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Höchste Todesrate in Afrika

Jörn Leonhard blickte in die Büchse der Pandora und über Europa hinaus

Von Harald Loch *

Der Erste Weltkrieg ist in der historiographischen Literatur Deutschlands und der westeuropäischen Kriegsbeteiligten eines der am besten erforschten Ereignisse. Die Schuld am Krieg und die Folgen des Friedensschlusses von Versailles werden dennoch bis heute kontrovers diskutiert. Der Freiburger Professor Jörn Leonhard hat alle Kriegsbeteiligten etwa gleich gewichtet im Blick, sein Hauptaugenmerk gilt jedoch – neben dem durch die technische Waffenentwicklung gekennzeichneten militärischen Geschehen – vor allem der innenpolitischen und gesellschaftlichen Entwicklung der Hauptkriegsbeteiligten. In Deutschland habe sich der Reichstag nach Bewilligung der Kriegskredite auch durch die SPD für etwa zwei Jahre selbst abgemeldet und dem Militär fürderhin unkontrolliert das Handeln überlassen. In Frankreich habe es zwar auch eine »union sacrée«, eine »heilige Union« nahezu aller politischen Kräfte gegeben, aber das Parlament war nicht total ausgeschaltet. Wie auch in Großbritannien nicht, wo sich um linksliberale und pazifistische Persönlichkeiten eine gewichtige »außerparlamentarische Opposition« gruppierte, der u. a. John Meynard Keynes angehörte, und die den Krieg beenden wollte.

In der Habsburger Doppelmonarchie ging die Entscheidungsgewalt sofort auf die Oberste Heeresleitung über. Der von inneren sozialen und nationalen Problemen zerrüttete, militärisch wie wirtschaftlich schwache Vielvölkerstaat hing ohnehin am Tropf des großen deutschen Bündnispartners. Ähnlich ging es Russland. Die Blockierung der Ostsee- und Schwarzmeerhäfen hatten das Zarenreich von der Versorgung mit wehrwirtschaftlich wichtigen Gütern durch die westlichen Verbündeten abgeschnitten. Dem Osmanischen Reich waren bereits in den vorangegangenen Balkankriegen große Gebiete verloren gegangen. Den Kriegsschauplatz in Mesopotamien verteidigte »die Pforte« vor allem gegen indische Truppen, die an der Seite Englands kämpften.

Leonhard analysiert auch die folgenreiche Nachkriegsordnung. Das auf der Seite der Entente in den Krieg eingetretene Japan war der große Gewinner. Italien konnte sich für die herben Verluste am Isonzo mit Gebietsgewinnen auf Kosten des untergegangenen Habsburger Reiches entschädigt fühlen. Die USA wurden dank des sich selbst zerfleischenden »alten« Kontinents Hegemonialmacht. Leonhard behandelt alle Kriegsschauplätze und zeigt auch das Ausmaß der Einbeziehung der Kolonien. »In Ostafrika kamen zwischen 1914 und 1918 ca. 650 000 Zivilisten ums Leben; »das war gemessen an der Größe der Bevölkerung die höchste zivile Todesrate – und dennoch ist der Krieg in Ostafrika bis heute ein vergessenes Kapitel«, beklagt Leonhard zu Recht.

Leonhards Buch dürfte zu einem Standardwerk avancieren.

Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. C.H. Beck, München 2014. 1157 S., geb., 38 €.

* Aus: neues deutschland, Freitag 18. Juli 2014


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