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"Feldpostbriefe widerlegen die Dolchstoßlegende"

Gespräch mit Jens Ebert. Über Soldatenbriefe aus dem Ersten Weltkrieg und was sie über "Augusterlebnis" und "Dolchstoß" erzählen


Dr. Jens Ebert, geboren 1959, ist Literaturwissenschaftler und Historiker, seit mehr als 20 Jahren mit dem Schwerpunkt Feldpostforschung. Studium in Berlin und Moskau. 1989 bis 2001 Lehrtätigkeit an Universitäten in Berlin, Rom und Nairobi. Seit 2002 arbeitet er als freier Publizist u.a. für den Deutschlandfunk, das Museum für Kommunikation Berlin und das Militärhistorische Museum Dresden. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Literatur-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Für sein eben im Wallstein-Verlag, Göttingen, erschienenes Buch »Vom Augusterlebnis zur Novemberrevolution. Briefe aus dem Weltkrieg 1914-1918« hat er aus einem Gesamtbestand von geschätzt einer Million in deutschen und österreichischen Archiven aufbewahrten Feldpostsendungen aus dem Ersten Weltkrieg 20000 Briefe und Postkarten durchgesehen.


Feldpost soll im Kalkül der Militärführung Stimmung und Kampfkraft der Soldaten heben. Welche Dimension hatte das im Ersten Weltkrieg?

Man geht davon aus, daß es im Deutschen Reich zirka 29 Milliarden Feldpostsendungen gab, einschließlich Rundbriefen von Fabriken an ihre Belegschaften, Vereinspost usw., aber auch Päckchen. Zum Vergleich: Im Zweiten Weltkrieg waren es rund 40 Milliarden Sendungen.

Die Reichspost hat sich sehr schnell auf diese Massen eingestellt. Schon Ende 1914 gingen 100 Waggons Post an die Front – täglich. Über 8000 Beamte und mehr als 13000 Hilfsbedienstete sorgten dafür, daß ein Brief kaum länger als eine Woche unterwegs war.

Rund 18 Milliarden Sendungen gingen von der Heimat an die Front, elf Milliarden in die umgekehrte Richtung. Ein echtes Manko der bisherigen Feldpostforschung ist, daß sie sich auf die Briefe von der Front konzentriert, also auf Briefe von Männern, obwohl die meisten von Frauen waren. Doch die wurden in der Regel nicht aufbewahrt.

Sich schriftlich seinen Angehörigen mitzuteilen, war ja für die meisten Soldaten etwas absolut Ungewohntes. Wie haben sie das gelöst?

Deutschland war erst im Jahr 1910 mehr oder weniger vollständig alphabetisiert, und das sieht man der Post deutlich an, schon an der abenteuerlichen Orthographie und Grammatik.

Deswegen wurden sehr viele Postkarten verschickt, sehr viel mehr als im Zweiten Weltkrieg. Pfiffige Unternehmer hatten schnell erkannt, daß da ein Riesenmarkt entstanden war. Vorne drauf war meistens ein patriotisches Motiv, und hinten konnte man eine kurze Notiz hinterlassen. In erster Linie waren das einfach Signale, daß man noch lebte und nicht verwundet war. Im Umgang mit diesem Medium war man noch sehr unbeholfen, teilweise wurden Sätze wie von einer Urlaubsreise übermittelt: »Viele Grüße aus Serbien sendet Euch Otto«, ebenso »Schöne Grüße von der Westfront« – als ob die dort Ferien gemacht hätten.

Erst später kommen größere und längere Briefe, natürlich meistens von Leuten mit besserer Schulbildung. Die zeigen sich dann fasziniert davon, zum ersten Mal in fremden Ländern zu sein, beschreiben, wie eine russische Hütte aussieht, oder legen Zeichnungen einer Kirche mit Zwiebelturm bei.

Bis heute wird kolportiert, daß ganz Deutschland im August 1914 euphorisch den Kriegsbeginn gefeiert habe. Das sollten auch in Zeitungen abgedruckte Briefe von Soldaten belegen. Inwiefern findet sich dieses »Augusterlebnis« tatsächlich in der Feldpost?

In den Briefen, die ich durchgesehen habe, kommt das nur zu einem sehr kleinen Teil vor.

Die Briefe, die damals in Zeitungen veröffentlicht wurden, halte ich größtenteils für zumindest »bearbeitet«. Entweder waren sie von den Autoren von vornherein für eine Veröffentlichung vorgesehen, oder, was ich für wahrscheinlich halte, sie waren bestellt. Etliche dieser Briefe sind sehr lang, dabei aber auffallend informativ und geschliffen formuliert.

Der berühmteste Sammelband mit Feldpost erschien schon 1915 vom Freiburger Professor Philipp Witkop unter dem Titel »Kriegsbriefe deutscher Studenten«. Er behauptete, man habe ihm fast 20000 Briefe zur Verfügung gestellt, aber bis heute ist nicht geklärt, wo die eigentlich verblieben sind. Es gibt in keinem Archiv auch nur eine Spur davon. Ich will nicht bezweifeln, daß es solche Briefe gegeben hat, aber sie sind keinesfalls repräsentativ. Tatsache ist, daß sie vom Stil her immer sehr korrekt und wohlformuliert sind, manche fast literarisch, so daß man davon ausgehen kann, daß auch sie bearbeitet wurden.

Die Soldaten bekamen also quasi Modelle präsentiert, bevor sie eigene Feldpostbriefe schrieben. Etliche wollten dahinter nicht zurückstehen und kopierten diesen Stil. Weil ja das Mädchen zu Hause solche Briefe erwartete, wie sie in der Gartenlaube standen. Dennoch spricht zwar viel Erregung, aber kaum Euphorie aus diesen Briefen, gemischt mit Ängsten und Sorgen, die burschikos überspielt werden.

Welchen Rückschluß ziehen Sie daraus für das »Augusterlebnis«?

Daß es in der überlieferten Form überhaupt nicht stattgefunden hat. Natürlich gab es 1914 Formen dieser Euphorie, insbesondere in den Großstädten und in Berlin, aber das ging hauptsächlich vom Bildungsbürgertum aus.

Das wird deutlich, wenn man sich den Weg ansieht, den diese euphorischen Massen am 1. August 1914 genommen haben: Der Umzug kam aus der Wilhelmstraße, wo die Ministerien waren, also die Staatsangestellten. An der Staatsbibliothek Unter den Linden schloß sich das Bildungsbürgertum an, danach wurden an der damaligen Kaiser-Wilhelm-Universität, der heutigen Humboldt-Uni, die Studenten mitgenommen und dann ging es zum Schloß. Aber aus der nördlichen Richtung, vom Alexanderplatz her, wo die Arbeiter wohnten, gab es keinen Umzug.

Für das gemeine Volk hat es dieses »Augusterlebnis« so nicht gegeben, wie es uns Geschichtsbücher bis heute nahelegen wollen. Das betraf nur eine Minderheit aus zumeist Professoren, Lehrern und Beamten. Die allerdings konnten bestimmen, was in den Zeitungen stand. Der spontane Umzug dieser Minderheit in Berlin wurde im ganzen Reich nachgeholt, aber eben nicht mehr spontan, sondern organisiert. Wenn es dann noch Freibier gab und ein Orchester spielte, hatte man schnell fröhliche Massen beisammen, die aber nicht unbedingt den Kriegsbeginn feierten.

Eine Kriegsgegnerschaft wird da vermutlich auch nicht sichtbar …

Nein, die meisten Soldaten haben die Behauptung, der Krieg sei ein aufgezwungener Verteidigungskrieg, akzeptiert. Sie waren ja in der Regel staats- und kaisertreu. Und insbesondere der russische Zarismus galt auch unter sozialdemokratischen Arbeitern als besonders reaktionär und brutal. Schon in der Vorkriegszeit, als die SPD den Krieg noch abgelehnt hatte, gab es immer einen gewissen Vorbehalt: Gegen den Zaren könnte man bei einem Krieg schon mitmachen, um die russischen Brüder zu befreien. Dabei hat natürlich niemand die Dimensionen dieses Krieges auch nur geahnt. Die meisten Soldaten gingen hinein mit völlig romantisierten Vorstellungen, wie sie aus der Zeit der Befreiungskriege 100 Jahre zuvor überliefert waren.

Dann muß die Realität des Krieges ja ein großer Schock gewesen sein. Inwiefern spiegelt sich das in den Briefen wider?

Das spiegelt sich relativ schnell wider, als der Vormarsch stockt und in den Stellungskrieg übergeht, und es massenhaft Tote gibt. 1915 wird der Masse der Soldaten klar, daß der Krieg nicht so ist wie in den veröffentlichten Feldpostbriefen dargestellt.

Ich war ganz erstaunt, wie sehr sich die Feldpost in manchen Bereichen von der aus dem Zweiten Weltkrieg unterscheidet. Die Soldaten des Ersten Weltkrieges beschreiben viel ausführlicher, wie furchtbar es ist, wenn sie unter Trommelfeuer liegen, sie beschreiben die schlechte Versorgungslage. Sie schreiben offen, daß rund um ihren Platz im Schützengraben noch die Toten vom letzten Angriff liegen. Solche Sachen werden im Zweiten Weltkrieg viel weniger beschrieben.

Natürlich stößt man da wieder auf das Problem, daß viele Soldaten es nicht gewohnt waren, darüber zu schreiben, was sie erlebten und was sie empfanden. Es fehlten ihnen wirklich die Worte, deswegen finden sich immer wieder Floskeln, wie aus der Zeitung übernommen. Aber diejenigen, die versuchen, sich auszudrücken, beschreiben doch sehr offen, wie es ihnen geht und was sie erleben. Nur ein Tabu gab es schon 1914: wie man selbst getötet hat.

Im Zweiten Weltkrieg wurden Soldaten bei »defätistischen« Äußerungen hingerichtet. Welche Rolle spielt die Postzensur im Ersten Weltkrieg?

Bei Beginn des Weltkrieges gab es in Deutschland keinerlei Postzensur. Es wurden zwar sofort der Belagerungszustand verhängt, die Versammlungsfreiheit und Pressefreiheit eingeschränkt, aber das Postgeheimnis galt weiter. Anders als etwa in Österreich, wo das gesamte Postwesen schon eine Woche vor Kriegsbeginn dem Militär unterstellt wurde.

In Deutschland gab es zunächst nur eine taktische Postkontrolle aus militärischen Gründen, etwa vor einer Offensive. Dann hat der Kompaniechef Kontrollen angekündigt oder gleich eine Postsperre verhängt.

Im April 1916 ist dann die Zensur einheitlich geregelt worden. Geöffnete Briefe wurden gestempelt, kritische Stellen geschwärzt. Allerdings war die Zensur auf die Massen an Post gar nicht vorbereitet, so daß sie von den Briefeschreibern nicht als Problem angesehen wurde.

Übrigens ist die Post von der Heimat an die Front nie zensiert worden. Die Soldaten erfuhren ungeschminkt, wie dramatisch die Situation zu Hause war. Die medizinische Versorgung, vor allem aber die Lebensmittelversorgung hatte sich ja ab 1915 extrem verschlechtert. Man geht heute davon aus, daß es kriegsbedingt 800000 Tote in der Heimat gab, das sind mehr als im Zweiten Weltkrieg an Bombenopfern. Und das teilten die Frauen auch mit: Daß sie zehn Stunden arbeiten müssen, danach anstehen, weil es kaum Lebensmittel gab, anschließend die Kinder versorgen, die trotz aller Mühen unterernährt sind und Mängelerscheinungen zeigen.

Das hat die Soldaten natürlich stark beunruhigt. Sie mußten sich fragen, welchen Sinn der Krieg hat, wenn im Ergebnis in der Heimat gehungert wird.

Der Burgfrieden begann spätestens ab 1916 brüchig zu werden, und die Sozialdemokratie steuerte auf ihre Spaltung zu. Spielt das bei den Briefen der Arbeiter im Felde eine Rolle?

Das kann ich nicht feststellen. Es gab generell wenig Äußerungen über die großen politischen Themen. Das hat sicher damit zu tun, daß sich die Masse der Soldaten solchen Fragen nicht gewachsen fühlte.

Eine Ausnahme stellen allerdings Soldaten dar, bei denen man den Einfluß der Arbeiterbildungsvereine merkt, die politisch wach waren und auch gut schreiben konnten. Es gibt einige wenige Sammlungen von Briefen linkssozialdemokratischer Soldaten, die sich an der Front untereinander vernetzten. Da werden der Krieg selbst bzw. seine Hintergründe reflektiert. Diese Soldaten hatten häufig auch gebildete Frauen, was damals ebenfalls die Ausnahme war. Hier ist auch ein anderes Frauenbild spürbar, bei dem die Frauen als gleichberechtigte Partnerinnen angesprochen werden.

Eine geläufige Vorstellung vom Ersten Weltkrieg besteht darin, daß Soldaten »heroisch« gegen den immer gleichen feindlichen Hügel anrennen, ungeschützt dem MG-Feuer preisgegeben. Inwiefern werden solche schon damals anachronistischen Taktiken in den Briefen angesprochen?

Generell geht es nur selten um militärische Fragen. Man tat, was man befohlen bekam, ohne Strategie und Taktik in Frage zu stellen. Das liegt auch daran, daß die Soldaten fast nur die Froschperspektive einnehmen konnten. Die hatten nie eine Vorstellung, in welchen größeren Zusammenhängen sie da eigentlich kämpften. Die bekamen immer nur den Schützengraben gegenüber serviert. Teilweise wußten sie nicht mal, welche Kompanien wenige hundert Meter von ihnen entfernt lagen, und schrieben nach Hause mit der Bitte, man möge ihnen mal Informationen schicken, was an ihrem Frontabschnitt eigentlich los ist.

Was man merkt, ist die wachsende Abstumpfung. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr Briefe wurden zwar geschrieben, aber immer weniger stand drin. Sie werden immer oberflächlicher. Man hat den Eindruck, daß über das Furchtbare, oder auch das Patriotische, was auch immer für erzählenswert gehalten wurde, schon alles gesagt ist. Auch die Beschreibungen von erlebten Grausamkeiten werden weniger, weil man wohl davon ausging, auch das sei inzwischen bekannt.

Man schrieb über Alltäglichkeiten aus der Heimat. Die Soldaten wollten wissen, welche Gegenstände neu angeschafft wurden, ob der Hengst noch lahmt und was die Rüben machen. Das war ein Versuch, ihre Rolle als Familienoberhaupt aufrechtzuerhalten, die faktisch schon längst die Frauen eingenommen hatten. Das ist auch psychologisch zu erklären, man flieht aus dem Krieg in solche Illusionsräume, wenigstens per Brief.

Das klingt so, als hätte man den Briefen auch bei vollständiger Postzensur nicht entnehmen können, daß im Herbst 1918 ein Soldatenstreik oder gar eine Revolution bevorstand.

Nein, das hätte man nicht sehen können. Aber ab 1917/18 hätte man sehen können, daß die Soldaten immer müder werden. Man merkt den Briefen an, daß sie wirklich nicht mehr können, weder physisch noch psychisch. »Ich sitze hier, und alles ist Mist«, ist das Motto. Die Soldaten sind ausgelaugt, aber daß sich daraus ein revolutionärer Impetus entwickeln würde, wird nicht sichtbar.

Das mag auch daran liegen, daß sich im November 1918 die Ereignisse überschlugen, und es war ja revolutionären Soldaten auch klar, daß sie umstürzlerische Haltungen oder Absichten nicht über die normale Feldpost austauschen konnten. Dafür mußten sie andere Kommunikationswege finden.

Nach dem Krieg haben nationalistische Kreise die »Dolchstoßlegende« in Umlauf gesetzt, derzufolge verräterische Linke in der Heimat einer angeblich kampffähigen Front in den Rücken gefallen seien. Was sagen die Soldatenbriefe darüber?

Den Briefen ist ganz deutlich zu entnehmen: Einen solchen Dolchstoß hat es nicht gegeben. Es gab eine schleichende Auflösung der Westfront bis hin zu einem regelrechten Zusammenbruch. Ein Weiterkämpfen wäre mit diesen Soldaten gar nicht möglich gewesen. Jedenfalls im Westen, im Osten führten die Freikorps den Krieg ja noch weiter, vor allem im Baltikum.

Sie haben eingangs die Effektivität angesprochen, mit der die Feldpost behandelt wurde. Galt das auch für die Post von Kriegsgefangenen?

Seit Anfang 1915 konnten Briefe von Kriegsgefangenen über die Schweiz, Schweden oder die Niederlande ausgetauscht werden, und alle kriegführenden Staaten haben diese Post mit viel Sorgfalt behandelt. In Berlin hat man extra Leute eingestellt, die das kyrillische Alphabet konnten, um die Adressen zu transkribieren, und natürlich wurden diese Briefe auch kontrolliert und geschwärzt.

In einem Band, den das Reichspostministerium nach dem Krieg herausgab, werden einige Probleme beschrieben, etwa daß jeder zweite russische Kriegsgefangene Iwanow hieß und jeder vierte Franzose Dubois. Aber trotzdem haben sie fast immer rausgekriegt, wer gemeint war.

Auf der russischen Seite war es ähnlich. Eigentlich durften die deutschen Gefangengenen dort nicht in Sütterlin schreiben, sondern sollten lateinische Buchstaben verwenden, aber die Russen haben das oftmals toleriert und Wolgadeutsche in die Zensurstellen gesetzt, die das lesen konnten.

Eine Postkarte, die ein deutscher Kriegsgefangener im russischen Ufa 1916 losschickte, kam nach dreieinhalb Wochen in Brandenburg an. Schreiben Sie heute mal eine Postkarte aus dem Südural und warten, bis die hier ist.

Es gibt leider bis heute keine eingehende Untersuchung der Briefe von Kriegsgefangenen. Diese Briefe bezeugen, wie viel angenehmer es war, in britischer Kriegsgefangenschaft zu sitzen als an der Westfront im Schlamm ohne etwas zu essen. Selbst in Rußland waren die deutschen Kriegsgefangenen teilweise besser versorgt als die russischen in Deutschland. Deswegen gab es mehr Freßpakete von Russen an russische Kriegsgefangene in Deutschland als umgekehrt. In Deutschland gab es nach dem Ersten Weltkrieg allerdings keinerlei Interesse daran, das zu popularisieren.

Die tiefe Gegnerschaft deutscher Arbeiter gegen den russischen Zarismus hatten Sie schon angesprochen. Wie wurden die russischen Soldaten in der deutschen Feldpost beschrieben?

Ab 1916 häufen sich die Berichte, daß die russischen Soldaten den Krieg nicht mehr führen wollen und daß die Deutschen nicht mehr richtig auf sie schießen. »Die wollen ja auch gar nicht mehr; wir schießen in die Luft und die Russen auch«, solche Schilderungen gibt es. Im Osten waren die Schützengräben nicht so ausgebaut wie im Westen, es gab viel mehr Kontakte, auch schon vor den berühmten Verbrüderungsszenen 1917. Die Russen kamen und holten sich etwas zu trinken, weil es bei ihnen keinen Alkohol gab. Die Deutschen sahen in ihnen arme Schweine, die nach Hause wollten, und hofften selbst, daß endlich Frieden geschlossen werde.

»Den Russen« als Feindbild gibt es im Ersten Weltkrieg noch nicht. Die deutschen Soldaten erkennen an, daß auch ihr Gegner für sein Vaterland kämpft. Das hindert sie nicht daran, sich totzuschießen, aber sie wußten, daß sie doch Gemeinsamkeiten mit ihrem Gegner hatten, daß der ein ähnliches Los teilt wie man selbst. In den deutschen Feldpostbriefen erscheint der Gegner, ob es jetzt ein Russe oder Franzose ist, immer noch als jemand, der gewissermaßen auch der Nachbar oder der Bruder sein könnte. Selbst nationalistische oder chauvinistische Briefeschreiber sehen immer noch den Menschen in ihrem Gegner. Im Zweiten Weltkrieg ist das jedenfalls teilweise nicht mehr der Fall, da wird von Ungeziefer oder Untermenschen gesprochen.

Interview: Frank Brendle

* Aus: junge Welt, Samstag, 17. Mai 2014


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