Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Streit um Europa

Zwischen "pazifistischem Alarmismus" und "europagläubiger Selbstberuhigung"

Von Peter Strutynski*

Die deutsche Friedensbewegung, aber auch andere soziale Bewegungen hatten sich lange Zeit kaum oder gar nicht mit dem Europa-Thema befasst. Dafür gab es viele verständliche Gründe - ich möchte nur ein paar erwähnen:
  • Erstens: Die EU (früher die EG) wurde lange Zeit mit der Tätigkeit der Kommission insbesondere in Bezug auf die gemeinsamen Märkte, die Agrar- und Strukturförderung in eins gesetzt. Das war für den normalen Bürger weit weg, bürokratisch und daher extrem dröge und langweilig. Die Beschäftigung mit "Europa" war eben "fad" (Dolores Bauer).
  • Zweitens gab es in Kreisen der Friedensbewegung und der politischen Linken eine sozusagen grundsätzlich positive Einstellung zum europäischen Integrationsprozess, weil er so positiv besetzte Ziele wie Transnationalisierung und Multikulturalismus zu verfolgen schien. Schließlich war die Überwindung von Grenzen und die Konstruktion eines europäischen Bundes freier republikanischer Staaten schon ein uralter Traum der europäischen Aufklärung. "Europa minus Kommission" wäre ein erstrebenswertes Ziel gewesen. Doch war auch kaum jemand auf der Linken bereit, sich dafür zu engagieren.
  • Drittens wurde mit dem ökonomischen und in Grenzen auch politischen Integrationsprozess Westeuropas von vielen ein Gegengewicht zum Unilateralismus der USA gesehen. In dieser Projektion traf sich die Friedensbewegung sogar mit konservative Kräften. Deren Ziel war indessen nicht eine rein zivile Macht, sondern eine Großmacht, die sowohl ökonomisch als auch politisch und damit militärisch "auf gleicher Augenhöhe" mit der Supermacht USA verhandeln können sollte. Zu erinnern ist aber daran, dass der friedenswissenschaftliche und friedensbewegte Diskurs - sofern letzterer stattfand - seit Beginn der 90er Jahre ausschließlich die Zivil- oder Friedensmacht Europa thematisierte - als Alternative zur immer deutlicher hervortretenden Militär- oder Kriegsmacht USA.
  • Viertens kann für die europapolitische Abstinenz der Friedensbewegung entschuldigend angeführt werden, dass sie in den letzten Jahren, genauer: seit dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien vor fünf Jahren ständig in Atem und auf Trab gehalten wurde durch die Kriegspolitik von USA und NATO und natürlich auch der deutschen Bundesregierung, sodass die Beschäftigung mit Europa dabei systematisch zu kurz kam.
Die Friedens- und globalisierungskritische Bewegung wachte erst auf, nachdem der von der Europäischen Union eingesetzte Konvent im Sommer 2003 einen Verfassungsentwurf vorlegte und beim EU-Gipfel im Juni desselben Jahre in Thessaloniki der EU-Außenbeauftragte Javier Solana ein Papier präsentierte, das nichts weniger als eine eigenständige europäische Sicherheitsdoktrin enthielt. Dieses "Solana-Papier" wurde vom Rat zustimmend zur Kenntnis genommen und Solana erhielt den Auftrag, zum nächsten Gipfel in Brüssel im Dezember daraus ein endgültiges abstimmungsfähiges Papier zu machen.

So geschah es denn auch. Während beim Brüsseler Gipfel der Verfassungsentwurf durchfiel - allerdings nicht wegen der darin enthaltenen Bestimmungen zur Außen- und Sicherheitspolitik, sondern wegen unterschiedlicher Meinungen hinsichtlich der Stimmgewichte im Rat und in der Kommission -, reüssierte das Solana-Papier problemlos. Vom 12. Dezember datiert die Verabschiedung der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS) mit dem anspruchsvollen Namen "Ein sicheres Europa in einer besseren Welt".[1](Anmerkungen am Ende des Textes) Es ist das erste Mal, dass die EU ihre Außen- und Sicherheitspolitik in einem in sich geschlossenen strategischen Konzept vorstellt. Die Anklänge an die im September 2002 von US-Präsident George W. Bush verkündete "Nationale Sicherheitsstrategie"[2] sind so auffällig, dass es gerechtfertigt erscheint, das EU-Papier als "Militärdoktrin" der EU zu bezeichnen. Als Militärdoktrin auch deshalb, weil die darin behandelten strategischen Schritte und Maßnahmen ausschließlich militärischer Natur sind - auch wenn betont wird, dass vielen Bedrohungen und Problemen politisch zu begegnen sei und sie somit auch ziviler Mittel bedürfen.

Was die EU-Verfassung betrifft, so wurde ihre Verabschiedung erst im zweiten Anlauf, nämlich auf dem Brüsseler Gipfel am 17./18. Juni 2004, geschafft. Dabei erfuhr der Entwurf noch eine ganze Reihe von Veränderungen, die indessen hinsichtlich der außen- und sicherheitspolitischen Festlegungen nicht sonderlich ins Gewicht fallen. Am 6. August 2004 wurde der Verfassungstext in einer nochmals "konsolidierten" Fassung ins Netz gestellt. Dabei ergaben auch keine gravierenden Änderungen in der Sache. Wohl haben sich aber die Nummern der meisten Artikel geändert, teilweise wurden sprachliche Glättungen vorgenommen. (Ich verwende im Folgenden diese letzte Fassung.[3]) Sieht man sich den Verfassungstext an, so wird man relativ rasch feststellen, dass ihm nicht die Zivilmacht-Konzeption, sondern eine Militärmacht-Konzeption zugrunde liegt. Im Unterschied zu jenen wohlmeinenden Politikern und Friedensforschern, die immer gern auf die positiven Elemente der EU-Verfassung verweisen (z.B. Grundrechte-Charta, Stärkung des EU-Parlaments in bestimmten Fragen), vermag ich weder "Ambivalenz" noch "Offenheit" darin zu erkennen, sondern sehe vielmehr ihre sicherheitspolitische Eindeutigkeit: Die Friedenspassagen in der Verfassung (etwa in der Präambel) sind unverbindliche Rhetorik, die Militär- und Kriegspassagen dagegen sind operationalisierbar. Das ist doch ein wesentlicher Unterschied!

Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in der EU-Verfassung

Ich sehe vor allem drei Gefahren, die durch die Annahme dieser Verfassung verschärft würden:
  1. Krieg als Mittel der Politik wird weiter enttabuisiert, ja als ggf. unausweichliches Mittel zur Interessenwahrung des neu-formierten EU-Staatengefüges legitimiert.
  2. Weitere Aufrüstung bzw. Rüstungsmodernisierung erhalten mit dieser EU-Verfassung für alle EU- Mitgliedstaaten Verfassungsrang.
  3. Die Versuchung, regionale oder lokale Krisen eigenmächtig militärinterventionistisch zu lösen, wird zunehmen und damit weltweit neue Rüstungsdynamiken provozieren.
Ich muss das im Einzelnen nicht vertiefen, weil hierzu in den Beiträgen von Werner Ruf, Corinna Hauswedell, Claudia Heydt und Jürgen Rose schon einiges gesagt wurde. Ich möchte aber folgende fünf Punkte deutlicher herausstellen:

(1) Eine allgemeine Aufrüstungsverpflichtung nach Art. 41 Abs. 3 der EU-Verfassung. Hier heißt es unmissverständlich:
"Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern."
Zu diesem Zweck wird eine Europäische Rüstungsagentur eingerichtet (ebd.). Auch in der ESS werden mehr Mittel für die Rüstung gefordert: "Damit wir unsere Streitkräfte zu flexibleren, mobilen Einsatzkräften umgestalten und sie in die Lage versetzen können, sich den neuen Bedrohungen zu stellen, müssen die Mittel für die Verteidigung aufgestockt und effektiver genutzt werden."

(2) Die Einrichtung einer europäischen "Rüstungsagentur". Doch da muss ich mich gleich korrigieren, denn so hieß diese Stelle ursprünglich, mittlerweile wurde der Name aber geändert in "Europäische Verteidigungsagentur". In Art. 41, Ziff. 3 heißt es hierzu: "Es wird eine Agentur für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung (Europäische Verteidigungsagentur) eingerichtet, deren Aufgabe es ist, den operativen Bedarf zu ermitteln und Maßnahmen zur Bedarfsdeckung zu fördern, zur Ermittlung von Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Grundlage des Verteidigungssektors beizutragen und diese Maßnahmen gegebenenfalls durchzuführen, sich an der Festlegung einer europäischen Politik im Bereich der Fähigkeiten und der Rüstung zu beteiligen sowie den Rat bei der Beurteilung der Verbesserung der militärischen Fähigkeiten zu unterstützen." In Artikel III 311 werden die Aufgaben der Agentur genauer bestimmt. Im Kern geht es darum, "zweckdienliche Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors" vorzuschlagen und selbst zu ergreifen. Die Befürchtung, hier etabliere sich so etwas wir eine Kommandozentrale des militärisch-industriellen Komplexes, ist nicht von der Hand zu weisen.

(3) Die Festschreibung von Kampfeinsätzen in aller Welt, und zwar auch und gerade im Zusammenhang mit dem "Kampf gegen den internationalen Terrorismus". Von zentraler Bedeutung ist hierbei der Art. III-309, Ziff. 1. Hier werden zunächst die sog. Petersberg-Aufgaben benannt[4], d.h. die ganze Palette der möglichen Anlässe für ein militärisches Eingreifen der Europäischen Union aufgezählt:
"Die in Artikel I-41 Absatz 1 vorgesehenen Missionen, bei deren Durchführung die Union auf zivile und militärische Mittel zurückgreifen kann, umfassen gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten."
Der Einsatz von Militär zum Zweck der Terrorismusbekämpfung war in den Petersberg-Aufgaben also nicht vorgesehen.] Nun heißt es aber weiter in der Verfassung:
"Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet."
Mit der Übertragung der "Terrorismusbekämpfung" auf das Aufgabenspektrum des Militärs verwischt die EU die Grenze zwischen militärischen und polizeilichen Aufgaben. Die Verfolgung und Bestrafung von Verbrechern (und was anderes sind Terroristen?!) waren im modernen Rechtsstaatsverständnis bislang eine Angelegenheit der Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden, also von Polizei und Justiz. Die Streitkräfte sind dagegen in erster Linie dazu da, auf äußere Bedrohungen zu reagieren, notfalls auch Kriege zu führen. Diese Zweckbestimmung soll nun auch für die Bekämpfung des Terrorismus gelten, wobei die EU davon ausgeht, dass dieser Kampf häufig in "Drittstaaten" ausgetragen wird. Dies hatte auch schon die ESS im Auge, als sie - eine Meisterleistung sprachlicher Verdunkelung! - salopp formulierte: "Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen."

(4) Die Etablierung eines militarisierten Kerneuropa. Da dieser Punkt in der Diskussion stark unterbelichtet ist, ein paar Worte dazu:
In Artikel I-41, Absatz 6 heißt es:
"Die Mitgliedstaaten, die anspruchsvolle Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen untereinander festere Verpflichtungen eingegangen sind, begründen eine strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union."
Dies bedeutet, dass einzelne Staaten innerhalb der EU, die "untereinander festere Verpflichtungen eingegangen" sind, gemeinsam auch festere militärische Strukturen schaffen können. Weiter heißt es:
"Im Rahmen der nach Artikel III-310 erlassenen Europäischen Beschlüsse kann der Ministerrat die Durchführung einer Mission einer Gruppe von Mitgliedstaaten übertragen, die über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen und sich an dieser Mission beteiligen wollen." (Art. III-311)
Dies führt, sollte es Verfassungsrang erhalten, auf jeden Fall zur Festschreibung militärinterventionistischer Strukturen und Politik innerhalb der EU: Auch wenn Regierungen einzelner Staaten dies nicht (mehr) mitmachen wollen, dann werden es eben die Staaten tun, die "untereinander festere Verpflichtungen eingegangen" sind - und den anderen wird ein Mitspracherecht verweigert.

(5) Die Nichtbeteiligung des Europäischen Parlaments bei Kriegsentscheidungen. Die Verfassung gesteht dem EU-Parlament lediglich ein Anhörungsrecht zu und erlegt der Kommission bzw. dem Rat lediglich eine Informationspflicht auf (Art. I-40, Abs. 6, Art. I-41, Abs. 8). Ein echtes Mitbestimmungsrecht des Parlaments erwächst weder aus dem einen noch aus dem anderen.

Um den letzten Punkt entspann sich in der Integrativ-Arbeitsgruppe der Sommerakademie 2004 eine interessante Diskussion mit einer überraschenden demokratietheoretischen Wendung. Neben den auch in anderen Debatten häufig geäußerten Zweifeln in das Funktionieren einer europäischen Öffentlichkeit oder gar die Existenz einer europäischen politischen Identität - beides Voraussetzungen für eine wirklich partizipative Demokratie - wurde beispielsweise darauf hingewiesen, dass der Einigungszwang der EU-Regierungen (Art. I-40, Abs. 7, Art. I-41, Abs. 4, Art. III-300, Abs.1, Art. III-312, Abs. 6) im Europäischen Rat in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik demokratiepolitisch möglicherweise höher zu bewerten sei als die Mehrheitsentscheidung von rund 700 EU-Parlamentariern, die von ihrer Wählerbasis ähnlich weit entfernt seien wie die Vertreter der Exekutive. Letztere seien sogar aus einem sehr viel transparenteren politischen Wahlprozess - jeweils auf nationaler Ebene - hervorgegangen und könnten somit auf eine größere demokratische Legitimität verweisen als die Abgeordneten in Straßburg. Gegen diese gouvernementale Sichtweise ließe sich allerdings einwenden, dass parlamentarische Diskussions- und Abstimmungsprozesse nicht denkbar sind ohne Öffentlichkeit und außerparlamentarischen Druck. In dem Augenblick, wo das EU-Parlament sozusagen über Krieg und Frieden zu befinden hätte, bestünde zumindest die Chance, dass sich in ihm die Meinungen der europäischen Bevölkerung(en) adäquat abbilden.[5]

Zwischen "pazifistischem Alarmismus" und "europagläubiger Selbstberuhigung"

Die Dynamik des europäischen Integrations- und Erweiterungsprozesses der letzten Jahre, die insbesondere auch den Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik erfasste, hat in der Friedensforschung und Friedensbewegung unterschiedliche diskursive Reaktionen ausgelöst. Auf der einen Seite wird der Militarisierungsaspekt als ein dem europäischen Einigungsprozess wesensfremdes Element kritisiert, auf der anderen Seite wird darauf vertraut, dass die EU, selbst wenn sie wollte, nicht in der Lage sei, eine ernstzunehmende Militärmacht zu werden.

Die Militarisierungskritiker können nicht nur auf die seit Maastricht und Amsterdam und der Formulierung der Petersberg-Aufgaben in Angriff genommene (außen-)politische Neuorientierung der EU verweisen, die in der ESS und den zahlreichen einschlägigen Artikeln des EU-Verfassungsentwurfs gipfeln, sondern auch auf den (Teil-)Vollzug beim Aufbau realer militärischer Fähigkeiten der EU, wofür die Weichenstellung auf den EU-Gipfeln in Köln und Helsinki 1999 (Aufstellung einer europäischen Eingreiftruppe) getroffen worden waren. Eine Rolle spielen darüber hinaus die diversen Militäreinsätze auf dem Balkan, in Afghanistan und im Kongo, die, auch wenn sie teilweise nur symbolischen Charakter hatten, einen nicht zu unterschätzenden "Gewöhnungsfaktor" darstellen (sollen). Die pazifistische bzw. antimilitaristische Kritik an der Militarisierung der EU - die im Übrigen auf einzelstaatlicher Ebene durch die Re-Legitimierung des Krieges als politischem Mittel ergänzt wird - befürchtet mittelfristig die Umwandlung des außerordentlich erfolgreichen Wirtschaftsprojekts EWG/EG in eine Militärallianz, die nach innen durchaus Stabilität und Frieden zu garantieren vermag, die sich aber auf der weltpolitischen Bühne als globaler Akteur etablieren möchte - mit all den Attributen, die einer Hegemonialmacht zugeschrieben werden: wirtschaftliche Leistungskraft, wissenschaftlich-technologische Spitzenstellung, Verfolgung globaler Interessen, politische Durchsetzungskraft und militärisches Droh- und Einsatzpotenzial. Schließlich hat die von den USA ausgehende Revitalisierung der realistischen Denkschule in Politik und Politikwissenschaft auch um Europa keinen Bogen gemacht.[6] Die nach dem Ende der Blockkonfrontation und der Bipolarität Gestalt annehmende Vorstellung von einem globalen Kampf um Ressourcen, den Weltmarkt und die Weltherrschaft, der sich innerhalb der "Triade" aus USA, (EU-)Europa und Ostasien (Japan und/oder China) abspielen wird, gehört mittlerweile zum Allgemeingut politischer Analytik. Damit dieser Kampf nicht dereinst auch mit militärischen Mitteln ausgetragen wird, müsse EU-Europa vom militärischen Pfad des Krieges ab- und auf den zivilen Pfad des Friedens zurückgebracht werden.

Die andere Konzeption, die ebenfalls für sich beanspruchen kann friedensorientiert zu sein, geht davon aus, dass sich in Europa (sprich: Westeuropa bzw. heute um einen Teil Osteuropas erweitertes EU-Europa) seit dem Zweiten Weltkrieg ein grundsätzlich neues Verständnis von internationalen Beziehungen entwickelt habe. Die EU-Staaten zeichnen sich heute durch ein hohes Maß an Rechtstaatlichkeit, politischer Stabilität und demokratischer Kontrolle aus. Die internationalen Beziehungen seien gekennzeichnet von der grundsätzlichen Anerkennung des Völkerrechts (es gibt Staaten, in deren Verfassung dem Völkerrecht eine bindende Wirkungskraft gegenüber der eigenen Gesetzgebung eingeräumt wird, z.B. Art. 24 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland), der grundsätzlichen Bereitschaft auf Hoheitsrechte zugunsten internationaler Vereinigungen zu verzichten (z.B. Art. 23 GG), der Anerkennung des Vorrangs ziviler Instrumente bei der Schlichtung internationaler Konflikte und der generellen Einbindung in Systeme kollektiver Sicherheit (z.B. OSZE). Auch der Hinweis auf die ureigene europäische Entwicklung des sog. "Rheinischen Kapitalismus" als einer sozialstaatlich abgefederten Alternative zum ursprünglichen und heute in den USA beheimateten "Raubtierkapitalismus" (so der deutsche Altbundeskanzler Helmut Schmid) wird des öfteren bemüht.

Dabei ist auffällig, dass solche Lobhudeleien nicht nur von eingefleischten Eurozentrikern stammen, sondern gern auch von aufgeklärten Atlantikern aus den USA gestreut werden. Jüngstes Beispiel ist der weithin bekannte Wissenschaftspublizist und Leiter der Foundation on Economic Trends in Washington, Jeremy Rifkin. In seinem jüngsten Buch [7] vergleicht er die US-amerikanische mit der (west-)europäischen Gesellschaft und stellt sein Resultat holzschnittartig dichotomisch dar: Hier (in den USA) der ökonomische Individualismus, dort (in Europa) die soziale Verantwortung, hier der Konsumismus, dort die kulturelle Orientierung, hier der unbedingte Glaube an den technischen Fortschritt (Technikwahn), dort eine weit verbreitete Fortschrittsskepsis, hier imperiales Gehabe und Unilateralismus, dort der Primat von Politik und Diplomatie und das Bestehen auf Multilateralismus. Der Direktor des Österreichischen Instituts für Internationale Politik, Otmar Höll, hat das auf der ÖSFK-Sommerakademie 2002 ähnlich gesehen. Während die USA "eher bereit" seien, auf der Suche nach Lösungen von Weltproblemen "militärische Mittel und ganz allgemein Gewalt einzusetzen", heißt es über die EU: Sie "setzt eher auf die Mittel der Verhandlung, verzichtet eher auf Mittel der Gewalt und versucht gerade in der Frage der neuen Konfliktformen, v.a. des Terrorismus, die Wurzeln des Übels bzw. den Nährboden für derartige (asymmetrische) Gewaltaktionen zu beseitigen."[8]

Auch andere Autoren aus der politikwissenschaftlichen Zunft neigen dazu, den europäischen Staaten in der Gestaltung ihrer internationalen Beziehungen ein insgesamt hohes Maß an Friedfertigkeit und militärischer Zurückhaltung zuzuschreiben. Selbst Entwicklungen hin zur Errichtung einer Europäischen Rüstungsagentur mit dem Ziel der Zusammenfassung und Steigerung der militärischen Schlagkraft der EU oder die gewisse "Eigendynamik", die der Diskussion um "humanitäre" Kriegseinsätze in aller Welt inhärent ist, kann das Idealbild von der "Friedensmacht Europa" nicht wirklich erschüttern.[9] Die gegenwärtigen Anstrengungen der EU, zu einer verbindlicheren Außen- und Sicherheitspolitik im Sinne der Angleichung an die strategischen "Standards" der Vereinigten Staaten zu kommen, wie sie in der "Nationalen Sicherheitsstrategie" vom September 2002 formuliert sind, werden als Problem durchaus wahrgenommen, in ihrer Tragweite aber systematisch unterschätzt. "So schlimm, wie die Friedensbewegung in ihrem Alarmismus behauptet, wird es schon nicht werden", heißt ein beliebtes Argument der Europa-Gläubigen. Haupthindernis auf dem Weg zur europäischen Militärmacht sei dabei die fehlende Bereitschaft der meisten EU-Staaten zu einer kräftigen Erhöhung ihrer Rüstungsausgaben. Ohne das aber werde die EU auf Jahre hinaus den Anschluss an die übermächtigen Kapazitäten der USA nicht schaffen.[10] Die noch kritischeren Köpfe wollen indessen zur Vermeidung jeglicher denkbaren Fehlentwicklungen zusätzliche Sicherungen in das institutionelle Entscheidungssystem der EU einbauen, etwa die Installation einer Veto-Instanz durch das Europäische Parlament.[11]

EU: Von der zwangszivilisierten Wirtschaftsunion zur freiwilligen Militärmacht

Solche institutionellen Sicherungen sind nötig, sie werden aber nicht ausreichen. Sie müssen ergänzt werden durch eine andere Politik der Mitgliedstaaten, eine Politik, die an die guten Traditionen der Europäischen Gemeinschaft anknüpft. Dabei sollte man aber auch bedenken, dass die Zivilmachtkonzeption der EWG/EG nicht an der Wiege gesungen wurde. Vielmehr erscheint die Gründung der EWG als eine wirtschaftliche Zweckgemeinschaft von sechs westeuropäischen Staaten zur Bändigung und langfristigen Integration (West-)Deutschlands, nachdem die militärische Variante der westeuropäischen Integration (die EVG), die dasselbe Ziel verfolgt hatte, am Widerstand der USA gescheitert war. Die USA waren zwar auch an einer starken europäischen Verteidigungslinie gegenüber dem als Bedrohung empfundenen "Kommunismus" interessiert, wollten dieses Ziel aber lieber unter ihrer eigenen Regie realisieren, was denn auch im Rahmen der NATO geschah. Die wirtschaftliche Integration Westeuropas entsprach dem US-amerikanischen Wunsch nach einem starken kapitalistischen Markt und Produktionsstandort, der sich gleichermaßen als Absatzmarkt für US-Waren wie als Anlagezone für US-Direktinvestitionen eignen sollte. Die insofern nicht ganz freiwillige Selbstbeschränkung der EWG/EG und später der EU auf wirtschaftliche, struktur- und regionalpolitische Aufgaben hatte jedenfalls zur Folge, dass sich Westeuropa in den 60er- und 70er Jahren zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten der USA mauserte. Solange die Frontstellung zur Sowjetunion und dem "Warschauer Pakt" bestand, funktionierte die zivil-militärische Arbeitsteilung zwischen EG und NATO sehr gut. Erst als mit dem Ende der Blockkonfrontation in Europa der militärische Schutz der USA, insbesondere deren nukleare Abschreckungskapazität, an Bedeutung und schließlich ganz an Sinn verlor, begannen die EG-Alteuropäer umzudenken. Die zunehmende Einbindung in weltwirtschaftliche Strukturen - nun auch in den Ländern der ehemaligen sozialistischen Staaten - machte vollends den Blick frei für die sich herausbildende wirtschaftliche Konkurrenz innerhalb der "Triade" USA-Ostasien-Europa.

Es war offenbar nur eine Frage der Zeit, bis der ökonomische Riese EU auch Gefallen an einer stärkeren (außen-)politischen Unabhängigkeit von den USA finden würde. Realpolitisch hat sich dieser Verselbständigungsprozess - der keineswegs einseitig von Europa ins Werk gesetzt wurde, sondern zu gleichen Teilen auch auf das Konto der USA selbst ging - im Verlauf einer Reihe außenpolitischer Krisen und Konflikte der 90er Jahre vollzogen. Äußere Anlässe/Daten dieses euro-atlantischen Entfremdungsprozesses waren die Kriege auf dem Balkan, militärische und rüstungskontrollpolitische Eskapaden der USA (z.B. Somalia, Kündigung des ABM-Vertrags) sowie der sichtbar gewordene Bruch im Völkerrechtsverständnis beider Seiten (z.B. in Bezug auf den Internationalen Strafgerichtshof). Insofern stellte der Irakkrieg nur das letzte Glied einer Reihe transatlantischer Irritationen dar. Er war aber der entscheidende Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Am Irakkrieg schieden sich nicht nur die Geister, sie fanden auch ihren offenen Ausdruck auf dem Marktplatz der politischen Klassen jenseits und diesseits des Atlantiks. Die erklärte Absicht der 2001 an die Macht gekommenen neokonservativen Bush-Cheney-Rumsfeld-Clique war es, "die US-Macht unilateral und militärisch rücksichtslos durchzusetzen". Nach Immanuel Wallerstein, scharfsinniger philosophischer Beobachter des Weltgeschehens, bestand das Kalkül, womit der Irakkrieg geführt wurde, darin "die Westeuropäer (und daneben die Ostasiaten) ein(zu)schüchtern und all ihre Ambitionen zur politischen Selbstständigkeit (zu) beenden".[12] Nebenbei hätte eine Demonstration militärischer Stärke im Irak auch die Staaten mit Kernwaffenambitionen abschrecken und alle Nahost-Staaten veranlassen können, "sowohl ihre Bestrebungen nach geopolitischer Selbstbehauptung aufzugeben als auch im israelisch-palästinensischen Konflikt ein Abkommen zu Bedingungen zu akzeptieren, die für Israel und die Vereinigten Staaten akzeptabel sind".

Dieser amerikanische Traum des "Macho-Unilateralismus" (Wallerstein) wird sich nach dem bisherigen Fiasko des Irak-Abenteuers wohl nicht mehr erfüllen. Wahrscheinlicher ist ein Szenario, wonach die USA - gleichgültig ob weiter unter Bush oder unter einem neuen Präsidenten Kerry - im Irak ähnlich scheitern werden, wie sie in vielen anderen Interventionen der letzten 50 Jahre gescheitert sind.[13] Ob diese Niederlage mit zähneknirschender Contenance auf sich genommen (Kerry-Variante) oder erst nach heftiger blindwütiger Gegenwehr (Bush-Variante) akzeptiert wird: Das ist wahrscheinlich das einzige, worin sich die Politik der beiden Präsidentschaftskandidaten signifikant unterscheiden wird.

Die Aussichten für Europa dürften auch nicht sehr rosig sein. Das von US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld Anfang 2002 so genannte "neue Europa" wird im Fall der Bush-Variante auch den europäischen Integrationsprozess behindern. Schließlich sind die EU-Neumitglieder schon immer als Parteigänger der USA und als potenzielle europäische Spaltpilze aufgetreten, gar nicht einmal aus böser Absicht, sondern weil sie sich militärische "Sicherheit" vor der ehemaligen Hegemonialmacht Sowjetunion/Russland begreiflicherweise in erster Linie von den starken USA und nicht von der militärisch lahmen EU erhoffen.[14] Ihre weitere enge Anlehnung an die USA bedeutet nicht nur die Beteiligung an weiteren riskanten militärischen Einsätzen ŕ la Irak mit möglicherweise unliebsamen innenpolitischen Folgen (Delegitimierung von Regierungen, politische Instabilitäten), sondern auch eine Verzögerung des ökonomischen, sozialen und kulturellen Integrationsprozesses. Das Schlimme an der Kerry-Variante ist nun, dass zumindest in nächster Zeit von den Europäern (Neu- und Altmitgliedern gleichermaßen) mehr militärische Anstrengungen erwartet werden. Kerry rühmt sich damit, zur restlichen Welt einen besseren Draht zu haben als sein Widersacher. Den Parteitagsdelegierten auf dem Konvent der Demokraten versprach er, "unsere Truppen nach Hause zu bringen". Das geht aber nur, wenn sich andere stärker engagieren. Kerry: "Wir brauchen einen Präsidenten, der die Glaubwürdigkeit besitzt, unsere Verbündeten an unsere Seite zu bringen und die Last zu teilen, die Kosten für den amerikanischen Steuerzahler zu senken und das Risiko für amerikanische Soldaten zu verringern."[15]

Ausblick: Können Volksabstimmungen den zivilen Charakter der Europäischen Union retten?

Ob und in welchem Ausmaß die Europäische Union ihre "globale Machtprojektion"[16] entwickeln kann, hängt in erster Linie von der politischen Verfasstheit der Mitgliedsstaaten und ihrer jeweiligen Regierungen ab. Der Verfassungsprozess nährt bisher all jene Befürchtungen, welche die EU auf dem Weg zur Militärmacht sehen.

Bleibt die Frage, ob die europäische Öffentlichkeit in den einzelnen Mitgliedstaaten ein Wort mitreden darf und wie dieses Wort letztendlich ausfallen wird. Die EU-Verfassung ist ein völkerrechtlicher Vertrag und muss von den Parlamenten aller 25 EU-Staaten ratifiziert werden. Wie die einzelnen Staaten dabei verfahren, bleibt ihnen bzw. ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften überlassen. Vorgesehen ist nach Art. IV-447 Abs. 2, dass der Verfassungsvertrag am 1. November 2006 in Kraft tritt, "sofern alle Ratifikationsurkunden hinterlegt worden sind, oder andernfalls am ersten Tag des zweiten auf die Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunde folgenden Monats."

Nach Lage der Dinge wird der Ratifizierungsprozess also länger als bis 2006 dauern. Denn in den Mitgliedstaaten haben sich zuletzt doch zu viele Politiker unterschiedlicher Couleur dafür stark gemacht, dass die Ratifizierung durch Volksabstimmungen festgestellt werden sollte.[17] Ausgerechnet der britische Premierminister Tony Blair hatte eine regelrechte Lawine ausgelöst, als er im Frühjahr 2004 aus heiterem Himmel verkündete, er wolle in seinem Land die Bevölkerung über die EU-Verfassung abstimmen lassen. Da man um die Stärke der europa-skeptischen Kräfte in Großbritannien weiß (die Wahlergebnisse zum Europäischen Parlament im Juni bestätigten dies), erhob sich vielstimmiges Geraune in der politischen Klasse der EU-Hauptländer. Was wird sein, wenn die Verfassung bei einem Referendum von den britischen Wählern abgelehnt würde? Spekulationen tauchten auf, ob der gewiefte Taktiker Tony Blair mit seiner Ankündigung die übrigen Regierungschefs vor dem Brüsseler Gipfel Ende Juni nur ein wenig in den Schwitzkasten nehmen wollte. Oder ob er - angeschlagen wegen seiner Irakpolitik - das Referendum seinem Wahlvolk nur zum Fraße vorwarf, um es für die EU-Wahlen gefügiger zu machen. Nun, genutzt hat es jedenfalls nichts.

Nachdem das britische Empire vorpreschte, wollte die zweite europäische Großmacht, Frankreich, nicht nachstehen. Also versprach auch Präsident Jacques Chirac seinen Wählern ein unverhofftes Referendum. Damit wuchs im Sommer 2004 die Zahl der EU-Staaten, die über die EU-Verfassung das Volk abstimmen lassen wollen, auf elf. Teilweise sind es Länder (wie z.B. Dänemark und Irland), in denen bei solchen wichtigen Fragen Referenden ohnehin vorgeschrieben sind; in Frankreich und Großbritannien sind sie lediglich politisch gewollt. Abgestimmt wird jedenfalls in Dänemark, Irland, Großbritannien, Frankreich, Luxemburg, Spanien, Portugal, Belgien, Niederlande, möglicherweise auch in Estland und Tschechien. In Österreich [18] und Deutschland gibt es Initiativen, die sich für ein Referendum einsetzen.

In Deutschland ist für die Ratifizierung völkerrechtlicher Verträge die Zustimmung von Bundestag und Bundesrat erforderlich. Referenden auf Bundesebene sind nicht vorgesehen und - vor allem - auch nicht gewünscht. Bundeskanzler Schröder hat ein deutsches Referendum über die EU-Verfassung am 15. Juli erneut ausgeschlossen. In der Bundesrepublik "verbietet es die Verfassung ausdrücklich, eine Volksabstimmung zu machen, und wir werden natürlich unsere Verfassung achten", sagte er während eines Treffens mit dem britischen Premier Blair in London. Wendiger zeigte sich der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber. Sonst nicht eben plebiszitären Elementen zugeneigt, ging er nach einem Treffen mit der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel mit dem Vorschlag in die Öffentlichkeit, Deutschland möge doch ein EU-weites Referendum anregen: "Könnten alle Völker Europas am selben Tag über die Verfassung abstimmen, wäre das eine große Chance, das Thema Europa viel näher an die Bürger heranzubringen". Wenn Großbritannien und Frankreich eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung abhalten, könne Deutschland nicht länger abseits stehen, sagte Stoiber laut "Bild am Sonntag" vom 18. Juli 2004. Weiter heißt es dort: "Die Bundesregierung sollte endlich ihr Misstrauen gegenüber dem eigenen Volk ablegen".

So haben wir die absurde Situation, dass die Parteien, die traditionell plebiszit-unwillig sind, weil sie sich vor direkt-demokratischen Einflüssen fürchten und in ihnen eine Gefährdung der repräsentativen Demokratie sehen, in Sachen EU das Mittel des Plebiszits zur Anwendung bringen möchten. Während diejenigen, die traditionell eher "mehr Demokratie wagen" wollten (Willy Brandt), das Ding am liebsten ganz ohne Beteiligung der Bevölkerung durchziehen würden. Wobei es im rot-grünen Regierungslager im wesentlichen zwei Argumentationsmuster gibt: Die einen trauen der Bevölkerung nicht zu, bei einem Referendum "richtig" zu entscheiden. Außenminister Fischer hat dies in einem Interview mit der Berliner Zeitung so ausgedrückt: "Sie gehen auf die Straße und fragen jemanden: Was halten Sie von Europa? Der hat schlecht geschlafen oder ist schlecht gelaunt. Also sagt er: Alles Mist!" Nun könnte man mit diesem "Argument" durchaus auch auf Wahlen verzichten, denn die "schlechte Laune" macht angesichts unerfreulicher Zeitläufte auch vor einem Wahlsonntag nicht halt. Fischer spricht dem Normalbürger aber auch jede politische Kompetenz ab, wenn er sagt: "Dafür [für Volksabstimmungen, Pst] haben wir die Tradition nicht. Worüber wollen Sie die Leute überhaupt abstimmen lassen? Über die Europäische Verfassung, über den Nizza-Vertrag? Wer versteht denn das?" (Berliner Zeitung, 28.02.2004.) Ein anderer Teil des Regierungslagers argumentiert schlitzohriger: Wir (die Grünen und zahlreicher Sozialdemokraten) versuchen, plebiszitäre Elemente in das Regierungssystem der Bundesrepublik zu implantieren. Dazu bedarf es ihrer Meinung einer 2/3-Mehrheit im Bundestag, wozu logischerweise die Zustimmung auch der CDU/CSU notwendig sei. Entsprechende Initiativen sind bisher im Bundestag gescheitert, so z.B. entsprechende Anträge im November 2003. Da zur Zeit Plebiszite auf Bundesebene also generell nicht durchsetzbar sind, könne man nicht eine Lex Europa schaffen. Grünen-Chef Reinhard Bütikofer hat nach einer Bundesvorstandssitzung Mitte Juli 2004 deutlich gemacht, dass die Grünen weiterhin für Volksentscheide seien, dass dies aber nicht nur im Ausnahmefall geben dürfe. Eine solche "Rosinenpickerei werden wir nicht unterstützen", stellte Bütikofer klar (ddp, 19.07.2004). Im Ergebnis heißt das: Wenn ich den berühmten Spatz in der Hand nur nehme, sofern ich auch die Taube auf dem Dach erhalte, läuft Gefahr, am Ende gar nichts zu haben. Dem Parteitaktiker Bütikofer ist zuzutrauen, dass er genau das will, denn nur so kann er den schmerzhaften Spagat zwischen plebiszitärer Basis und elitärer politischer Klasse aushalten.

Der frühere Münchner Oberbürgermeister, Justizminister, SPD-Vorsitzender und derzeitiges Mitglied im Nationalen Ethikrat, Hans-Jochen Vogel macht in der verqueren Diskussion um das Referendum eine löbliche Ausnahme. In einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung Anfang August widerlegte er alle gängigen Einwände gegen ein Referendum.[19] Wer etwa behauptet, das Volk sei "zu wenig im Bilde" und lasse sich zu leicht in die Irre führen, verkenne, dass der Informationsstand der Bevölkerung wesentlich höher sei als angenommen und es nicht ausgemacht sei, ob nicht die Parlamente und deren Mehrheiten wirklich "weniger oft irren als das Volk". Außerdem sei einer Volksbefragung ein Informations- und Diskussionsprozess von mehreren Monaten vorgelagert, der sich produktiv nutzen lasse. Auch die angebliche hohe "Komplexität" der Materie, über die abgestimmt würde, lässt Vogel nicht gelten. In Referenden gehe es nicht um alle möglichen Spezialprobleme, sondern um zentrale Weichenstellungen in der Politik. In der Regel sind solche Fragen mit Ja oder Nein zu beantworten. Schließlich räumt Vogel auch mit der Legende auf, die Weimarer Republik sei an den damaligen Volksbegehren zugrunde gegangen. Kein einziges dieser Volksbegehren hätte eine Mehrheit gefunden; von einem wirklichen Missbrauch des Plebiszits könne erst in der Nazizeit die Rede sein - da war die Demokratie aber längst beseitigt.

Nur in einem Punkt irrt sich Vogel bei seinem leidenschaftlichen Plädoyer für ein EU-Referendum: Er appelliert an die Regierungs- und Oppositionsparteien, möglichst schnell eine Grundgesetz-Änderung zu betreiben, damit dann das Volk über die EU-Verfassung abstimmen könne. Der Jurist Vogel müsste das Grundgesetz der Bundesrepublik so weit kennen, dass er weiß, dass Volksbefragungen durchaus möglich sind. In Artikel 20 Abs. 2 heißt es: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ... ausgeübt." In Artikel 29 wird sogar ein "Volksentscheid" zwingend vorgeschrieben, wenn "Maßnahmen zur Neugliederung des Bundesgebietes" ergriffen werden. Weder die Tatsache, dass der Bundesgesetzgeber nie ein Ausführungsgesetz zur Durchführung von Volksbegehren, Volksbefragung und Volksentscheiden verabschiedet hat, noch die 50-jährige Plebiszitlosigkeit können den demokratischen Kern des Artikels 20 ("Wahlen und Abstimmungen") obsolet werden lassen. So könnte man sich ohne weiteres auf den Standpunkt stellen, dass zur Durchführung von Referenden auf Bundesebene die Verabschiedung eines Ausführungsgesetzes zu Artikel 20,2 ausreichend sei. Hierzu bedarf es keiner verfassungsändernden, sondern nur einer einfachen Mehrheit.

Mittlerweile ist auch Bewegung in die Bundesregierung gekommen. Am 29. August meldeten die Nachrichtenagenturen: "Nach dem Willen der SPD könnte in Deutschland bereits für die Entscheidung über die geplante EU-Verfassung die Möglichkeit eines Referendums geschaffen werden. Parteichef Franz Müntefering kündigte nach einer SPD-Vorstandsklausur am Sonntag in Berlin an, im Oktober oder November solle im Bundestag ein verfassungsänderndes Gesetz eingebracht werden, um sowohl von Bürgern initiierte Volksentscheide zu ermöglichen als auch Referenden auf Wunsch von Bundestag oder Bundesregierung."

Es wird sich zeigen, ob dies ein erster Etappensieg der Referendums-Befürworter ist oder ob die Parteitaktik im Parlament ein plebiszitfreundliches Votum verhindert. Immerhin gehört kein geringerer als Außenminister Fischer bis heute zu den hartnäckigsten Gegnern von Volksabstimmungen auf Bundesebene. Wenige Tage nach dem SPD-Beschluss äußerte er sich in einem Interview in der "Frankfurter Rundschau":
"Ich gehöre hinsichtlich Volksabstimmungen zu den Skeptikern. Dort, wo es diese Tradition gibt: ja. Aber ich glaube zum Beispiel nicht, dass Volksabstimmungen automatisch die Akzeptanz für Europa vergrößern. So eine Abstimmung würde doch nur dann eine politische Alternative zum Thema haben, wenn es hieße: entweder diese Verfassung oder raus aus der EU. .."[20]

Diese Alternative ist indessen reine Demagogie. Die Nichtratifizierung der EU-Verfassung bedeutet weder den Austritt des ablehnenden Staates aus der EU noch deren Auflösung. Ein großer Teil des Verfassungstextes besteht ohnehin aus Verträgen, die längst von den Mitgliedstaaten ratifiziert wurden und somit Gültigkeit besitzen. Die Ablehnung der EU-Verfassung durch einen oder mehrere Staaten würde aber bedeuten, dass über den Text neu verhandelt werden muss. Damit bekämen die militarisierungskritischen Kräfte in ihrem Kampf gegen die Umwandlung der EU in eine Militärmacht sozusagen eine zweite Chance. Sie gälte es zu nutzen zur Erweiterung der Demokratie in der EU, vielleicht auch zur Herstellung dessen, was man dereinst einmal "europäische Öffentlichkeit" nennen kann. Denn die Bevölkerung jedes EU-Staates hat ein Recht, über die faktische Neugründung der EU qua Verfassung mitbestimmen zu können. Demokratische Verfassungen wurden noch nie durch Oktroi erlassen (das Bonner Grundgesetz 1949 war die Ausnahme), sondern in der Regel vom Volk gegen die Machtansprüche der Obrigkeiten durchgesetzt. Die Weigerung von Regierungen in der EU, über die EU-Verfassung per Referendum abstimmen zu lassen, zeugt nicht nur von einem grundlegenden Misstrauen gegen die eigene Bevölkerung. Sie wird darüber hinaus zu einer viel größeren Europamüdigkeit führen, als sie heute zu konstatieren ist. Der Bevölkerung dagegen die Möglichkeit zu geben, "Nein" zur EU-Militärverfassung zu sagen, könnte sich langfristig auszahlen, indem daraus ein umso stärkeres "Ja" zu einem zivilen Europa erwächst.

Fußnoten
  1. Der vollständige Text (deutsch und englisch) ist auf der Website der AG Friedensforschung dokumentiert: /fb5/frieden/themen/Europa/strategie.html
  2. Siehe den vollen Wortlaut des Dokuments auf der Homepage der AG Friedensforschung: /fb5/frieden/regionen/USA/doktrin-lang.html
  3. Siehe den vollen Wortlaut der EU-Verfassung in der konsolidierten Fassung vom 6. August 2004 auf der Homepage der AG Friedensforschung: /fb5/frieden/themen/Europa/verfassungsentwurf2004.pdf
  4. Die Petersberg-Aufgaben gehen zurück auf eine Erklärung des Ministerrats der Westeuropäischen Union (WEU) vom 19. Juni 1992 auf dem Petersberg bei Bonn. Es handelt sich um die Definition von drei militärischen Einsatzfeldern: 1. Humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, 2. friedenserhaltende Einsätze, 3. Kampfeinsätze zur Krisenbewältigung einschließlich "Frieden erzwingende" Maßnahmen.
  5. Das muss natürlich nicht so sein. In Deutschland gibt es seit der Zustimmung zum NATO-Krieg gegen Jugoslawien eine Reihe von Bundestagsentscheidungen pro Kriegsbeteiligung bzw. Militäreinsatz, die von überwältigenden Mehrheiten getragen wurden (zwischen 94 und 99 %), während in der Bevölkerung die Zustimmungsrate höchstens die 50 Prozentmarke knapp überschritt (Jugoslawienkrieg), in anderen Fällen sogar deutlich unterbot (z.B. Beteiligung an "Enduring Freedom").
  6. Der teilweise mit harten Bandagen ausgetragene Schacher um Agrarsubventionen oder Strukturförderungsmittel in der Brüsseler Kommission verweist darauf, dass auch innerhalb der EU mehr auf die Durchsetzung sog. vitaler nationaler Interessen denn auf ein gemeinsames europäisches Ziel hingearbeitet wird.
  7. Jeremy Rifkin, Der Europäische Traum. Die Vision einer leisen Supermacht. Aus dem Englischen von Hartmut Schickert; Campus: Frankfurt/New York 2004.
  8. Otmar Höll, Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU: Bestandsaufnahme und Perspektiven. In: ÖSFK (Hrsg.), Europa Macht Frieden. Die Rolle Österreichs, agenda: Münster 2003, S. 70-84, hier S. 81.
  9. Dies ist der Fall bei Annette Jünemann, Niklas Schörnig, Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik: Potenzielle Gefahren einer sich abzeichnenden Eigendynamik. In: Peter Schlotter (Hrsg.), Europa - Macht - Frieden? Zur Politik der "Zivilmacht Europa", Nomos: Baden-Baden 2003, S. 101-133.
  10. Vgl. Jocelyn Mawdsley, On the way to a European Armament Policy? In: Peter Schlotter (Hrsg.), Europa - Macht - Frieden, a.a.O., S. 134-158, hier S. 155. Ähnlich auch Otmar Höll, der die EU "auf Jahre hinaus" auf den Bereich der "soft security" verwiesen sieht (Otmar Holl, a.a.O., S. 73).
  11. So argumentiert z.B. Hartwig Hummel, Die Europäische Union und der "demokratische Frieden": Zur parlamentarischen Kontrolle der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. In: Peter Schlotter (Hrsg.), a.a.O., S. 159-178.
  12. Immanuel Wallerstein, Die USA und Europa - 1945 bis heute. (/fb5/frieden/themen/Europa/wallerstein.html
  13. Vgl. William Pfaff, History is not on your side, Mr Kerry. In: The Observer, 15.08.2004 (auch unter: /fb5/frieden/regionen/USA/pfaff.html)
  14. Die Neumitglieder aus den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten haben ihre neorealistische Lektion schnell gelernt: Anstatt der Paktbindung überdrüssig zu sein und auf eine Politik der Kooperation und des friedlichen Miteinanders zu setzen, haben sie sich mit fliegenden Fahnen dem anachronistischen NATO-Pakt in die Arme geworfen und sich damit einer konfrontativen Politik verschrieben. Die USA haben - übrigens schon unter Präsident Clinton - den Takt vorgegeben und vor jeder EU-Erweiterungsrunde dafür gesorgt, dass die Kandidaten bereits NATO-Mitglieder geworden waren. In der NATO wird bekanntlich seit jeher nach der Musik der USA getanzt.
  15. Rede des demokratischen Präsidentschaftskandidaten John Kerry am 29. Juli 2004 in Boston (/fb5/frieden/regionen/USA/kerry2.html)
  16. Corinna Hauswedell, Herbert Wulf, Die EU als Friedensmacht? Neue Sicherheitsstrategie und Rüstungskontrolle. In: Friedensgutachten 2004, hrsg. Von Ch. Weller, U. Ratsch, R. Mutz, B. Schoch, C. Hauswedell, S. 122-130, hier S. 130
  17. Vgl. zum Folgenden Peter Strutynski, Europäische Union, Volk und Verfassung. In: FriedensJournal, 5/2004 (erscheint im September 2004)
  18. Die von der Friedens- und anderen sozialen Bewegungen initiierte Kampagne für ein Referendum bestimmt mittlerweile auch die Diskussion in der Fachwelt und politischen Klasse Österreichs. Beispielsweise hat der Wiener Verfassungsrechtler Theo Öhlinger eine Diskussion über die rechtlichen Folgen der EU-Verfassung ausgelöst, als er behauptete, der EU-Verfassungsvertrag bedeute eine Gesamtänderung der österreichischen Bundesverfassung. Dies könne nur durch eine Volksabstimmung festgestellt werden. (Vgl. Die Presse, 06.07.2004)
  19. Hans-Jochen Vogel, Plädoyer für das Plebiszit. In Süddeutsche Zeitung, 4. August 2004.
  20. Interview mit Bundesaußenminister Fischer zu Volksabstimmungen und dem Umgang mit dem russischen Präsidenten Putin. In: "Frankfurter Rundschau" vom 03.09.2004
* Dieser Text beruht auf Überlegungen, die in dem Integrativ-Workshop der Sommerakademie 2004, den ich das Vergnügen hatte zu leiten, entstanden sind. Mein Dank gilt daher den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die eine Woche lang mitarbeiteten und mitdiskutierten und zahlreiche Anregungen geben konnten.


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