch unmißverständliche Weise vor allem Repräsentanten der Großindustrie und der Banken lange vor 1914 in Denkschriften, Eingaben und Zeitungsartikeln ihren Landhunger und den Willen zur Jagd nach Einflußsphären unterstrichen haben, kommt dem Berliner Professor nicht in den Sinn. Es röche vermutlich auch zu sehr nach Fritz Fischer, dem Münkler schon mal bescheinigt hat, dieser habe gut gemeinte Psychotherapie, aber keine Wissenschaft betrieben. Und überhaupt Fischer: »Auf längere Sicht haben Fischers Thesen wie ein politischer Tranquilizer gewirkt, der gegenüber den fortbestehenden Konfliktfeldern in Europa unaufmerksam und schläfrig gemacht hat«.

Das darf nicht sein. Schließlich ist »Deutschland nach 1990 wieder zu einer Großmacht in der Mitte Europas aufgestiegen«, und »viele der Herausforderungen aus der Zeit vor 1914« stellen sich »erneut«, die »Herausforderungen der Position der Mitte bleiben«. Ein Glück für die deutsche Außenpolitik, daß Münkler in seinem Think-Tank ein Weckamin fabriziert hat.

Herfried Münkler: Der Große Krieg - Die Welt 1914–1918. Rowohlt, Berlin 2013, 924 Seiten, 29,95 Euro

* Aus junge Welt, Montag, 7. Juli 2014


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