Widerstand nicht nur auf dem Dienstweg
Kriegsforschung und Zivilklauseln an deutschen Hochschulen und Instituten - Anregungen für Studierende und Friedensgruppen
Von Peter Strutynski *
Im Vorfeld des Atombombenabwurfs über die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki gab es Versuche, diese Tragödie zu verhindern. Zahlreiche Wissenschaftler des US-Atomprogramms unterzeichneten im Juli 1945 eine Petition an den US-Präsidenten Harry S. Truman, worin sie ihn bitten, die geplante Bombardierung doch noch einmal zu überdenken. Die von den Forscherinnen und Forschern des „Manhattan-Projekts“ entwickelte Atomwaffe wurde als Mittel zur „gnadenlosen Vernichtung von Städten“ beschrieben. Die Wissenschaftler wussten, wovon sie sprachen. Angeregt und entworfen hatte die Petition der Ungarn-stämmige Atomwissenschaftler Leo Szilard. Ihm und den Unterzeichnern war vollkommen klar, dass mit dem Einsatz der Atombombe in der letzten Phase des Zweiten Weltkriegs eine Entwicklung eingeleitet würde, die in eine Ära der „Verwüstung in einem unvorstellbaren Ausmaß“ münden würde. Es gebe danach kaum noch eine Schranke in der Entwicklung der „zerstörerischen Kräfte“, die am Ende dieses Weges zur Verfügung stünden. Szilard war von den Mitunterzeichnern der Petition gebeten worden, den Brief „auf dem Dienstweg“ an Truman zu leiten. Das stellte sich als schwerwiegender Fehler heraus – die Petition überstand nämlich den Dienstweg nicht, sondern verfing sich im Gestrüpp intriganter Befürworter der Bombardierung. Ob Präsident Truman, hätte er von der Petition Kenntnis erlangt, sich hätte umstimmen lassen, kann bezweifelt werden. Dass aber der Versuch, ihn überhaupt zu erreichen, fehlschlug, zeigt, dass beim Widerstand gegen menschenverachtende Projekte die Einhaltung des normalen Behördenwegs nicht ausreicht.
Im Rahmen der Zivilklausel-Bewegung ist hinlänglich deutlich geworden, wie schwierig es an einzelnen Universitäten sein kann, rüstungs- und damit kriegsrelevante Forschungsvorhaben aufzudecken und verlässliche Informationen über den Charakter entsprechender Projekte zu erhalten. Hochschulleitungen, die um Auskunft gebeten werden, tendieren wohl zunächst dazu, Militär- und Rüstungsforschung an ihren Einrichtungen zu ignorieren oder, wenn das nicht mehr geht, herunterzuspielen. Diese Haltung ist verständlich, weil man sich keinen Ärger einhandeln möchte; sie ist aber auch insoweit "sympathisch", als aus ihr auf ein schlechtes Gewissen der Verantwortlichen geschlossen werden kann: Man weiß um oder ahnt zumindest die Anrüchigkeit, vielleicht sogar die Gefährlichkeit und Menschenunverträglichkeit solcher Forschung.
Ein Zweites kommt hinzu: In den Fällen, wo sich Rüstungsforschung nicht mehr leugnen lässt, suchen Uni-Präsidien und Wissenschaftsministerien häufig Zuflucht in der grundgesetzlich garantierten Freiheit von Forschung und Lehre. Sie sei ein hohes Gut, das es unter allen Umständen zu verteidigen gälte. Militärforscher/innen berufen sich bei ihrem Tun ja auch auf das Grundgesetz, in dessen Artikel 5 die Freiheit von Forschung und Lehre verankert ist. Und das vollkommen zu Recht, war doch auch eine Lehre aus der unheilvollen deutschen Geschichte, dass eine Indienstnahme wissenschaftlichen Geistes durch ein antihumanes, verbrecherisches Regime, wie es der Nationalsozialismus darstellte, ein für alle Mal ausgeschlossen werden müsse. Nur: Die Freiheit von Forschung und Lehre ist nicht grenzenlos. In Art. 5 Abs. 3, Satz 2 heißt es daher auch:
„Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“
Was heißt das? Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem „Hochschulurteil“ aus dem Jahr 1973 zur Interpretation dieses Artikels festgestellt, dass damit eine „wertentscheidende Grundsatznorm aufgestellt“ worden sei (BVerfGE 35, 79). Wissenschaft sei zu einem „von staatlicher Fremdbestimmung freien Bereich persönlicher und autonomer Verantwortung des einzelnen Wissenschaftlers erklärt“ worden. Diese Verantwortung, so möchte ich hinzufügen, ist – ähnlich wie das normative Grundgesetz selbst – nicht beliebig, sondern an den Werten und Normen einer demokratischen, sozialen und rechtsstaatlichen Gesellschaft orientiert.
Eine solche Orientierung impliziert die Bindung an einschlägige Verpflichtungen, die Deutschland im Inneren und gegenüber dem Ausland eingegangen ist. Ein entscheidendes, in der öffentlichen Debatte weithin vernachlässigtes Dokument ist der Zwei plus Vier-Vertrag vom 12. September 1990, der den Beitritt der DDR zur BRD regelte und damit die Einheit Deutschlands besiegelte. In diesem Vertrag werden (Artikel 1, Ziff. 1) die deutschen Grenzen festgeschrieben, wie sie aus dem Zweiten Weltkrieg resultierten. Ausdrücklich wird festgestellt: Das
„vereinte Deutschland hat keinerlei Gebietsanspruche gegen andere Staaten und wird solche auch in Zukunft nicht erheben.“ (Art. 1, Ziff. 3). Deutschland wurde außerdem darauf verpflichtet, dass es
„auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen“ verzichtet (Art. 3) und dass die Personalstärke seiner Armee einen bestimmten Umfang nicht überschreitet (ebd.).
Und schließlich enthält der 2+4-Vertrag eine ultimative Friedensformel, die ich hier vollständig zitieren möchte. Im Artikel 2 heißt es:
„Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihre Erklärungen, dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird. Nach der Verfassung des vereinten Deutschland sind Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, verfassungswidrig und strafbar. Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik erklären, dass das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen.“
Mit diesen Formulierungen, die sich wörtlich sehr eng an den Art. 26 des Grundgesetzes anlehnen, ist für alle kommenden Zeiten eine Friedenspflicht Deutschlands festgeschrieben. Und hier wie auch im Artikel 25 des Grundgesetzes wird zum Ausdruck gebracht, dass die Regeln des Völkerrechts Vorrang vor allem anderen haben. In Art. 25 GG heißt es:
„Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.“
Es lohnt also noch ein Blick in die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“, an die sich Deutschland als Staat, aber eben auch alle seine Einrichtungen sowie Bürgerinnen und Bürger zu halten haben. So ist daran zu erinnern, dass die Staatenwelt aus den beiden verheerenden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts eine entscheidende Lehre gezogen hat: Krieg darf nicht mehr sein. Die Vereinten Nationen haben in ihrer Charta von 1945 den Staaten ein verpflichtendes Gewaltverbot auferlegt. Ich möchte daraus die zentralen Ziffern 3 und 4 aus Artikel 2 zitieren:
„3. Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.
4. Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“
Vom diesem strikten Gewaltverbot gibt es lediglich zwei Ausnahmen:
- Jeder Staat darf sich gegen eine militärische Aggression zur Wehr setzen (Verteidigungsrecht nach Art. 51). Doch selbst diesem Verteidigungsrecht sind Grenzen gesetzt, es gilt nach Art. 51 nur so lange, „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“.
- Im Falle einer "Bedrohung" oder eines "Bruchs des Friedens", kann der UN-Sicherheitsrat Maßnahmen gegen einzelne Staaten ergreifen: Von Sanktionen bis hin zu militärischen Maßnahmen (Kapitel VII: Art. 39 bis 42). Die Maßnahmen müssen geeignet sein, "den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren oder wiederherzustellen".
Nimmt man also die Freiheit der Wissenschaft ernst, dann kann damit nur gemeint sein, in Lehre und Forschung sich für den Frieden und das solidarische Miteinander von Menschen und Nationen einzusetzen. Dies schließt ein die Ablehnung jeglicher Mitarbeit an Forschung und Entwicklung für militärische „Hardware“ (Waffen und sonstige Rüstungsgüter sowie deren technische Fortentwicklung) und „Software“ (sozial- und kulturwissenschaftliche oder ethnologische Forschungen, die der Rechtfertigung ungerechtfertigter Kriege oder Kriegsabsichten oder im weitesten Sinn der „psychologischen Kriegsvorbereitung“ dienen).
Eine Zivilklausel, auch wenn sie nur in allgemeinen Worten die Verpflichtung zum Frieden beinhaltet, darf keinesfalls über das Schlupfloch „Wissenschaftsfreiheit“ irgendwelche kriegsrelevanten Aktivitäten für private Rüstungsunternehmen oder staatliche Auftraggeber tolerieren. Und „kriegsrelevant“ im Sinne einer nicht von der UN-Charta, dem Grundgesetz oder dem Einigungsvertrag gedeckten Militäraktion ist heute sehr vieles, was im Auftrag von Rüstungsfirmen und Bundeswehr geforscht wird, auch wenn es auf den ersten Blick „harmlos“ erscheint. Ein Beispiel: Nach Auskunft der Universität Kassel wurden Projekte bearbeitet, die von den Panzerschmieden Kraus Maffei-Wegmann (KMW) und Rheinmetall bezahlt wurden. Dabei ging es um das „Qualitätsmanagement der Produktion“ oder um die „Berechnung einer Montageanlage“ (Hessische Allgemeine-HNA, 24.06.2012). Nicht belegt sei dagegen laut Pressesprecher der Uni, dass „das Wissen der Kasseler Forscher direkt in ein Militärprodukt geflossen sei“. Für meinen Geschmack genügt aber schon die „indirekte“ Arbeit für ein Rüstungsunternehmen, um von „Rüstungsforschung“ ausgehen zu müssen. Vor allem wenn man berücksichtigt, dass sowohl KMW als auch Rheinmetall in Kassel ausschließlich militärische Güter produzieren, handelt es sich bei allen Projekten, die deren Produktionsablauf „optimieren“, selbstverständlich um Rüstungsforschung.
Da hilft dann auch nicht der Hinweis auf die „Legalität“ dessen, was die Forscher/innen tun. Um noch einmal den Pressesprecher der Uni Kassel zu zitieren: Die Freiheit von Forschung und Lehre „findet ihre Grenzen dort, wo strafrechtliche oder völkerrechtliche Normen verletzt werden“. Die HNA folgert daraus „im Klartext“: „Alles, was legal ist, darf in Kassel erforscht werden. Das schließt Rüstungstechnik ein.“ Diese simple Gleichung gilt aber nur, wenn „legal“ auch wirklich „legal“ ist. Als der Bundestag 1998 einen Vorratsbeschluss über einen evtl. Angriff auf Jugoslawien fasste (der dann im März 1999 auch erfolgte), war die Mitwirkung an einem Angriffskrieg „legal“ vom dafür zuständigen Gremium beschlossen worden. „Legal“ war er deswegen aber nicht. Er widersprach nämlich sowohl dem GG Art. 26 als auch dem Gewaltverbot nach Artikel 2 der UN-Charta; er war schlicht völkerrechtswidrig.
Für Zivilklauseln und deren Umsetzung im praktischen Wissenschaftsbetrieb zu kämpfen, erfordert also mehr als nur die Herstellung einer komfortablen „Beschlusslage“. Es wird auch deshalb kompliziert, weil – um noch einmal den Pressesprecher der Uni Kassel zu zitieren – „in einer hochtechnisierten Welt eine klare Abgrenzung, welches Wissen zivil und welches auch militärisch genutzt werden kann, kaum noch möglich“ ist (ebd.). Das mag im Einzelfall richtig sein. Bei Aufträgen von Rüstungsunternehmen oder aus dem Verteidigungsministerium oder der NATO oder der Europäischen Verteidigungsagentur wird man doch nicht fehl in der Annahme gehen, dass hier kein ziviler, sondern ein genuin militärischer Zweck Pate gestanden hat. Sie sind daher – solange sich Bundeswehr, NATO und EU an völkerrechtswidrigen Kriegseinsätzen beteiligen – prinzipiell abzulehnen. Das gilt auch für Universitäten, die (noch) keine Zivilklausel haben.
Vor kurzem wurde bekannt, dass die italienische Firma „Morellato Termotecnica“ aus Ghezzano (in der Nähe von Pisa) einen großen Auftrag abgelehnt hat, weil er sich nicht mit den „ethischen Grundlagen“ der Firma vereinbaren ließ (
neues deutschland, 26.07.2012). Der Familienbetrieb, der sich hauptsächlich mit erneuerbaren Energien und Kühlsystemen beschäftigt und in der gegenwärtigen Krise schon einen Teil der Beschäftigten auf Kurzarbeit setzen musste, bekam das Angebot eines großen Konzerns, eine Kühlanlage für eine besondere Wanne herzustellen. Die zuständige Ingenieurin, die den Auftrag bearbeitete, stellte fest, dass in dieser Wanne Torpedos getestet werden sollten, welche der Auftraggeber an Marineeinheiten rund um den Erdball verkauft. Trotz der prekären Lage des Betriebs und der Arbeitsplatzsorgen der Beschäftigten stimmte in einer Urabstimmung eine überwältigende Mehrheit der Belegschaft gegen die Übernahme des Auftrags. „Wir können unsere Fähigkeiten nicht in den Dienst einer Sache stellen, mit der man Kriegstechnologien entwickelt“, heißt es in dem Schreiben des Firmenchefs, mit dem der Auftrag dankend abgelehnt wurde. – Eine solche Haltung wünscht man sich von Lehrstuhlinhabern, Institutsdirektoren und Universitätspräsidenten hier zu Lande, wenn sie mit „unmoralischen“ Drittmittelprojekten konfrontiert werden.
* Politikwissenschaftler und Friedensforscher, Kassel; Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag; Herausgeber der Website www.ag-friedensforschung.de
Zurück zur Seite "Friedenswissenschaft, Hochschulen, Zivilklausel"
Zur Seite "Bundeswehr und Rüstung an Schulen und Hochschulen"
Zurück zur Homepage