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Aggressive Strategie

Vorabdruck. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges verschärfte sich die Rivalität der imperialistischen Großmächte. Das Deutsche Reich verfolgte eine expansionistische Politik

Von Gerd Fesser *

Im Sommer 2014 jährt sich der Beginn des Ersten Weltkrieges zum 100. Mal. In dem Anfang Januar 2014 erscheinenden Buch »Deutschland und der Erste Weltkrieg« in der Reihe »Basiswissen« im PapyRossa-Verlag untersucht Gerd Fesser die internationale Konstellation, die zum Waffengang führte. Der Schwerpunkt liegt dabei beim Deutschen Reich und dessen Politik. Die "junge Welt" veröffentlichte aus dem Buch eine gekürzte Fassung des dritten Kapitels, die wir im Folgenden dokumentieren.

Seit Entstehen des Imperialismus war in Deutschland wie auch in anderen Ländern die Überzeugung weit verbreitet, Ansehen und Zukunftsaussichten eines Staates hingen vom Besitz überseeischer Gebiete (Kolonien und Einflußzonen) ab. Die überseeischen Besitzungen sollten als Rohstofflieferanten und Absatzmärkte dienen und es ermöglichen, dort Flottenstützpunkte und Kohlestationen für die Versorgung der Handelsflotte zu errichten. Kolonien galten aber auch einfach als Statussymbole. Ein wichtiges Motiv für die Kolonialexpan­sion war der »Sozialimperialismus«. So erklärte Cecil Rhodes, die Symbolfigur des britischen Imperialismus, im Jahre 1895: Wer den Bürgerkrieg vermeiden wolle, müsse zum Imperialisten werden.

Die territoriale Aufteilung der Welt unter die Kolonialmächte war um 1900 bereits weitgehend abgeschlossen. Es setzte deshalb ein heftiges Ringen dieser Staaten um die letzten überseeischen Gebiete ein, die noch nicht zu einem der Kolonialreiche gehörten. Das waren vor allem China, das Osmanische Reich, Marokko und Persien. In Deutschland forderten Publizisten, Professoren, Wirtschaftsführer und Stammtischpolitiker den Griff nach Übersee. Das deutsche Kaiserreich war bei der Aufteilung der Welt in Kolonien und Einflußzonen ihrer Meinung nach zu spät gekommen. Deutschland besaß zwar Kolonien, die brachten jedoch nichts ein, erforderten vielmehr Zuschüsse.

In Deutschland wie in den übrigen großen europäischen Staaten bildete der Nationalismus eine maßgebliche Triebkraft für die imperialistische Expansionspolitik. Träger des neuen, integralen Nationalismus waren in Deutschland militante Organisationen wie der Alldeutsche Verband, in Frankreich die Action française, in Rußland die panslawistische Bewegung, in Großbritannien die Flottenvereine und in Österreich die Bewegung des vom jungen Adolf Hitler bewunderten Georg Ritter von Schönerer.

Europäische Bündnispolitik

Im Sommer 1897 fielen in Deutschland zwei wichtige Personalentscheidungen: Bernhard von Bülow wurde (formell zunächst nur stellvertretend) Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, d.h. Außenminister, Admiral Alfred Tirpitz Staatssekretär des Reichsmarineamtes, also Minister für die Kaiserliche Marine. Damit waren die beiden maßgeblichen Protagonisten einer deutschen »Weltpolitik« und Flottenrüstung in die außenpolitischen Schlüsselstellungen eingerückt. Am 6. Dezember 1897 verlangte Bülow in einer Aufsehen erregenden Rede im Reichstag für das Deutsche Reich einen »Platz an der Sonne«.

Zu dieser Zeit verschob sich das ökonomische Kräfteverhältnis zwischen dem Deutschen Reich und der führenden Weltmacht Großbritannien in dramatischer Weise. So stieg die britische Stahlproduktion zwischen 1886 und 1910 von 2,4 Millionen Tonnen auf 6,1 Millionen (= um 154Prozent). Die deutsche Stahlerzeugung aber wuchs im gleichen Zeitraum von knapp einer Million Tonnen auf 13,7 Millionen Tonnen (= um 1335Prozent). In den herrschenden Kreisen des deutschen Kaiserreichs richtete man mehr und mehr den Blick vom eigenen mageren Kolonial­besitz auf das gigantische britische Weltreich, dessen Ausplünderung den Briten so große Reichtümer einbrachte.

Die Rede Bülows vom 6. Dezember signalisierte, daß das kaiserliche Deutschland eine Expansionspolitik eingeleitet hatte, deren Stoßrichtung sich objektiv vor allem gegen das britische Weltreich richtete. Die deutsche »Weltpolitik« folgte keinem ausgreifenden geheimen Plan. Sie war vielmehr darauf ausgerichtet, vorteilhafte Konstellationen der internationalen Politik improvisierend zu nutzen. 1898/99 gelang es Bülow, die pazifische Insel Samoa, die Marianen, die Karolinen und Palau zu erwerben. Im März 1898 nahm der deutsche Reichstag das erste Flottengesetz an. Es sah insbesondere vor, die Zahl der deutschen Linienschiffe (Schlachtschiffe) von sieben auf 19 zu erhöhen. Mit dem Flottengesetz gab die Reichsregierung eine indirekte Antwort auf die Frage, mit welchen Mitteln Deutschland einen »Platz an der Sonne« erringen könne. (…)

Das deutsche Staatsoberhaupt, Kaiser Wilhelm II., begleitete die »Weltpolitik« mit waffenklirrenden Reden, die bei den Regierenden Großbritanniens, Frankreichs und Rußlands große Befürchtungen über die Ziele dieser Politik weckten. Das Deutsche Reich hatte bei seinem Übergang zur »Weltpolitik« eine günstige internationale Mächtekonstellation ausnutzen können. Reichskanzler Bülow meinte, diese Konstellation habe Ewigkeitswert. Im Gefolge der Intervention der imperialistischen Mächte in China von 1900/1901 verschärften sich die Spannungen zwischen Rußland und England weiter. Für Bülow und seinen außenpolitischen Ratgeber Friedrich von Holstein war es geradezu ein Glaubenssatz, daß die Widersprüche zwischen Rußland und England (»Bär« und »Walfisch«), aber auch die zwischen England und Frankreich unüberbrückbar seien. Die alten Rivalen England und Frankreich waren aber mehr und mehr dazu übergegangen, ihre Differenzen auszugleichen und sich gegen den neuen gefährlicheren Gegner zusammenzuschließen. Es war nur eine Frage der Zeit, daß auch Rußland zu dieser »Entente« stoßen und Deutschland völlig in die außenpolitische Isolierung geraten würde. (…)

Die Regierenden des Kaiserreiches glaubten, die politische Annäherung zwischen Großbritannien, Frankreich und Rußland laufe auf eine »Einkreisung« Deutschlands hinaus. Dreimal haben sie zwischen 1905 und 1911 versucht, durch riskante diplomatische Vorstöße, bei denen sie bewußt am Rande eines großen Krieges agierten, die Entente beziehungsweise die seit 1907 bestehende britisch-französisch-russische Triple-Entente zu schwächen oder gar zu sprengen.

Panzerkreuzer für die Flotte

Im Jahre 1905 war das mit Frankreich verbündete Rußland, durch die Niederlage im Krieg gegen Japan und die Revolution geschwächt, außenpolitisch nicht aktionsfähig. Bülow und Holstein beschlossen, diese Situation zu einem Vorstoß gegen Frankreich auszunutzen. Im Februar 1905 war der französische Gesandte Georges Taillandier in der Hauptstadt Fez beim Sultan von Marokko erschienen und hatte diesen aufgefordert, eine Anzahl von »Reformen« durchzuführen (insbesondere Armee und Zollwesen französischer Aufsicht zu unterstellen), die das Land in ein französisches Protektorat verwandelt hätten.

Am 31. März 1905 landete Wilhelm II. in der marokkanischen Hafenstadt Tanger und brachte dort zum Ausdruck, daß das deutsche Kaiserreich gleichfalls Ansprüche auf Marokko erhob. Wenige Tage später forderte die Reichsregierung, eine internationale Konferenz von 13 Staaten einzuberufen, die über die Ansprüche Frankreichs und anderer Länder auf Marokko befinden sollte. Sie war fest davon überzeugt, eine solche Konferenz werde mit einer diplomatischen Niederlage Frankreichs enden. Als die französische Regierung sich zunächst weigerte, auf die deutschen Forderungen einzugehen, drohte die Reichsregierung mit Krieg. Schließlich wich die französische Regierung vor den deutschen Drohungen zurück und stimmte einer Marokko-Konferenz zu. Kauf am Kiosk!

Von Januar bis April 1906 tagte dann in der spanischen Stadt Algeciras die internationale Marokko-Konferenz. Sie brachte entgegen den Erwartungen Bülows und Holsteins einen Triumph Frankreichs und eine schwere diplomatische Niederlage Deutschlands. Die Konferenzmehrheit, darunter die Vertreter Englands, Rußlands, der USA und Italiens, übertrug Frankreich die Kontrolle über die Polizei sowie das Finanz- und Zollwesen Marokkos. Damit war der Weg für die künftige Verwandlung Marokkos in eine französische Kolonie geebnet.

In Großbritannien verfolgte man die hektische deutsche Flottenrüstung mit wachsender Besorgnis und sah die Seeverbindungen zum eigenen Kolonialreich bedroht. 1905/06 ging Großbritannien zum Bau von Großkampfschiffen über. Im Februar 1906 lief das Schlachtschiff »Dreadnought« (Fürchtenichts), im April 1907 der Schlachtkreuzer »Invincible« (Unbesiegbar) vom Stapel. Die britische Marineführung war davon überzeugt, Deutschland sei aus technischen und finanziellen Gründen nicht in der Lage, Großkampfschiffe zu bauen. Das erwies sich als Fehlkalkulation. Bereits im März 1908 lief das erste deutsche Großkampfschiff »Nassau« vom Stapel, im März 1909 der Schlachtkreuzer »Von der Tann«.

Mit dem Bau von Großkampfschiffen wurden die bisherigen Schlachtschiffe und Panzerkreuzer entwertet. Damit begann das deutsch-englische Flottenwettrüsten faktisch wieder beim Stande Null. Doch von vornherein hatte Deutschland wegen der mit dem »Dreadnought-Sprung« einhergehenden immensen Verteuerung des Schiffsbaus einerseits und seiner kostspieligen Heeresrüstung andererseits keine Aussicht, dem von Großbritannien vorgegebenen maritimen Rüstungstempo auf Dauer zu folgen. Gleichwohl widersetzten sich Tirpitz und jene Industriellen, die an der Flottenrüstung verdienten, ­jeglichem Versuch, das deutsch-britische Wettrüsten zu begrenzen. Über diese Interessenten schrieb der wohl informierte Hofmarschall Robert Graf von Zedlitz-Trützschler am 9. April 1909 in sein Tagebuch: »Neben den bekannten Enthusiasten sind bei uns gegen jede Rüstungsbeschränkung allerlei einflußreiche Leute; es wäre sehr interessant, einmal die mancherlei Beziehungen kennenzulernen, die zwischen Flottenfanatiker und Flottenerzeuger bestehen. Die Macht der Stahlkönige wiegt schwer, und die Sorge um ihr Geschäft, der Wunsch auf Haussestimmung an der Börse sind uns schon oft als nationale Sorge serviert worden.«

Aufteilung der Einflußzonen

Im Oktober 1908 löste die Regierung Österreich-Ungarns die Bosnische Krise aus. In Bosnien und der Herzegowina lebten vor allem Serben, slawische Muslime und Kroaten. Beide Provinzen unterstanden seit 1878 österreichischer Militär- und Verwaltungshoheit, gehörten aber formell noch zum Osmanischen Reich. Als die österreich-ungarische Regierung 1908 die Provinzen annektierte, rief das insbesondere in Serbien, das die Vereinigung aller südslawischen Völker in einem unabhängigen Staat anstrebte, große Erregung hervor. Die deutsche Reichsregierung zwang schließlich im März 1909 durch ein Ultimatum das hinter Serbien stehende Rußland, die ­Annexion anzuerkennen. Rußland hatte nachgeben müssen, weil seine Armee noch durch die Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg geschwächt war. Der deutsch-österreichische Machtblock hatte so einen Prestigeerfolg gegen die Triple-Entente errungen. Infolge der Bosnischen Krise spitzten sich insbesondere der deutsch-russische und der serbisch-österreichische Gegensatz stark zu. Das gedemütigte Rußland forcierte seine Rüstungsanstrengungen.

Unterdessen ging Frankreich daran, Marokko endgültig seinem Kolonialreich einzuverleiben. Im Mai 1911 besetzten französische Truppen die marokkanische Hauptstadt Fez. Die deutsche Reichsregierung entsandte daraufhin Anfang Juli das Kanonenboot »Panther« und den Kreuzer »Berlin« vor die marokkanische Hafenstadt Agadir. Der Initiator des »Panthersprungs«, Staatssekretär Alfred von Kiderlen-Wächter, strebte keine Annexionen in Marokko an. Er verfolgte vielmehr das Ziel, in Mittelafrika ein großes zusammenhängendes deutsches Kolonial­reich zu errichten. Er betrachtete Agadir als »Faustpfand«, um die französische Regierung zu zwingen, große Teile ihres mittelafrikanischen Kolonialbesitzes abzutreten. Die englische Regierung stellte sich sofort eindeutig auf die Seite Frankreichs. Das zwang die Reichsregierung zum Einlenken. Im November 1911 erkannte sie die französische Vorherrschaft über Marokko an. Frankreich trat dafür einen Teil seiner Kongo-Kolonie ab (275000 Quadratkilometer), der von tropischen Sümpfen bedeckt und von der Schlafkrankheit verseucht war (weshalb er »Schlafkongo« genannt wurde). Der hochgefährliche Vorstoß Kiderlens hatte damit nur eine magere Beute eingebracht.

Der »Panthersprung« führte zu einer weiteren Verschlechterung des deutsch-britischen Verhältnisses. Die Briten erhöhten bei ihrer Flottenrüstung das Bautempo, und in den folgenden Jahren verschob sich (…) das Kräfteverhältnis immer mehr zu ihren Gunsten. (…)

Im Oktober 1912 begannen die von Rußland dazu ermunterten Balkanstaaten Bulgarien, Serbien, Griechenland und Montenegro einen Krieg gegen das Osmanische Reich. In diesem ersten Balkankrieg ging es zum einen um die nationale Befreiung jener Balkanvölker, die noch unter türkischer Fremdherrschaft standen. Zugleich ging es um die ökonomischen und militärstrategischen Balkaninteressen der beiden Machtblöcke. Und es ging auch um eigensüchtige nationalistische Ziele, welche die herrschenden Kreise der Balkanstaaten verfolgten. Nachdem die Türkei besiegt worden war, setzte unter den Balkanstaaten ein räuberischer Länderschacher ein.

In dieser Situation rief Kaiser Wilhelm II. am 8. Dezember Generalstabschef Helmuth von Moltke, Admiral Tirpitz und weitere hohe Militärs zu sich. Wilhelm II. plädierte bei diesem »Kriegsrat« für einen sofortigen Krieg gegen Frankreich und Rußland. Moltke sekundierte seinem obersten Kriegsherrn und erklärte: »Ich halte einen Krieg für unvermeidlich und: je eher, desto besser«. Tirpitz jedoch betonte, die Flotte werde erst in eineinhalb Jahren kriegsbereit sein. Förmliche Beschlüsse faßte der »Kriegsrat« nicht. Er ließ aber erkennen, daß es unter seinen Teilnehmern eine hohe Kriegsbereitschaft gab, und er stellte die Weichen für weitere Aufrüstungsschritte sowie für eine forcierte ideologische Kriegsvorbereitung.

Im Juni und Juli 1913 besiegten Serbien, Griechenland und Rumänien sowie die Türkei im zweiten Balkankrieg gemeinsam Bulgarien. Die beiden Balkankriege waren ein Schritt auf dem Weg zum großen Krieg. Serbien zeigte sich mächtig erstarkt. Seitdem die Türkei fast völlig vom Balkan vertrieben war, betrachtete es Österreich-Ungarn als seinen Hauptgegner. Unter den Wiener Regierenden wuchs die Neigung, mit den Serben »abzurechnen«.

Seit 1913 erschienen in der deutschen Presse Aufsehen erregende Artikel, in denen es übereinstimmend hieß: Etwa im Jahre 1917 werde Rußland militärisch so sehr erstarkt sein, daß man mit einem russischen Angriff auf Deutschland rechnen müsse. Die Artikel gipfelten in der verschleierten Empfehlung, einer solchen Gefahr durch einen Präventivkrieg zuvorzukommen.

Die Veröffentlichungen bewirkten, daß sich in Deutschland eine antirussische Massenhysterie entwickelte. Auch Wilhelm II. glaubte mittlerweile fest an eine »slawische Gefahr«: »Ich als Militair hege nach allen meinen Nachrichten nicht den geringsten Zweifel, daß Rußland den Krieg systematisch gegen uns vorbereitet; und danach führe ich meine Politik.«

Während sich die deutsch-russischen Beziehungen verschärften, verbesserte sich das Verhältnis Deutschlands zu Großbritannien weiter. Im Frühjahr 1914 wurden die deutsch-britischen Verhandlungen über die Bagdadbahn erfolgreich abgeschlossen. Doch Bethmann und seine Mitarbeiter überschätzten die Bedeutung jener Vereinbarungen, die man mit Großbritannien erzielt hatte. Während der Julikrise 1914 sollte sich dann zeigen, daß im Hinblick auf die Einstellung der britischen Regierung gegenüber dem deutschen Kaiserreich das Flottenwettrüsten und die weltpolitische Rivalität viel schwerer wogen als die partielle Kooperation.

Pläne für den Angriff

Von der Überzeugung, ein Krieg sei unvermeidbar und stehe nahe bevor, ist es nur ein kleiner Schritt bis zu der Meinung, dann müsse man den Zeitpunkt des Krieges auch selbst bestimmen. Die seinerzeit von Fritz Fischer und Alfred Gasser sowie von DDR-Historikern wie Willibald Gutsche vertretene Ansicht, die deutsche Reichsregierung habe spätestens seit dem »Kriegsrat« vom 8. Dezember 1912 zielbewußt auf eine Auslösung eines großen Krieges hingearbeitet, war jedoch überzogen und wird heute nur noch von einigen wenigen Historikern vertreten. Es gab unter den Militärs, aber auch in den rechts­orientierten Verbänden wie dem Alldeutschen Verband, in den beiden konservativen Parteien und der Nationalliberalen Partei, Kräfte, die einen Präventivkrieg befürworteten, Reichskanzler Bethmann Hollweg selbst gehörte bis zur Julikrise jedoch noch nicht dazu.

Der Generalstabschef Alfred Graf von Schlieffen rechnete fest damit, daß Deutschland eines Tages einen Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und Rußland werde führen müssen. Er entwickelte für einen solchen Krieg einen Plan, der Ende 1905 seine endgültige Gestalt erhielt. Dieser Plan, den Schlieffen seinem Nachfolger, Helmuth von Moltke (dem Jüngeren) in handschriftlicher Form übergab, sah vor: Die Masse der deutschen Armee sollte völkerrechtswidrig überraschend durch die neutralen Länder Belgien, Holland und Luxemburg hindurch in Frankreich eindringen, bis nach Paris vorstoßen, um Paris herum nach Süden und Osten schwenken und die gesamte französische Armee in einer gigantischen Kesselschlacht vernichten. Der ganze Feldzug sollte nur sechs Wochen dauern. Der Plan war letztlich unrealistisch. Schlieffen unterschätzte die Kampfkraft der französischen Armee und überschätzte die möglichen Marschleistungen der deutschen Truppen. Der Plan war weder mit der deutschen Marineführung noch mit der Militärführung des verbündeten Österreich-Ungarn abgestimmt. (…)

Noch besaß das deutsche Kaiserreich auf einigen Gebieten einen Rüstungsvorsprung. Die deutsche Armee konnte schneller mobilisiert werden als die Armeen der Entente. Die deutsche schwere Artillerie des Feldheeres war stark überlegen. Sie verfügte 1914 bei Kriegsbeginn über 1369 Geschütze, während die Armeen Frankreichs, Rußlands und Englands zusammen 528 schwere Geschütze hatten. Die Realisierung der großen Rüstungsprogramme, welche in den Staaten der Entente liefen, mußte aber von 1915 an zwangsläufig das militärische Kräfteverhältnis immer stärker zuungunsten des deutsch-österreichischen Blocks verschieben. (…)

Das Zusammenwirken eines Bündels von Entwicklungen und Faktoren hat vor 1914 die Kriegsgefahr stetig erhöht und sollte schließlich den Krieg herbeiführen. Auf die Komplexität der Kriegsursachen (Rivalität der imperialistischen Großmächte, Streben mächtiger Kapitalgruppen nach Beherrschung des Weltmarkts, nach Rohstoffen und Anlagesphären, Wettrüsten, Versuche der Regierenden, von inneren Schwierigkeiten abzulenken) wies der Zeitgenosse Wladimir Lenin bereits im September 1914 in seinem Text »Der Krieg und die russische Sozialdemokratie« hin: »Der europäische Krieg, den die Regierungen und bürgerlichen Parteien aller Länder jahrzehntelang vorbereitet haben, ist ausgebrochen. Das Anwachsen der Rüstungen, die äußerste Zuspitzung des Kampfes um die Märkte in der Epoche des jüngsten, des imperialistischen Entwicklungsstadiums des Kapitalismus in den fortgeschrittenen Ländern, die dynastischen Interessen der rückständigsten, der osteuropäischen Monarchien mußten unvermeidlich zu diesem Krieg führen und haben zu ihm geführt. Territoriale Eroberungen und Unterjochung fremder Nationen, Ruinierung der konkurrierenden ­Nation, Plünderung ihrer Reichtümer, Ablenkung der Aufmerksamkeit der werktätigen Massen von den inneren politischen Krisen in Rußland, Deutschland, England und anderen Ländern, Entzweiung und nationalistische Verdummung der Arbeiter und Vernichtung ihrer Vorhut, um die revolutionäre Bewegung des Proletariats zu schwächen – das ist der einzige wirkliche Inhalt und Sinn, die wahre Bedeutung des gegenwärtigen Krieges.«

Gerd Fesser: Deutschland und der Erste Weltkrieg. PapyRossa Verlag, Köln 2014, 123 Seiten, 9,90 Euro

* Aus: junge Welt, Montag, 30. Dezember 2013


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