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Eine Jahrhundertrede

Karl Liebknechts Anklage gegen den Militarismus vor dem Deutschen Reichstag am 11. Mai 1914

Von Reiner Zilkenat *

Im Plenum des Reichstages herrscht am 11. Mai 1914 große Aufregung. Der sozialdemokratische Abgeordnete des Wahlkreises Potsdam-Spandau-Osthavelland, Dr. Karl Liebknecht, immer wieder von Zwischenrufen aus den Reihen der bürgerlichen Fraktionen und vom Präsidenten mit Ordnungsrufen unterbrochen, steht am Rednerpult und rechnet mit dem herrschenden Militarismus ab. Genauer gesagt: Er legt das System der Bereicherung der Rüstungskonzerne offen. Er beschreibt faktenreich die Symbiose des Staatsapparats mit den an der Produktion von Kriegsgerät beteiligten Unternehmen. Er nennt Namen und Adressen und weist die um sich greifende Korruption bei der Auftragserteilung durch Behörden nach. Nicht zuletzt analysiert er die grenzüberschreitenden Aktivitäten deutscher Rüstungsfirmen. Es entsteht das plastische Bild einer – wie es Liebknecht formuliert – »internationalen Räuberbande«.

Im Mittelpunkt seiner Ausführungen stehen die dubiosen Machenschaften des Krupp-Konzerns. Dieses Thema hat eine besondere Brisanz, weil der Inhaber des Unternehmens, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, der reichste Mann in Preußen, zu den engsten Vertrauten Kaiser Wilhelms II. gehört. Die Allianz zwischen dem Monarchen und dem »Kanonenkönig« ist besonders eng, seit 1897/1898 mit der Realisierung groß angelegter Pläne für die Kriegsmarine begonnen wurde. Diese maritime Aufrüstung, die ein bis dahin beispielloses Wettrüsten zwischen Deutschland und England auslöste, ist ein spezielles Anliegen des Kaisers. Wie kein anderes Unternehmen verdient die Waffenschmiede an Rhein und Ruhr am Bau der neuen Kriegsschiffe.

Zum Beispiel hatte die Firma Krupp im Jahre 1900 erst dann ihre exorbitanten Preise für Panzerplatten reduziert, als sie im Gegenzug vom Reichsmarineamt die Zusicherung bekam, daß die neu projektierten Schlachtschiffe auf der zum Hause Krupp gehörenden Germaniawerft in Kiel gebaut werden würden. Zur gleichen Zeit beginnt das Unternehmen mit der heimlichen Finanzierung des von ihm geschaffenen »Deutschen Flotten-Vereins«, der sich zu einer Massenorganisation entwickelt, die für die notwendige Propaganda zugunsten der forcierten Aufrüstung zu sorgen hat. An die Spitze dieses Verbandes lanciert Krupp Personen seines Vertrauens. Zugleich bleibt das Unternehmen der traditionell wichtigste Hersteller zahlreicher Waffensysteme und anderen Kriegsgerätes für die preußisch-deutsche Armee, speziell für die Artillerie.

Bericht des Oberstaatsanwalts

Liebknecht weist in seiner Rede nach, daß ehemals hohe Beamte und Offiziere in Diensten der Firma Krupp stehen und einen reibungslosen Informationsaustausch über neugeplante Rüstungsprojekte zwischen Berlin und Essen gewährleisten. Beispielhaft nennt er u.a. Alfred Hugenberg, ehemals Vortragender Rat im Preußischen Finanzministerium, jetzt Vorsitzender des Direktoriums des Konzerns; Vizeadmiral a.D. Hans Sack, ehemals Dezernent im Reichsmarineamt und dort mitverantwortlich für die Vergabe von Aufträgen an die Industrie, jetzt Mitglied des Aufsichtsrats; schließlich den ehemaligen Dezernenten im Preußischen Kriegsministerium, Draeger, jetzt Direktor bei Krupp.

Doch damit nicht genug. Um stets und unverzüglich aus erster Hand informiert zu sein, unterhält die Firma Krupp in Berlin ein eigenständiges Büro – mit den Worten Karl Liebknechts »eine Bestechungsfabrik«. In deren Tresoren kann die ermittelnde Staatsanwaltschaft 750 als geheim klassifizierte Aktenstücke aus den Jahren 1910 bis 1912 beschlagnahmen, die aus der Militärverwaltung stammen. Daß die Strafverfolgungsbehörden überhaupt, wenn auch widerstrebend, tätig werden mußten, liegt nicht zuletzt in entsprechenden Enthüllungen Liebknechts über die Korruption in der Militärverwaltung begründet.

Liebknecht zitiert vor dem Reichstag aus dem Bericht des zuständigen Oberstaatsanwalts: »Das ganze Material ist eine Übersicht über die gesamte Tätigkeit des Kriegsministeriums, der Feldzeugmeisterei und der Artillerieprüfungskommission. Die Firma Krupp war über die Lage des ganzen artilleristischen Geschäftsbetriebes auf dem Gebiete der Beschaffung von artilleristischem Material so eingehend unterrichtet, wie es nur irgend gewünscht werden kann.« Die Strafen für die der Korruption und des Geheimnisverrats überführten Offiziere und Beamten waren z.T. lächerlich gering. Sie bestanden vor allem in »Festungshaft«, so daß die betroffenen Militärangehörigen ihren Dienstrang behalten, sich relativ frei bewegen konnten und pensionsberechtigt blieben.

Deutsche Waffen in aller Welt

Das deutsche Kaiserreich ist ungeachtet seiner profitablen Hochrüstungspolitik für das Haus Krupp längst zu klein geworden. Liebknecht listet auf, wer inzwischen von seinem Knowhow und seiner Waffenproduktion außerhalb der Grenzen Deutschlands profitiert und wie das Unternehmen mit anderen Rüstungsschmieden in Europa verflochten ist.

Zum Beispiel seien die in Pilsen liegenden Skoda-Werke ein enger Partner Krupps. Neben einer Kapitalbeteiligung an dieser größten Waffenschmiede der österreichisch-ungarischen Monarchie existierte ein reger Austausch von Patenten. Besonders pikant werde die Allianz mit Skoda dadurch, daß diese Firma seit Anfang 1914 auch mit Großunternehmen aus potentiellen »Feindstaaten«, den russischen Putilow-Werken und Schneider-Creuzot aus Frankreich, in engste Geschäftsbeziehungen getreten sei. Die Putilow-Werke ihrerseits produzierten seit neuestem Kanonen mit Hilfe von Krupp-Tiegelstahl. Daß diese Kanonen im Ersten Weltkrieg auf deutsche Soldaten gerichtet sein werden, sei nur am Rande erwähnt. »Wir stehen hier«, so kommentiert Liebknecht diese Sachverhalte, »vor einer Kanoneninternationale in Reinkultur«.

Neben Krupp geraten die Aktivitäten weiterer Konzerne der deutschen Rüstungsindustrie in das Blickfeld Liebknechts: so z. B. die Firma Siemens und Schuckert, die Deutsche Waffen- und Munitionsfabrik in Berlin, die Daimler-Motorenwerke, die Alfred-Nobel-Werke, die Deutsche Sprengstoff AG, die Firma Goerz und der Loewe-Konzern. Dieses Unternehmen ist weltweit mit der Produktion bzw. dem Export von Waffen verschiedenster Art befaßt. Seine Bedeutung resultiert nicht zuletzt aus der Finanzkraft von dessen Hausbank, der Disconto-Gesellschaft, die eine – für damalige Verhältnisse – riesenhafte Bilanzsumme von 300 Millionen Mark aufweist. »Die Firmen dieses Konzerns«, so Liebknecht, »haben den ganzen Erdball in Interessenssphären zur Exploitation unter sich geteilt, um Geld zu münzen aus dem Völkermord, aus der Zwietracht der Völker.«

Ebenso wie bei Krupp tummeln sich ehemalige hohe Beamte und Offiziere in leitenden Positionen der Firma Goerz. Liebknecht nennt u.a. den Generalleutnant von Nieber, Mitglied des Aufsichtsrats. Das Unternehmen, das enge Geschäftsbeziehungen zur Firma Krupp unterhalte, verfügt über Tochterunternehmen in Österreich und England sowie mehrere Fabriken und Verkaufsgesellschaften in Rußland und Frankreich.

Mit dem Wissen, daß nur wenige Monate nach der Reichstagsrede Liebknechts der Erste Weltkrieg entfesselt wird, bekommt ein von ihm angesprochenes Geschäft eine besondere Note: die Deutsche Waffen- und Munitionsfabrik habe zusammen mit dem österreichischen Unternehmen Steyr nicht weniger als 200000 Gewehre an Serbien geliefert, »also an den größten politischen Erbfeind Österreichs, unseres Verbündeten«. Wen möchte es da noch wundern, daß die Augsburger Maschinenfabrik (MAN) Motoren für den Antrieb der französischen U-Boote liefere? Im Angesicht des von ihm unterbreiteten und analysierten Materials gelangt Liebknecht zu der treffenden Schlußfolgerung, daß »Deutschland ein Weltversorger mit Kriegsmaterial ist«.

Ein General als Titelhändler

Besonders peinlich ist den Vertretern der bürgerlichen Parteien im Reichstag, vor allem aber dem im Plenum anwesenden Abteilungschef im Preußischen Kriegsministerium, Generalmajor Adolf Wild von Hohenborn, ein nur scheinbar nebensächliches Thema, das Liebknecht im Zusammenhang mit der um sich greifenden Korruption anspricht. Es wirft ein bezeichnendes Licht auf die Geisteshaltung der herrschenden Eliten und des Bürgertums und demaskiert ihre immer wieder vorgetragene, scheinheilige Überzeugung, »leistungsstärker« und »leistungsorientierter« als die Masse der Bevölkerung zu sein, als hohle Phrase.

Es geht um den schwunghaften Ämter- und Titelhandel, an dem einer der führenden Militärs, der jüngst verstorbene Generalleutnant von Lindenau, führend beteiligt war. Besonders pikant wird die ganze Angelegenheit dadurch, daß dieser Offizier von Kaiser Wilhelm II. hoch geschätzt wurde und er als Befehlshaber einer Infanteriedivision ein exponiertes Kommando inne hatte.

Der amtierende Reichstagspräsident will unter allen Umständen verhindern, daß dieses Thema zur Sprache kommt. Mit dem Hinweis, daß in Reichstagsdebatten über Tote nicht gesprochen werden solle, will er dem Sozialdemokraten mehrfach das Wort abschneiden. Doch der läßt sich nicht einschüchtern, auch nicht durch die zahlreichen Zwischenrufe.

Worum ging es? General von Lindenau hat z.B. promovierten Akademikern die Möglichkeit zum käuflichen Erwerb eines Professorentitels geboten. Dabei gab es zwei Varianten. Zum einen konnte eine solche Professur an einer Universität außerhalb Preußens erworben werden, zum anderen in Preußen selbst. Im ersteren Fall mußte der betreffende Herr allerdings einen Zusatz zu seinem Titel tragen: er nannte sich z.B. »Fürstlich Lippescher« oder »Herzoglich Sachsen-Altenburger Professor«. Das klingt nicht gut. Für eine »Berufung« innerhalb Preußens galt, daß zuvor ein wissenschaftlicher Zeitschriftenaufsatz, von dem ein Sonderdruck als selbständige Veröffentlichung anzufertigen ist, notwendig war. Besonders wichtig war dem verstorbenen General allerdings – wie Liebknecht nachweisen konnte – die Zahlung von 40000 Mark plus 1560 Mark »Vermittlungsspesen« an eine »gewisse Stelle«; für damalige Verhältnisse ein beträchtliches Vermögen. Die Honorierung erfolgte als »Bar- oder Zug-um-Zug-Geschäft«. Es erfordert nicht allzu große Phantasie, um zu erahnen, wer alles an den zu zahlenden Geldbeträgen partizipierte, die an General von Lindenau zu überweisen waren. Immerhin mußte in Preußen die Ernennungsurkunde vom Kultusminister persönlich unterzeichnet werden.

Nur wenige Tage nach seiner Reichstagsrede, am 20. Mai 1914, veröffentlicht Karl Liebknecht im Vorwärts einen »streng vertraulichen« Brief des offenbar als Nachfolger des Generals von Lindenau agierenden Dr. Franz Ludwig, in dem diese Machenschaften offengelegt werden. So beruhigte der Autor dieses Briefes potentielle »Professoren«, daß die Publikation eines Aufsatzes »nur Formsache« sei, »damit man sich darauf berufen kann, Sie haben etwas Wissenschaftliches veröffentlicht«. Bei Dr. Franz Ludwig handelte es sich – besonders peinlich für die Herrschenden – um den Geschäftsführer des »Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie«. Diese ungemein rührige Organisation überschwemmte das Land geradezu mit Hunderten Broschüren und Flugblättern gegen die »rote Gefahr«. An der Spitze stand der Generalleutnant der Infanterie und Reichstagsabgeordnete der »Freikonservativen Partei«, Eduard von Liebert. Dr. Ludwig selbst hatte sich u.a. als Autor der Schrift »Kommunismus, Anarchismus, Sozialismus« hervorgetan, die in hohen Auflagen vertrieben wird. Dieses Beispiel zeigt, daß Korruption, Durchstecherei und Titelhandel zu den Alltäglichkeiten im Kaiserreich zählten.

Mär: Rüstung schafft Arbeitsplätze

Karl Liebknecht hat es seinen Opponenten schwergemacht, die von ihm detailliert dargelegten Sachverhalte zu widerlegen. Deshalb versuchen vor allem der Abteilungsdirektor im Preußischen Kriegsministerium, Wild von Hohenborn, und der Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger, ein »Argument« in die Debatte einzubringen, das die grundlegende Kritik Liebknechts an der deutschen Rüstungsindustrie entkräften soll: Der SPD-Parlamentarier sei außerstande zu erkennen, daß dieser Wirtschaftszweig Tausenden deutscher Arbeiter Beschäftigungsmöglichkeiten biete.

Wild von Hohenborn stimmte in diesem Zusammenhang ein bis zum heutigen Tage von den Rüstungsindustriellen und ihren politischen Prokuristen bekanntes Lied an: »Der Herr Abgeordnete Liebknecht hat uns die alte Neuigkeit von neuem vorgeführt, daß Deutschland Waffen exportiere. Um wieviel dadurch das deutsche Nationalvermögen gestiegen ist, wieviel Arbeiter ihr Brot dadurch gefunden haben (Lebhafte Zurufe: ›Sehr richtig!‹), dafür hat er kein Wort gefunden (Lebhafter Beifall).« Und Erzberger sekundierte dem General eilfertig: »Von den Geldern, die von fremden Ländern nach Deutschland kommen, sind mindestens 60 bis 80 Prozent Arbeiterlöhne. Wenn diese Aufträge nicht kommen, dann ist Arbeiterentlassung die erste Folge der Liebknechtschen Agitation. Und die Rede des Abgeordneten Liebknecht wird wiederum eine gewaltige Schädigung unserer deutschen Volkswirtschaft und damit eine Schädigung unserer deutschen Arbeiter sein.« Am Ende leistete sich Erzberger noch den unfreiwillig komischen Ausruf, »daß die ganze Welt vor der Ehrlichkeit der deutschen Rüstungsindustrie den Hut zieht«. Woher der Abgeordnete Erzberger seine Kenntnis von dem angeblich 60 bis 80 Prozent ausmachenden Anteil der für deutsche Rüstungsexporte erzielten Einnahmen zugunsten der Arbeiterlöhne hat, kann er nicht erklären.

In einer Replik proklamiert Liebknecht das Ziel, »daß die Rüstungsindustrie vom Boden verschwindet« und fragt in diesem Zusammenhang: »Glauben Sie, daß die Leute, die bis dahin in der Rüstungsindustrie gearbeitet haben, von da an verhungern werden? Werden ihre Hände und Arbeitskräfte nicht für bessere Zwecke, für die Gesamtkultur nützlicher, verwendet werden?«

Realpolitik statt Antimilitarismus

Allerdings ist bei alledem zu beachten, daß mittlerweile innerhalb der Sozialdemokratie das »Arbeitsplatzargument« positive Resonanz gefunden hatte. Mehr noch: Auch die scheinbare Notwendigkeit für das deutsche Kaiserreich, in Konkurrenz zu den anderen Großmächten eine »Weltpolitik« zu treiben, neue Absatzgebiete zu erobern, weitere Kolonien zu erwerben und dadurch den Import und die Ausfuhren von Gütern auch zum angeblichen Nutzen der deutschen Arbeiterklasse zu sichern, fand in wachsendem Maße Eingang in die Spalten der Parteipresse. Die zutreffende Einschätzung Liebknechts in seiner Rede am 11. Mai 1914, »daß die auswärtiger Politik unserer jetzigen Epoche schon längst nicht mehr in den Auswärtigen Ämtern gemacht wird, sondern in den Fabrik- und Bankkontoren und daß ihre Mittel weit weniger diplomatische Noten als andere Noten sind«, geriet in zunehmenden Widerspruch zu den immer stärker den Ton angebenden revisionistischen Kräften innerhalb der Sozialdemokratie.

Natürlich wurden derartige Äußerungen von bürgerlichen Politikern wohlwollend kommentiert. Friedrich Naumann, einer der führenden Publizisten jener Jahre und zugleich Reichstagsabgeordneter der Freisinnigen Vereinigung, schrieb bereits im Mai 1899 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Hilfe, man müsse alles tun, um die revisionistischen Politiker in der SPD zu unterstützen. Die Partei solle »einen großen Teil unnützen Utopismus und Radikalismus« abstreifen. Und weiter: Es müßten von ihr »bestimmte nationalpolitische Aufgaben übernommen werden, aus einer reinen Protestpartei muß sich eine schaffende, staatserhaltende sozialistische Partei gestalten – nationaler Sozialismus auf freiheitlicher Grundlage«. Und Clemens von Delbrück, Vizekanzler von 1909 bis 1916, schrieb zur Strategie der Reichsregierung gegenüber der Sozialdemokratie während seiner Amtszeit: »Es handelte sich jetzt darum, die Partei zu zersetzen, nicht aber ihre auseinanderstrebenden Elemente durch eine Gewaltpolitik wieder zusammenzuschweißen. Nach diesen Richtlinien hat die Regierung innerhalb der Jahre 1909 bis 1913 gearbeitet.«

Zu den Exponenten derjenigen Kräfte innerhalb der SPD, die sich für eine Abkehr der Partei von der strikten Opposition gegenüber der Rüstungs- und »Weltpolitik«, gegen den Militarismus einsetzen, gehörte neben der Zeitschrift Sozialistische Monatshefte nicht zuletzt Gustav Noske, der »marinepolitische Sprecher« der Partei im Reichstag. Vieles von dem, was von den Revisionisten gesagt und geschrieben wurde, unterscheidet sich, wenn überhaupt, nur graduell von den bürgerlichen und regierungsamtlichen Verfechtern einer deutschen »Weltpolitik«.

Somit kämpfte Karl Liebknecht bald an zwei Fronten: gegen die Militaristen und Rüstungsindustriellen auf der einen und gegen die in den eigenen Reihen »Realpolitik« einfordernden Revisionisten auf der anderen Seite. Am Ende der Strategie seiner Genossen steht die Zustimmung zum Krieg. Ludwig Quessel, Redakteur der Sozialistischen Monatshefte, formulierte es paradigmatisch in der Ausgabe vom 13. August 1914 mit diesen vor Kriegsbegeisterung strotzenden Sätzen: »Ein furchtbares Schicksal droht der Nation. Von Ost, West und Nord stürmen die Feinde heran, sie niederzuwerfen. Was die Feinde Deutschlands planen, ist eine Versündigung an der Kultur und der Menschheit überhaupt, die nimmermehr so hoch hätte steigen können, wenn deutsche Geistesarbeit ihr nicht den Weg empor gebahnt hätte. Wer dieses Volk niederwerfen und für alle Zeiten ohnmächtig machen will, trachtet danach, alle menschlichen Zukunftshoffnungen zu vernichten.«

Angesichts der Zustimmung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten am 4. August 1914 und angesichts des Einschwenkens einer Mehrheit innerhalb der SPD-Führung auf den Kriegskurs der Reichsregierung verkündet der »Reichsverband gegen die Sozialdemokratie« am 29. August 1914, er stelle seine Tätigkeit wegen der positiven Haltung der SPD zum Krieg mit sofortiger Wirkung ein. Noch ein Vierteljahr zuvor hat die gleiche Organisation auf ihrer jährlichen Tagung festgestellt, die Sozialdemokratie lebe »mit uns im Kampf, und sie wird losschlagen, gerade so gut wie die Franzosen, sobald sie sich stark genug dazu fühlt«.

Was bleiben wird, ist Liebknechts brillante Analyse des militärisch-industriellen Komplexes im deutschen Kaiserreich am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Sie bietet auch für die Gegenwart wichtige Lehren bei der systematischen Untersuchung des heutigen Militarismus.

* Aus: junge Welt, Samstag, 10. Mai 2014


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