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Europa ohne Versager

Eine Konferenz in Berlin zu 100 Jahre Erster Weltkrieg

Von Arnold Schölzel *

Was passiert, wenn sich Regierungspropaganda eines historischen Ereignisses bemächtigt, ist vorhersehbar. Die Überschrift lautet stets: Durch Nacht zum heutigen Licht. Jüngstes Beispiel: In der Julikrise des Jahres 1914, behauptete Außenminister Frank-Walter Steinmeier, »versagten« die europäischen Diplomaten. Das setzt voraus, sie hätten Krieg verhindern wollen. Das Gegenteil war der Fall, aber für Staatszwecke ist das irrelevant. Hier war zu verkünden: »Wir« haben ein »großes Europa wiederhergestellt ohne Versager«. Der Historiker Kurt Pätzold (Berlin) faßte am Mittwoch auf einer Konferenz in Berlin zu Ursachen und Wertungen des Kriegsbeginns 1914 so das beachtliche bundesdeutsche Bemühen zusammen, eine »Revision der Revision« zustande zu bringen, was Urheber und Ursachen des Ersten Weltkrieges angeht. Genauer: Die Thesen des Hamburger Historikers Fritz Fischer vom zielbewußten deutschen »Griff nach der Weltmacht« aus den 60er Jahren werden gerade landesweit und penetrant für veraltet, unbrauchbar oder sonstwie überholt erklärt.

In anderen am Weltkrieg beteiligten Staaten sind Verrenkungen dieser Art weniger zu beobachten. Das machten die internationalen Gäste der Veranstaltung, zu der die Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung und der Verein »Berliner Freunde der Völker Rußlands« eingeladen hatten, deutlich. So resümierte Martin Moll (Graz) als Konsens der österreichischen Historiographie zum Kriegsbeginn 1914: Wien wollte Serbien bestrafen, aber keinen großen Krieg. Für den sei Berlin verantwortlich. Die k. k.-Monarchie habe, zitierte er einen Autor, die Fesseln gelöst, aber das deutsche Kaiserreich die österreichische Hand geführt, wo diese »zittrig zu werden drohte«.

Während im Alpenland die Verehrung für Monarchisches schwindet – nicht in der veröffentlichten Meinung, wie Moll festhielt –, wird in Rußland die Glorifizierung des Zarismus belebt. Horst Schützler (Berlin) stellte als Beispiel die biographischen Werke Pjotr Multatulis über Zar Nikolaus II. vor, einer Art Hagiographie. Der Tenor: Als rechtgläubiger Christ habe Nikolaus – anders als seine westeuropäischen Kollegen – hohe Sittlichkeit bewiesen und große Anstrengungen unternommen, um nicht in einen Krieg hineingezogen zu werden. Weil aber die kranke russische Gesellschaft nicht mehr an Gott geglaubt habe, sei er gescheitert. Erst die sowjetische Propaganda sei darauf verfallen, ihm imperialistische Ziele anzudichten.

Distanz zum Krieg herrschte bei dessen Beginn 1914 tatsächlich in der US-Gesellschaft vor, wie Robert Waite (Washington) darlegte. Die Medien der USA hätten über ein großes Netz von Korrespondenten in Europa verfügt, die sehr detailliert informierten. Der Versuch – auch Deutschlands – in den Vereinigten Staaten die eigenen Positionen propandistisch zu verbreiten, sei auf wenig Resonanz gestoßen. Die Abneigung gegen die europäischen Monarchien, vor allem aber der konkrete Kriegsverlauf mit dem deutschen Überfall auf Belgien und die dort begangenen Verbrechen hätten die isolationistische Haltung der US-Bürger bestärkt.

Als »Nachkriegskatastrophe« bezeichnete Manfred Weißbecker (Jena) in seinem Referat die Erinnerungspolitik in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg: Unvermeidlichkeit von Krieg, Sakralisierung des Tods auf dem Schlachtfeld, rassistische Mystifikation der angeblichen Überlegenheit deutscher Soldaten und national-religiöse Heilsvorstellungen (von der Schützengraben- zur »Volksgemeinschaft«) seien zu einem »bildungsbürgerlichen Kanon« geworden. Die Machtübergabe an die Nazis 1933 habe in dieser Hinsicht keine Zäsur dargestellt.

Ein Referat Hartmut Henickes (Berlin) über »Arbeiterbewegung, Krieg und Nation vor dem Ersten Weltkrieg« sowie eine Lesung Marga Voigts aus Briefen Clara Zetkins beschlossen die Tagung, an der sich die etwa 60 Teilnehmer mit lebhafter Diskussion beteiligten. Die Konferenzbeiträge werden auf den Internet­seiten der beiden Veranstalter veröffentlicht.

* Aus: junge Welt, Freitag 13. Juni 2014


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