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La Grande Guerre

Eine Geschichte des Ersten Weltkrieges aus Frankreich

Von Kurt Pätzold *

Bei allen unbestrittenen Verdiensten: Einen vergleichbaren Band zur Geschichte des Ersten Weltkriegs zu diesem aus dem Französischen übersetzten hat die deutsche Historiographie bislang nicht vorgelegt. Das gilt für dessen Konzeption ebenso wie für Gestaltung und Bebilderung. Die 68 Abhandlungen, die das Buch versammelt, wurden mehrheitlich von den Herausgebern geschrieben: von Bruno Cabanes, Professor an der Yale Universität/USA, der mit kultur- und sozialgeschichtlichen Arbeiten zum Ersten Weltkrieg hervorgetreten ist, und der gleichermaßen publizistisch ausgewiesenen Historikerin Anne Dumenil. Die beiden Franzosen bezogen sechs weitere Autoren aus Großbritannien, den USA, Irland und Deutschland in ihr Vorhaben ein. Die Schilderung des Geschehens setzt 1912 mit dem Ersten Balkankrieg ein und reicht über das Kriegsende hinaus bis zur Ruhrbesetzung 1923. Abschließend wird aus dem Abstand von einem Jahrhundert auf La Grande Guerre, den »Großen Krieg« zurückgeblickt und gefordert, ihn hinter sich zu lassen.

Am Anfang eines jeden Kapitels steht ein Datum, mit dem sich ein denkwürdiges Geschehen verbindet, ein Ereignis oder das Schicksal einer Person. Vom Speziellen wird zum Allgemeinen geschritten. Das dockt an vorhandenes Interesse an und weitet es zugleich aus: An die Geschichte der in Belgien lebenden Britin Edith Cavell, die Verwundeten aus besetztem Gebiet zur Flucht in die neutralen Niederlande und von da zu ihren kämpfenden Truppen verhalf und die ein deutsches Militärgericht am 12. Oktober 1915 in Brüssel wegen Feindbegünstigung zum Tode verurteilte, schließt sich eine Skizze des Widerstands der Belgier und Franzosen gegen die deutsche Herrschaft an. Die Geschichte der Niederländerin Mata Hari, die am 24. Juli 1917 von einem französischen Exekutionskommando als deutsche Spionin erschossen wurde, dient der Erörterung der Impulse, welche der Krieg dem Aufbau der Geheimdienste in mehreren Ländern gab. Und auf die Schilderung des Kampfes der patriotisch gesinnten russischen Bauerntochter Maria Boschkarowa, die ein Frauenbataillon kommandierte und sich später in die Armee der Weißen unter Koltschak einreihte, folgt die Untersuchung der Rolle von Frauen in den Armeen mehrerer Staaten als Krankenschwestern oder Hilfskräfte, aber auch als Soldatinnen.

Ausgangspunkt der meisten Beiträge bilden naturgemäß Kriegshandlungen, so die Schlachten von Tannenberg, an der Marne, in Gallipoli und Verdun, an der Somme, bei Passchendaele und Carporetto, aber auch der U-Bootkrieg, die »Lusitania«-Versenkung, der Giftgaskrieg und die Bombenabwürfe deutscher Zeppeline auf London. Anhand von Kriegsverbrechen etwa in Belgien und des Völkermordes in Armenien wird der Wandel in diesem ersten weltweiten Krieg beleuchtet, der ungeachtet fixierten Kriegsrechts keine juristischen, geschweige denn moralischen Grenzen mehr kannte. Schließlich wird das historische Geschehen aus der Perspektive politischer und propagandistischer Initiativen diskutiert, wozu einerseits die »patriotisch«-dünkelhafte Erklärung von über neunzig deutschen Intellektuellen und anderseits der Appell der Zimmerwalder Konferenz der sozialistischen Kriegsgegner gehören. In den Beiträgen zur Entstehung der Kriegsindustrien wird auf die Konzentration des Kapitals, astronomische Gewinne sowie die enormen finanziellen Kosten des Krieges hingewiesen. Ein weiterer Beitrag befasst sich mit der Ernährungslage der Zivilisten und Soldaten.

Das (nicht überraschende) Manko auch dieses Buches sind die Kriegsursachen. Nach Bruno Cabanis und Anne Dumenil sind Europa und dessen maßgebende Politiker nicht in den Krieg hineingeschlittert oder hinein geschlafwandelt (Christopher Clark), sondern getaumelt; es wird vom »zum Teil zufälligen Krieg« gesprochen. Ohne die Analyse des Wesens des Imperialismus, stehen indes alle Holzwege offen.

Das Buch unterstreicht die Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen oder gar über den Kontinent hinausreichenden Abhandlung. Das hat den Verfasser des Vorworts, Gerd Krumeich, zu einem überraschenden Vorschlag veranlasst: Die bundesrepublikanischen Historiker sollten in internationaler Forschergemeinschaft die Möglichkeit untersuchen, ob »eventuell noch im Sommer 1918 Deutschland den Krieg siegreich hätte gewinnen können«. Mit einer solchen Recherche würde man den »Vorwurf vieler deutscher Soldaten, von der Heimat im Stich gelassen worden zu sein, wieder vertieft diskutieren können«. Der Dolchstoßlegende müsse dadurch nicht Nahrung geboten werden. Welcher bitte sonst? Wesentlicher wäre jedenfalls, dass sich die Fachwelt wieder der in jüngster Zeit aufgegebenen Erörterung der Kriegsursachen zuwendet. Das wäre ein wichtiges, ergiebigeres Thema für die bevorstehenden Konferenzen anlässlich des 100. Jahrestages des Kriegsbeginns.

Bruno Cabanis/Anne Dumenil (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Katastrophe. Aus dem Französischen von Birgit Lamerzt-Beckschäfer. Theiss Verlag. 480 S., geb., 49,95 €.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 3. Januar 2014


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