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Nicht nur Schall und Rausch

Die Sprache der Begriffe und Bilder vom Ersten Weltkrieg

Von Kurt Pätzold *

Der Begriff »Weltkrieg« ist keine nachträgliche Kennzeichnung für jenen Krieg, der am 28. Juli 1914 mit dem Angriff der K. u. K-Monarchie gegen das Königreich Serbien begann, sich dann durch den Kriegseintritt der britischen Dominien Australien und Kanada, Japans und des Osmanischen Reiches noch 1914 und der USA 1917 von einem europäischen zu einem erdballweiten Krieg ausweitete.

Das Wort »Weltkrieg« wurde warnend bereits mehr als ein Vierteljahrhundert vor dessen Beginn und von nach ihrer Gesinnung und ihrer Rolle in der Geschichte so verschiedenen Männern wie Friedrich Engels und Helmuth Graf von Moltke, dem vormaligen Generalstabchef der preußisch-deutschen Armeen, benutzt. Ersterer sah 1887 eine Entwicklung der Staaten in Gang gesetzt, die einem solchen Krieg entgegen trieb und beschrieb eindringlich dessen Folgen. Letzter sprach neunzigjährig, 1890, davon in einer Rede im Deutschen Reichstag, in der er sich gegen die Illusion wandte, es werde ein solcher Waffengang kurz sein und nach wenigen Feldzügen einen Sieger haben. Weder der eine noch der andere hatte den Begriff geprägt. Er lässt sich vordem schon mit Bezug auf ältere Kriege antreffen. Die erste Verwendung weist das Grimmsche Wörterbuch für das Jahr 1599 aus.

Weltkrieg – der Name setzte sich in der deutschen Sprache fest für einen Krieg, der nach geografischer Ausdehnung, Zahl der teilnehmenden Staaten, Menschen- und Tieropfern, materiellem und finanziellem Aufwand, Verwüstungen von Ort- und Landschaften sowie der Dauer seiner Folgen bis dahin ohne Beispiel war. Bei dieser einen Kennzeichnung ist es nicht geblieben. Bald schon wurden weitere Begriffe und Bilder in Umlauf gebracht. Die einen versuchen eine Bestimmung des historischen Ortes des Krieges im 20. Jahrhundert. Heute häufig gebrauchte lauten »Urkatastrophe« und »zweiter Dreißigjähriger Krieg«. Beide stellen eine Verbindung vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg her.

Andere wollen den geschichtlichen Einschnitt erfassen, den dieser Große Krieg bezeichnet. Dazu zählen die Kennzeichnungen »Epochenumbruch«, »Ende der belle epoque« und »Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters« sowie Metaphern wie »In Europa gingen die Lichter aus« oder »Sprung ins Dunkle«. Wieder andere beziehen sich auf die Entstehung des Krieges. Das tun Bilder von Politikern, die schlitternd, taumelnd oder schlafwandelnd aus dem Frieden in den Krieg gerieten. So gewiss wie derlei in der Originalitätssucht ihrer »Erfinder« wurzelt, so unstrittig ist, dass stetiges Suchen nach neuen Begriffen auch stärkere gedankliche Anregungen vermitteln soll. Was aber ist gewonnen? Ein tieferes Verständnis des Geschehens? Oder verstellen manche Bilder nicht eher die Wirklichkeit? Lenken sie vom Hauptsächlichen auf Nebensächliches ab?

Die Diagnose Somnambulismus führt jedenfalls von der quellenbezeugten Tatsache weg, dass der Krieg als Möglichkeit fest in Köpfen von Politikern existierte, Ziele zu erreichen, an die sie vermeintlich nicht anders kämen. Das war der »deutsche Fall«, beschrieben als ein Verlangen »nach dem Platz an der Sonne«. Der Zweck, die Kriegsschuld des deutschen Kaiserreiches und seiner politischen und militärischen Elite zu leugnen, war hiermit also schon vor den neumodischen Bildern von den in den Krieg Schlitterern oder Taumelnden erfüllt.

Wie aber steht es mit der viel gebrauchten »Urkatastrophe«? Dem Denken und Fühlen von Millionen Angehöriger vieler Nationen hatte sich dieser Krieg, der ihnen den Verlust naher und nächster Menschen, von Habe, Heimat und Zukunftsplänen brachte, als Katastrophe eingeprägt. Katastrophen werden im Alltag Ereignisse genannt wie Erd- und Seebeben, Vulkanausbrüche, Erdrutsche, sintflutartige Unwetter mit Überschwemmungen, Dürreperioden, Einschläge von Himmelskörpern. Sie entstehen ohne menschliches Zutun und wider menschliches Wünschen und Wollen. Die Betroffenen sind ihnen ausgeliefert. Es ist die Nähe zu dieser dominierenden Verwendung, welche die bloße Kennzeichnung eines Krieges als Katastrophe fragwürdig macht.

Dieser Krieg – wie andere vor und nach ihm – war Menschenwerk und dies auf andere Weise als jene Katastrophen im zivilen Leben, an denen auch Personen beteiligt sind, also Unglücke als Folge fehlerhafter Konstruktionen wie Zusammenstürze von Gebäuden und Brücken, Unfälle zu Lande, in der Luft, auf See oder unter Tage. Auch sie sind Folgen von Menschenwerk, aber ungewollte Resultate. Niemand war an ihnen interessiert. Das gilt hingegen für Kriege nicht und namentlich nicht für den Krieg, der 1914 begann. Ihm gingen Absichten voraus und begleiteten ihn.

Dem Wort Urkatastrophe macht neuerdings verstärkt die Wendung vom »zweiten Dreißigjährigen Krieg« Konkurrenz, die einen zeitlichen Bogen von 1914 bis 1944/45 schlägt. Mit ihr wird eine Verbindung zwischen den beiden Weltkriegen hergestellt, freilich ohne über deren Wesen etwas zu sagen. Ist aber die Bezeichnung der Jahre zwischen 1919 und 1938 als Kriegszeit gerechtfertigt? Sind die begrenzten Kriege, die in den zwei Jahrzehnten stattfanden, als Fortdauer dieses einen anzusehen? Lässt sich das für den polnisch-sowjetrussischen Krieg von 1920 sagen? Für die Eroberung Äthiopiens durch Italien 1935? Für Japans Krieg auf dem asiatischen Kontinent? Und wie steht es mit der Beziehung der Bürgerkriege in Russland und in Spanien zum Ersten Weltkrieg?

Das Bild vom »zweiten Dreißigjährigen Krieg« macht – gewollt oder nicht – die deutschen Faschisten zu Fortsetzern eines Krieges, den »andere« begannen und den sie nun weiterführten. In Wahrheit verfolgten sie jedoch vom Beginn ihrer Herrschaft an ihren eigenen Plan, einen Krieg um der Ziele willen zu beginnen, die 1914 verfehlt wurden und die sie partiell veränderten, aber noch weiter steckten: im Osten bis zum Ural und Kaukasus. Zwischen den beiden Kriegen hatte der »alte« Kontinent, bevor das Geschehen 1933 die Situation grundlegend zu verändern begann, Schritte hin zu einer Friedensordnung gemacht, zwar inkonsequent, halbherzig und nicht von nachhaltiger Wirkung. Auch deshalb lassen sich die zwei Jahrzehnte nicht als Fortdauer des Krieges ansehen. Der Begriff ebnet also eine Entwicklung ein, die durch Kontinuität und Diskontinuität gekennzeichnet war.

Zu den Bestimmungen, die dem Ersten Weltkrieg jüngst wiederholt gegeben werden, gehört »Zivilisationsbruch«. Vordem war dieser von Historikern auf die faschistische Diktatur in Deutschland gemünzt. Vor allem gelten Auschwitz und der Massenmord an den europäischen Juden als furchtbarster Ausdruck dieses Bruchs. Indes, die ausgeweitete Verwendung dieses Begriffs entbehrt nicht jeder Berechtigung:

Der Erste Weltkrieg hat in das gewalttätige Gegeneinander von Völkern und Staaten nicht nur auf Schlachtfeldern Neuerungen eingeführt, die auch als moderne Barbarei bezeichnet wurden. Zehn- und sogar Hunderttausend Tote hatte es in Kriegen vordem schon gegeben. An den drei Tagen der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 waren geschätzt 100 000 Männer umgekommen. Und kein Krieg, der nicht auch Grausamkeiten hervorbrachte. Was aber seit 1914 geschah, war von anderer Qualität: Der massenhafte Einsatz von Maschinengewehren, die Verwendung von Artilleriemunition, die entsetzliche Verletzungen hervorrief und Menschen in Massen zu Krüppeln machte, der Einsatz von Giftgasen, die zu Erblindungen und qualvollen Erstickungstoden führte, die Bombenabwürfe aus Zeppelinen und Flugzeugen auf Zivilisten weit hinter den Fronten und fern kriegswichtiger Anlagen, die Deportation von Menschen aus eroberten Gebieten zur Zwangsarbeit, die Praxis der verbrannten Erde bei Rückzügen, das Verhungernlassen von Kriegsgefangenen, die Morde an Zivilisten, die als »Geiseln« genommen worden waren ...

Selbst die nur einen Teil dessen erlebten, nur Bruchstücke an Wissen vom Ganzen besaßen, waren in das Gefühl gestürzt, dass hier eine Welt, ihre Welt unterging, in der sie im Glauben an deren Dauerhaftigkeit gelebt hatten. Was ihnen als Zivilisation galt, existierte nicht mehr. Ein dahin Zurück gab es nicht. Insofern drückt der Begriff vom »Zivilisationsbruch« einen Wandel adäquat aus, doch nur, wenn er nicht mit Verallgemeinerungen verbunden wird, mit denen die Vorkriegsgesellschaft zur belle epoque erklärt und verklärt, verfehlt und verschönt wird. Zudem: Die Verluste trafen die Schichten der Gesellschaft sehr unterschiedlich. Weite Teile der Arbeiterklasse waren vor dem August 1914 erst noch dabei, sich ihren Anteil an der Zivilisation zu erkämpfen – und hatten dies in Deutschland nach dem November 1918 fortzusetzen.

Was immer sich den Begriffen »Urkatastrophe«, »zweiter Dreißigjähriger Krieg« und »Zivilisationsbruch« an Gedankenanstößen abgewinnen lässt – ihnen haftet ein schwerwiegender Mangel an. Sie sagen nichts über den Charakter des Weltkrieges und stechen damit von Kennzeichnungen wie Befreiungs-, Unabhängigkeits-, Bürger- oder Religionskrieg ab. Das leistete indessen eine Charakteristik, die auch keine nachträgliche Schöpfung ist, sondern bereits aufkam, als sich das Kommende erst abzeichnete. Diese treffende Bezeichnungen lautete und lautet »imperialistischer Krieg«. Sie war und ist unmittelbar eine Entgegensetzung zur Lüge vom »Verteidigungskrieg«, mit der Millionen Deutsche und andere Nationen zu den Waffen gerufen wurden, im Glauben, es gelte ihre Familien, ihre Heimat, ihr Vaterland, ihre Kultur vor den Feinden zu schützen, die das eigene Land nicht »hochkommen« lassen wollten, es eingekreist hätten oder ihm seine Erfolge neideten. Diese treffende Charakteristik ist weitgehend in Vergessenheit gebracht worden. Und so erfüllen die hier diskutierten Begriffe – unabhängig davon, ob ihre Benutzer das beabsichtigen oder nicht – eine Art Verdrängungsfunktion. Von den Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft und deren Ausgeburten soll offenbar auch hundert Jahre danach keine Rede sein.

[Vom Berliner Geschichtsprofessor Kurt Pätzold erschienen kürzlich die Bücher »1914 – Das Ereignis und sein Nachleben«, »Kriegerdenkmale in Deutschland. Eine kritische Untersuchung« und »Kein Streit um des Führers Bart«.]

* Aus: neues deutschland, Samstag, 26. Juli 2014


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