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Die Europäische Union als politisches Konzept

Von Ernst-Otto Czempiel

Nachfolgend dokumentieren wir ein Referat, das der Friedenswissenschaftler Ernst-Otto Czempiel auf der Sommerakademie der ÖSFK am 10. Juli 2004 auf Burg Schlaining (Burgenland/Österreich) gehalten hat. Die Überschrift stammt von uns. Der Beitrag wird zusammen mit den anderen Referaten in einem Sammelband erscheinen.*


Dieser Beitrag geht von einem Begriff von Sicherheit aus, den ich als einen umfassenden Sicherheitsbegriff bezeichne, einen Begriff, der den Erwartungen jedes Einzelnen in seinem Lande entspricht, nämlich: nicht bedroht zu werden. Also nicht nur in der Lage zu sein, sich zu verteidigen, wenn man überfallen wird, sondern nicht überfallen zu werden. Sicher zu sein, dass man nicht überfallen wird, diese Sicherheit bietet der Nationalstaat, und im internationalen System ist sie nicht, noch nicht gegeben. Sicherheit würde eben erst dann bestehen, wenn in einem internationalen System eine Situation herrscht, in der auf Dauer und verlässlich gewährleistet ist, dass zwischenstaatliche wie innerstaatliche, zwischengesellschaftliche wie innergesellschaftliche, politische Konflikte generell und ausnahmslos gewaltfrei bearbeitet werden. Das ist umfassende Sicherheit. Sie ist nicht identisch mit Verteidigungsfähigkeit, sondern gilt in Situationen, in denen die Verteidigungsfähigkeit gar nicht mehr gebraucht wird, sie ist nicht identisch mit dem so genannten erweiterten Sicherheitsbegriff, der den klassischen Sicherheitsbegriff der Verteidigung nur semantisch verbrämt und auf weitere Politikfelder erstreckt, sondern allumfassend. Insofern ist sie neu, aber nicht utopisch. Denn wir haben diesen Zustand schon innerhalb der Europäischen Union, seit dem 1. Mai 2004 , innerhalb von 25 Ländern in Europa, die über Jahrhunderte hin die Hauptkriegsherde der Welt waren. Wir haben diesen Zustand in vielen Friedenszonen der Welt, wir haben ihn auch zum Beispiel im Verhältnis zwischen Nordamerika und Kanada. Dieser Zustand ist also überhaupt nicht utopisch, wir wissen auch, wie er hergestellt werden kann, wir haben es nur wieder vergessen oder wir haben es bisher nicht verstanden, die Strategien zu selektieren, die diese Zustände in Europa heraufgeführt haben, und sie passend zu machen, fähig zu machen für die Anwendung in der ganzen Welt.

Die Frage meines Beitrages lautet: Ist die Sicherheitspolitik der Europäischen Union so konzipiert, dass sie diese umfassende Sicherheit erzeugt, in Europa und in der Welt? Und das heißt, dass sie die drei großen Gewaltursachen, die es in der Welt gibt, die drei großen Kriegsursachen eliminiert?
  1. die Anarchie des internationalen Systems und die Machtverteilung darin,
  2. diktatoriale/autoritäre Herrschaftssysteme und der Einfluss der Interessengruppen und
  3. die Interaktion und die dazugehörige Kompetenz der Akteure.
Ohne diese drei Gewaltursachen hier näher ausführen zu wollen,[1] ist es ist mir aber wichtig, sie an den Anfang unserer Überlegungen zu stellen, weil Sicherheitspolitik, eine Politik, die diese umfassende Sicherheit herbeiführen soll, Strukturen verändern muss und Prozesse, vor allen Dingen aber Strukturen, nämlich die Anarchie des Systems beseitigen, um die Demokratisierung der Herrschaftssysteme zu ermöglichen und die Interaktion zu steuern. Daher die Frage: Ist die Sicherheitspolitik der Europäischen Union innerhalb der Sicherheitspolitik des Westens in ihrer Anlage stimmig?

Doch gibt es diese Europäische Union. Es gibt den Namen, sein Inhalt ist schillernd, vage und in einer dramatischen Entwicklung befindlich. Ich verstehe unter Europäischer Union ihre gegenwärtige Organisation auf ihrem Wege in die Zukunft, in ihrer aktuellen Erweiterung um zehn Mitglieder und in ihrer Vertiefung in Gestalt der zwar jetzt beschlossenen, aber noch nicht ratifizierten Verfassung.

Unter ihrer Sicherheitspolitik verstehe ich das gegenwärtige Gemenge aus gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik und der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. In die Details dieser Mixtur zu gehen, ist hier nicht der Ort. Daher werde ich an Stelle dieser beiden sich überschneidenden Begriffspaare den Begriff der Außen- und Sicherheitspolitik gesamtheitlich verwenden und darin zugleich die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit fassen, die Teil der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist, obwohl zumeist niemand genau weiß, wenn die Europäische Union etwas macht, was sie da macht und als was sie das macht.

Die Europäische Union als politisches Konzept

Die Europäische Union ist in erster Linie eine politische und wirtschaftliche Union, sie ist auch eine Rechtsunion mit einer zunehmenden Fülle der Außenbeziehungen, mit einer zunehmenden Fülle der Binnenregelungen. Sie ist ein Regionalstaat im Werden, eine außerordentlich interessante Konstruktion, die nicht verwechselt werden sollte mit der Vergrößerung eines Nationalstaats. Der Regionalstaat Europäische Union wird ein Staat neuen Typs sein. Er wird sich vom Nationalstaat so unterscheiden, wie er sich vom Territorialstaat unterscheidet. Trotzdem wird er ein Regionalstaat mit globaler Reichweite werden, aber einer, der seinen Hauptakzent auf der inneren Integrations- und Befriedungsleistung hat. Genau dies ist in der Erweiterung um die zehn neuen Mitglieder deutlich zum Ausdruck gekommen, die innere Integrations- und Befriedungsleistung der Europäischen Union ist ein außerordentlich wichtiger und gar nicht zu überschätzender Beitrag.

Die Europäische Union ist zwangsläufig ein globaler Akteur, einfach schon wegen ihrer Größe mit 450 Millionen Einwohnern, und verantwortlich für ein Viertel des Bruttosozialproduktes der Welt, mit der Tatsache, dass sie über das gesamte Spektrum der außen- und sicherheitspolitischen Instrumente verfügt, von der Ökonomie bis hin zum Militär. Als globaler Akteur ist sie auf der Suche nach ihrer Rolle und nach ihren Möglichkeiten.

Die Außen- und Sicherheitspolitik ist der schwierigste Politiksektor, den es gibt, der letzte, der integriert werden dürfte. Die Außenpolitik war immer schon die letzte "heilige Kuh" des europäischen Nationalstaats, und sie wird es bleiben. Dies war auch historisch so bei der Europäischen Union, angefangen von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die keinerlei außenpolitische Kompetenz hatte, über die Europäische politische Zusammenarbeit (EPZ), die immer eine zwischenstaatliche Kooperation war, bis hin zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), die das immer noch ist. Sie ist nach wie vor eine zwischenstaatliche, eine intergouvernementale , keine integrierte Angelegenheit.

Die neue Verfassung hat zwar letzthin eine bessere und verständlichere Gliederung erfahren, die Außen- und Sicherheitspolitik erscheint in Artikel 5 dieser Verfassung mit den darin aufgeführten einzelnen Politikfeldern. Aber in der Sache hat sich nicht sehr viel geändert. Die Außen- und Sicherheitspolitik wird im Wesentlichen einstimmig entschieden werden, also mit dem Vetorecht eines jeden Staates, die drei großen Regelwerke der verstärkten, der strukturierten oder der engeren Zusammenarbeit sind alle abhängig davon, dass ihnen entweder alle oder jedenfalls die qualifizierte Mehrheit der Staaten zustimmen. Diese Konstruktionen sind mehr dazu geeignet, die weitere Integration der Außen- und Sicherheitspolitik zu verhindern, als sie zu erleichtern, sie dienen auch dazu, diese Kooperationen zu erschweren. Immerhin wird es einen europäischen Außenminister geben, immerhin gibt es die Solidaritätsklausel, also eine etwas engere Zusammenarbeit bei der Abwehr des Terrorismus. Dabei bleibt - wohl juristisch - zu klären, was eigentlich aus dem Artikel 5 des WEU-Vertrages geworden ist, nachdem auch sie in die Europäische Union eingegliedert worden ist? Der Artikel 5 enthielt explizit eine Verteidigungsverpflichtung, die sehr viel stärker formuliert war als der Artikel 5 des NATO-Vertrages.

Es gibt immerhin die engere Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Verteidigung, und ich denke, es wird jeder Verfassung so gehen, wie es der Europäischen Union seit 1992 und der europäischen Integration immer schon gegangen ist. Alles klingt zwar besser, als es ist, aber alles wirkt im Endeffekt besser, als es gemeint war. Die Erfahrung zeigt, dass die Sachzwänge, die auf die Verteidigungspolitik der Europäischen Union einwirken, letztendlich die Integration verstärken, weil sich auch bei den Politikern der Eindruck durchsetzen muss, dass sie entweder zusammenhängen oder zusammen hängen werden.

Die strukturfunktionale Analyse zeigt sehr deutlich und gegen alle Unkenrufe seit 1957, die verhallt sind im Dunkeln der Nacht der europäischen Integration - wie viel aus der Europäischen Union schon geworden ist; man muss nur akzeptieren, dass aus ihr nun das werden wird, was ihr Endzweck ist, eben jener europäische Postnationalstaat.

Ein Grund, warum sich das Feld der Außen- und Sicherheitspolitik der Integration so erfolgreich versagt, ist die Bewahrung der Souveränität. Alle europäischen Staaten beharren darauf und haben sich ihre eigene Außen- und Sicherheitspolitik bewahrt.

Der zweite wichtige Grund dafür ist zweifellos das Interesse der Vereinigten Staaten am Fortleben der NATO und an der Fortgeltung der amerikanischen Führung bei der Gestaltung der europäischen Verhältnisse - die NATO ist das Hauptinstrument amerikanischer Europapolitik.

Vor allem dieses zweite Interesse, auf amerikanischer Seite, ist ein bedeutendes Hindernis, zumal ihm auf europäischer Seite ein komplementäres Interesse entgegenkommt. Großbritannien, aber auch kleinere europäische Staaten wie etwa Dänemark und Holland bevorzugen nach wie vor die Kooperation mit den Vereinigten Staaten auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik gegenüber einer französischen, deutschen Dominanz, einer eigenständigen, von Frankreich und Deutschland geführten Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union. Das muss man als fact of life hinnehmen, so ist es, und es wird sich wohl erst langsam zurückbilden. In der Gegenwart jedenfalls ist dies wohl auch die Einstellung mehrerer Staaten Osteuropas, die von Rumsfeld als das "neue Europa" bezeichnet worden sind. Diese Einstellungen erschweren die Vertiefung der europäischen Sicherheits- und Außenpolitik. Dabei kommt hinzu, dass die Vereinigten Staaten grundsätzlich gegen die Aushöhlung der NATO, gegen die Emanzipation der Europäer auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik sind. Die Emanzipation Europas auf dem Gebiet der Wirtschafts-, Währungs- und Handelspolitik haben sie nicht verhindern können, sie werden aber alles Erdenkliche tun, um zu verhindern, dass in diesem auch für die USA wichtigsten Punkt - Außen- und Sicherheitspolitik - die Europäische Union ihre Emanzipation vollendet und sich gegenüber den Vereinigten Staaten zu einem gleichberechtigten Allianzpartner entwickelt.

Diese Tendenz, die Europa zweifellos innewohnt und die nicht aufzuhalten sein wird, zumal sie sich seit 1962 im Atlantischen Bündnis vollzieht, ist außerordentlich konfliktträchtig. In der Geschichte hat nichts so viele Kriege erzeugt, wie der Versuch eines Staates oder einer Staatengruppe, die Machtposition eines anderen Staates oder einer anderen Staatengruppe zu verringern. Früher wurde dergleichen Hegemonialkrieg genannt, heute würde man von der Konfliktträchtigkeit einer Veränderung der Machtverteilung in einem internationalen System sprechen. Zu betonen bleibt: Dies ist außerordentlich gefährlich, ist gewiss auch kriegsträchtig, und selbst wenn man nicht davon ausgehen muss, dass es im atlantischen Verhältnis einen Krieg geben wird, so wird es doch eine Auseinandersetzung bis kurz vor dem Messer geben. Wir können sicher sein, dass sowohl die Vereinigten Staaten jeden Zentimeter ihrer Machtfülle verteidigen werden, wie andererseits die Europäer mit Deutschland und Frankreich im Zentrum versuchen werden, immer mehr Zentimeter der Machtverteilung im atlantischen Verhältnis hinzu zu gewinnen. Denn diese Machtverteilung ist asymmetrisch. Während die Symmetrierung im Wirtschafts-, Handels- und Währungsbereich bereits erreicht wurde, steht sie auf diesem Gebiet noch aus und wird nur sehr schwer und sollte nur sehr vorsichtig betrieben werden, um letztlich die Atlantische Gemeinschaft, die nicht identisch ist mit der NATO, nicht zu zerstören.

Wir haben die Gefährlichkeit, die Brisanz dieses Problems der Machtveränderung im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg gesehen; wir haben gesehen, dass auf den Gipfelkonferenzen dieses Jahres, vom D-Day bis nach Istanbul, diese Machtkonkurrenzen übertüncht, aber keineswegs beseitigt worden sind. Die von Bush beabsichtigte Einschaltung der NATO im Irak ist nicht ganz gelungen, aber doch in gewisser Weise, insofern die NATO sich bereit erklärte, bei der Ausbildung irakischer Polizeikräfte mitzuwirken. Das ist weniger, als Bush vorhatte, aber mehr, als die Europäer eigentlich geplant hatten. Denn die NATO und ihre zunächst harmlose Mitarbeit bei Verwaltungs- oder administrativen Tätigkeiten (wie der Ausbildung von Polizisten) war schon immer Türöffner für ein Engagement der NATO insgesamt. Und das ist genau das, was die Vereinigten Staaten beabsichtigen, nämlich die NATO als ihr Führungsinstrument beizubehalten und die Europäer jenseits der Emanzipationsinteressen der Europäischen Union über die Mitarbeit der meisten Staaten in der NATO wieder unter das Joch der amerikanischen Führung zu zwingen und dazu zu bringen - mit einem etwas übertreibenden, in Amerika gängigen Begriff -, als "Putzfrau" der Vereinigten Staaten zu arbeiten. Der Plan der Bush-Administration ist eindeutig: Eroberung des Irak als erster Schritt, Eroberung des Iran als zweiter Schritt, mögliche Besetzung weiterer Teile des Mittleren Ostens als dritter Schritt. Afghanistan ist schon besetzt. Dies alles ist nur zu schaffen, wenn die NATO "das Geschirr spült", um eine weitere gängige Metapher zu verwenden, das die Vereinigten Staaten als Koch der Weltpolitik bei ihrem Versuch der selektiven Weltherrschaft hinterlassen, als Kennzeichen des Unilateralismus der Bush-Administration.

Die Europäer wollen hier nicht mitmachen, und wir haben in Istanbul 2004 gesehen, wie sehr sich vor allem Frankreich und Deutschland gesperrt haben. Die alte Konstellation vom Frühjahr vorigen Jahres ist nach wie vor aktiv, und es wird interessant sein abzuwarten, ob und in welcher Weise sich das Bündnis oder nur einzelne Staaten im Irak engagieren und was passiert, wenn NATO-Truppen, sollten sie je dort als Ausbilder auftreten, von irakischen Widerstandsterrorismusaktivitäten angegriffen werden.

Der Prozess der Emanzipation Europas aus der amerikanischen Führung ist weiter im Gange, er ist hochsensibel und zugleich aktuell, und er wird erst in dem Moment aufhören, in dem auch hier, auf diesem Sektor der Außen- und Sicherheitspolitik, die Symmetrie mit den Vereinigten Staaten hergestellt worden ist. Asymmetrische Machtverteilung lässt den Europäern keine andere Chance, sie wollen die gleiche Augenhöhe mit den USA. Und dagegen ist nichts einzuwenden, weil nur diese Symmetrierung des letzten Gebietes dazu führen wird, dass die Atlantische Gemeinschaft, ich sage es noch einmal: nicht die NATO, als Kooperation zwischen Westeuropa und den Vereinigten Staaten eine Zukunft hat, die über die hinausgeht, die sie während des Kalten Krieges inne gehabt hat.

Europa soll nicht das Gegengewicht der Vereinigten Staaten werden, sondern ihr gleichberechtigter Partner, ein Partner, der in arbeitsteiliger Kooperation mit den Vereinigten Staaten, aber eben selbständig und auf Grund von Entscheidungen, die in Europa gefasst werden, mit den Vereinigten Staaten zusammenarbeitet. So muss die europäische Außen- und Sicherheitspolitik im Bereich der atlantischen Gemeinschaft angegangen und angelegt werden, und man sollte sich nicht in die Ecke des Anti-Amerikanismus schieben lassen, wenn man die These vertritt, dass diese Symmetrierung unbedingt erforderlich ist, unausweichlich, um die Atlantische Gemeinschaft nicht zerfallen zu lassen.

Inhalte der Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union

Der Betrachtung der Inhalte der Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union setze ich die These voran, dass die Europäische Union sehr viel aktiver auf diesem Gebiet gewesen ist, als es bisher den Anschein hat und als sie bisher für sich in Anspruch nimmt. Hervorgehoben werden immer die neuerlichen Nachrückaktivitäten der EU dort, wo die NATO sich zurückzieht. Sei dies bei der Übernahme der SFOR-Mission in Bosnien-Herzegowina, bei den Stabilisierungsfunktionen in Mazedonien, bei der Friedensmission Artemis im Kongo. So unbestritten wichtig dies ist, verbleibt es doch am Rande der europäischen Zivilmacht und daher mehr im Hintergrund meiner Überlegungen. Auch wenn zu fragen bliebe, ob Europa aufrüsten muss und militärische Aktivitäten übernehmen muss, geht es mir um die außenpolitische Politik der Europäischen Union. Und hier muss man, in allererster Linie, die politische Intervention der Europäischen Union in die Herrschaftssysteme der Beitrittskandidaten im Rahmen der Heranführungsstrategie der Europäischen Union erwähnen. Die Erweiterung der Europäischen Union, unabhängig von ihrer Vertiefung, die Tatsache, dass sich 25 Staaten West- und Osteuropas in einer organisatorischen Einheit zusammengefügt haben, erfolgreich zusammengeführt worden sind, und dass zu diesem Behufe die Herrschaftssysteme Osteuropas demokratisiert worden sind und auf diese Weise eine maßgebliche Gewaltursache beseitigt haben, das halte ich für die wichtigste und in ihrer Bedeutung gar nicht zu übertreibende Friedensleistung der Union. Die Union hat diesen Halbkontinent, der über 300 Jahre lang der Kriegsherd Europas war, wirklich befriedet. Das ist eine Leistung, die wir besonders hoch bewerten sollten. Ohne dass die dies bewirkende Politik als Außen- und Sicherheitspolitik bezeichnet wurde, war sie dies und ist es nach wie vor: die Erweiterung der Union als Befriedung Europas. Die Schaffung der europäischen Friedenszone ist die zentrale Leistung der Europäischen Union.

In diesem Zusammenhang gehört die Drittwelt- und Entwicklungspolitik der Europäischen Union, zuvor der Europäischen Gemeinschaft und ihr voraus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Denn diese Entwicklungspolitik, Drittweltpolitik und Handelspolitik gibt es seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957. Sie hat die massiven außenpolitischen und sicherheitspolitischen Wirkungen erzeugt, die die Europäische Union so gerne unterschlägt. Sie tut so, als hätte sie keine Außenpolitik betrieben, und dabei hat sie im Rahmen beispielsweise der AKP-Politik, seit fast 50 Jahren, eine intensive Außen- und Sicherheitspolitik verfolgt, jedenfalls eine Politik, die massive außen- und sicherheitspolitische Wirkungen gezeitigt hat, mit denen wir es bis heute zu tun haben. Denn diese AKP-Politik war kein besonderes Ruhmesblatt der Europäischen Gemeinschaften. Schwarzafrika ergeht es seit der Assoziation mit der Europäischen Union schlechter als zuvor, die Konflikte im Gebiet der großen Seen, der ungeheuerliche Genozid in Ruanda sind mitten im Einflussgebiet der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik passiert. Der Barcelona-Prozess für die euro-mediterrane Partnerschaft wurde erst 1995 ins Leben gerufen und ist nur sehr schwach ausgestattet worden, die Herausforderungen durch den islamischen Extremismus, der Bürgerkriegssituation in Zagreb blieben unbewältigt. Alles das, was hier eigentlich unter diesem Aspekt Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union behandelt werden müsste, aber nicht behandelt wird, muss in ihr groß geschrieben, in ihr Bewusstsein gerückt werden, weil es eine absolut negative Bilanz aufweist. Eine negative Bilanz, die im Wesentlichen auf die zweite Gewaltursache zurückzuführen ist, die eingangs genannt wurde: Einfluss der Interessengruppen. Ob wir die Politik der Europäischen Union in Afrika ansehen, oder die Politik der Europäischen Union gegenüber der Marktöffnung oder insbesondere den Agrarprotektionismus, dann wird offensichtlich, welchen Einfluss die Interessengruppen auf diese Politik nehmen, deren außen- und sicherheitspolitische Konsequenzen gar nicht abzusehen sind.

Die Europäische Union führt mithin seit langem eine hochwirksame Außenpolitik mit erheblicher sicherheitspolitischer Bedeutung, aber leider bei weitem nicht mit den positiven Leistungen, die sie für sich selbst, für Inner-Europa zu erzeugen vermochte.

Immerhin aber hat sie im Dezember des vergangenen Jahres ein Strategiepapier vorgelegt, das sogenannte Solana-Papier.[2] Dieses Papier mit dem Titel "Ein sicheres Europa in einer besseren Welt" wurde am 12. Dezember 2003 dem Europäischen Rat in Brüssel vorgelegt und von diesem angenommen. Es enthält erstmals eine schriftliche Niederlegung der außen- und sicherheitspolitischen Identität der Europäischen Union einen Katalog der Zielsetzung und der Instrumente. Es ist ein Art Highlight der Europäischen Politik und ein durchaus modernes Instrument, das sich deutlich von der Bush-Doktrin unterscheidet, indem die Europäische Union sich auf eine multilaterale Weltordnung verlässt, keine unilaterale. "In einer Welt globaler Bedrohung", heißt es in diesem Papier, hängen unsere Sicherheit und unser Wohlstand von einem funktionsfähigen, multilateralen System ab. Die neuen Bedrohungen durch den Terrorismus werden zutreffend eingeschätzt und zwar als Bedrohungen, die nicht nur militärische, sondern vor allen Dingen politische Antworten erfordern. Bleibt dieses Papier im Großen und Ganzen ein zwar vages Papier, ein Papier, das immer noch eine gewisse Neigung hat, die militärische Seite von Sicherheit stärker zu betonen als die politische, so werden aber doch die politischen Positionen erheblich stärker betont, als das früher der Fall gewesen ist.

Das Solana-Papier ist eine implizite Alternative, eine überaus deutliche Alternative in Hinblick auf die Zielproblematik und die Strategiepräferenz zur Bush-Doktrin. Und sie wäre durchaus eine konzeptuelle Grundlage für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union wenn, ja wenn es nicht die NATO gäbe, die mit dem Europäer eine völlig andere Politik konzipiert hat und die diese Politik sehr viel konzentrierter ausformuliert - erinnert sei an den NATO-Gipfel von Prag im Dezember 2002, auf dem sich die NATO-Mitglieder zu einer Politik der traditionellen Expeditionscorps haben überreden lassen, die die selektive Weltherrschaft der Bush-Administration inhaltlich, thematisch, programmatisch und praktisch unterfüttert.

Die europäische Position also - zwischen Prag und Solana - ist absolut schizophren. Mit dem Hut Europas auf dem Kopfe formulieren die Europäer eine sehr deutlich erkennbare, brauchbare, entwicklungsfähige Außen- und Sicherheitspolitik - mit dem NATO-Hut aber, und der ist sehr viel größer oder passt sehr viel genauer, erzeugen die Europäer vor allen Dingen erhebliche praktisch politische Konsequenzen, mit dem NATO-Hut folgen sie der Präferenz der Bush-Administration für eine ausschließlich auf Militär gestützte Weltpolitik, die im Zeichen der Terrorismusbekämpfung Expansions- und Okkupationspolitik vorantreibt.

Das mag taktisch praktisch sein für die Europäer, weil es auch nur sehr wenigen Leuten auffällt, dass Europa mit gespaltener Zunge spricht, für die politische Weiterentwicklung der Europäischen Union und für die Identität ihrer Außen- und Sicherheitspolitik aber ist es verheerend. Denn wenn man die Sache von der Organisationsseite her ansieht, wird die sehr viel stärker durchorganisierte NATO mit ihren eingefahrenen und bewährten Entscheidungsmechanismen den Vorrang behalten und sich immer wieder durchsetzen, sobald und wo immer sie in Konkurrenz zur Europäischen Union und ihrer Außen- und Sicherheitspolitik steht. Gerade deswegen muss man den Kompromiss in Istanbul mit großer Vorsicht genießen. Die NATO ist eine außerordentlich starke Klammer, die die Europäer zu Politiken verleitet, die sie als Europäische Union abgelehnt haben. Nur unter der Hand gestehen sie sich ein, dass die NATO schon dabei ist, auch praktisch im Kielwasser Amerikas zu segeln, erarbeitet sie doch derzeit die militärische Zusammenarbeit mit den Golfstaaten, erwägt auch die Ausdehnung des Programms "Partnerschaft für den Frieden", ist also dabei, sich organisatorisch und sogar institutionell bereits in den Mittleren Osten zu begeben - mit erheblichen Konsequenzen für die EU. Dies ist für die Europäer umso tragischer, als die amerikanische Politik in diesem Bereich absolut negative Konsequenzen bereits heraufgeführt hat: Amerikanische Staatsbürger müssen Saudi-Arabien verlassen, das amerikanische Militär ist aus dem Land abgezogen, amerikanische Staatsbürger müssen jetzt sogar Bahrain meiden, das Hauptquartier der 5. amerikanischen Flotte, weil ihre Sicherheit nicht mehr gewährleistet werden kann infolge der übermilitarisierten Gewaltpolitik der USA in der Nahost-Region. Und hier schiebt sich die NATO - sozusagen auf dem Verwaltungswege - schon hinein, ohne dass das in Europa diskutiert, kritisiert und, wenn es irgendwie ginge, verhindert würde.

Die Europäische Union betreibt also mit ihrer Außen- und Sicherheitspolitik eine zweiäugige Politik, von der das eine Auge nicht sehen will, was das andere Auge sieht, noch, was vor allen Dingen die dazugehörige Hand (auch schon) macht.

Hier ist zu fragen: Was sollte eigentlich die europäische Außen- und Sicherheitspolitik ausmachen, was sind die eigentlichen Herausforderungen?

Es sind deren drei, wiederum auch angelehnt an die drei hauptsächlichen Gewaltursachen, die es zu beseitigen gilt, aber aktualisiert an Hand der drei großen Ursachen des Terrorismus - der politische Terrorismus ist, und das wird weithin so gesehen, wirklich die akute Herausforderung der ganzen Welt, nicht nur der westlichen, sondern der ganzen Welt. Dieser Terrorismus wird erst zum Ende kommen, wenn seine drei Quellen zum Versiegen gebracht worden sind. Dieser Terrorismus ist in keiner Weise seriöser Provenienz und schon gar nicht ethnischer Provenienz, sondern politischer Provenienz. Er ist die Reaktion von - im Wesentlichen - Arabern, die sich von der westlichen Aggressions- und Okkupationspolitik zum Widerstand veranlasst sehen. Hieraus folgt, dass die Europäische Union in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik diesen aktuellen Anlass besonders berücksichtigen sollte, wenn sie die Ziele ihrer Politik eigenständig gegenüber denen der Bush-Administration formuliert.

Es sollten drei Ziele sein: erstens die Beseitigung der politisch-wirtschaftlich-militärischen Dominanz des Westens, die unter dem Stichwort Globalisierung läuft, denn hierin, in der ungleichartigen Machtverteilung, ist die erste Gewaltursache angelegt; zweitens, die Europäische Union sollte unbedingt die Weltarmut zu beseitigen suchen, die durch die Globalisierung verstärkt wird, die zweite Gewaltursache, denn die Armut wird im Wesentlichen heraufgeführt durch die Berücksichtigung der verschiedenen Interessen in der industrialisierten Welt. Und schließlich, drittens, muss die Europäische Union auf die Auflösung der Konflikte im Vorderen Orient hinarbeiten, angefangen vom Nahostkonflikt über den im Irak bis hin zu dem in Afghanistan und den kommenden Konflikten in den Scheichtümern, die dritte Gewaltursache hier, diktatoriale Herrschaftssysteme.

Herausforderungen der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik

Erstens: Die Dominanz sollte in multilaterale Weltführung umgewandelt werden, denn sie wird in allen davon betroffenen Ländern als Bevormundung, wenn nicht gar als Unterdrückung empfunden - Führung ist erwünscht, Dominanz hingegen, die keine Rücksicht auf die Interessen der Geführten nimmt, nicht. Alle Umfragen unter den politischen Eliten der Welt, die das amerikanische Pew-Zentrum vorgenommen hat, weisen das aus. Auch das in Stuttgart ansässige Institut für Auslandsbeziehungen hat vor kurzem eine sehr aufschlussreiche Zusammenstellung der Beiträge von sechs islamischen Angehörigen der Elite aus sechs islamischen Ländern veröffentlicht, die den Amerikanern und den Europäern die Leviten liest.[3] Beide Quellen zeigen eindringlich, was diese Dominanz des Westens angerichtet hat. Abzuhelfen ist hier durch eine Stärkung des Multilateralismus, der die Betroffenen beteiligt. Die Strategie hierfür liegt in der Stärkung internationaler Organisationen, der Vereinten Nationen wie vor allen Dingen regionaler Organisationen, das gilt selbstredend auch für die OSZE, die in Wien effektiv zentriert ist, das gilt gleicherweise auch für den Nahen und Mittleren Osten, für den eine solche Organisation überhaupt erst mal eingerichtet werden müsste, was bislang aber am Widerstand der Interessierten scheitert.

Die Europäische Union könnte in diesem Dialog mit den arabischen Gesellschaften, nicht deren Regierungen allein, sondern mit den arabischen Gesellschaften, der Westen könnte in diesem Multilateralismus, in diesem Dialog lernen, warum der politische Terrorismus die wirkliche neue Gefahr im 21. Jahrhundert darstellt. Solange der Westen seinen weithin undifferenzierten Terrorismusbegriff beibehält, mit dem er sowohl den blinden Terrorismus der Aum-Sekte wie zugleich alle Phänomene des palästinensischen wie des tschetschenischen Widerstandes zusammen mit dem politischen Terrorismus des 11. September und des 11. März in einen Topf wirft, solange benutzt er den "Terrorismus" nur als Aushängeschild, hinter dem sich seine Interessen realisieren lassen - so wie der Kommunismus während des Ost-West-Konflikts dazu gedient hat, resp. den Amerikanern dazu gedient hat, ihre Führungspolitik zu rechtfertigen.

Aufgabe der Sicherheitspolitik Europas müsste es sein, erst einmal den Dialog in Gang zu bringen, um zu hören, was auf der arabisch-islamischen Seite gesagt wird. Das wirksamste Instrument hierzu wäre eine regionale internationale Organisation. Wichtig wäre sodann, dass die Europäische Union die bewährten Strategien der Sicherheit, die in der Vergangenheit erprobt worden sind und die die Bush-Administration beiseite gelegt hat, wieder aktiviert, insbesondere die Rüstungskontrolle, vor allem die der Massenvernichtungswaffen. Sie wissen, dass die Bush-Administration stattdessen auf Counter-Proliferation setzt und aktuell, im Juni 2004, die ersten Raketenabwehrstationen der Vereinigten Staaten in Betrieb genommen hat - also ein ganz anderes Konzept verfolgt, ein Konzept das auf unilaterale Gewaltandrohung und Gewalteinsatz setzt, um die eigenen Ziele durchzusetzen; eine Politik die nachweislich zum Scheitern verurteilt ist, angesichts des Kooperationserfordernisses, ohne das eine Rüstungskontrolle niemals in Gang gesetzt werden kann.

Rüstungskontrolle hingegen ist die beste und auch die bewährte Form der Einhegung der militärischen Gewalt. Was sie bewirken kann, lässt sich an der OSZE und ihrer Leistung ablesen. Hier ist herauszuheben, dass in der OSZE die konventionelle Abrüstung in Europa vereinbart worden ist, in den zahllosen Wiener Dokumenten ein System der wirklich kontrollierten und verifizierten Rüstungskontrolle und Abrüstung eingerichtet worden ist, sodass wir es dieser Rüstungskontrolle mit ihrer Verifikation zu danken haben, dass wir in ganz Europa, eigentlich vom Atlantik bis hinter den Ural, einen Grad von Transparenz und wechselseitigem Vertrauen erzeugt haben, der in der Geschichte einmalig ist. Vor allen Dingen hat er die Voraussetzung kontinuierlicher Absenz des Bedrohungsgefühls erzeugt. In dieser Zone gibt es kein Sicherheitsdilemma mehr, kein Misstrauen, keine Unklarheiten. Und diese Zone umfasst eben auch, besser: reicht weit über das erweiterte Europa hinaus, umschließt den gesamten Bereich der früheren Sowjetunion und sogar, wenn auch mit einer gewissen Einschränkung, die Vereinigten Staaten.

Zu der modernen Strategie der Sicherheitspolitik sollte die Vorbeugung gehören. Und in das Zentrum der Vorbeugung gehört die Demokratisierung der Herrschaftssysteme. Das demokratische Herrschaftssystem ist der wichtigste Garant für den permanenten Gewaltverzicht eines Staates. Das wussten wir, als wir die Charta von Paris 1990 unterzeichnet haben, das haben wir leider wieder vergessen und sind wieder dabei, es neu zu vergessen, wiewohl die Europäische Union es bei der europäischen Erweiterung geistesgegenwärtig in den Vordergrund gestellt hat. Die Demokratisierung der Herrschaftssysteme war die Zugangsvoraussetzung für die Beitrittsländer. Auch für die NATO wie für die "Partnerschaft für den Frieden" gibt es solche, wenn auch weniger greifende Demokratieerfordernisse - etwa in der Unterstellung des Militärs unter die politische Leitung, etc. - die man auch nicht vernachlässigen sollte. Diese Demokratisierungsstrategie ist eine Interventionsstrategie. Sie mischt sich in die inneren Angelegenheiten eines fremden Staates ein, was bisher im Völkerrecht verboten ist, und zu Recht verboten, wenn es sich um eine gewaltsame Intervention handelt. Gewaltfreie Interventionen sind nicht verboten, und nur sie sind erfolgreich. Man muss das Interventionsverbot des klassischen Völkerrechts fallen lassen. Es muss die Außen- und Sicherheitspolitik eine Interventionspolitik werden, eine Politik, die sich gewaltfrei, aber erfolgreich in die inneren Angelegenheiten der Staaten einmischt, vor allen Dingen in das Zentrum des Herrschaftssystems. Was auf alle Fälle vermieden werden muss, ist die Anwendung militärischer Gewalt, sie ist das falsche Entree. Das kann man im Irak sehen, das kann man in Afghanistan sehen - und deswegen sind alle Demokratisierungsversuche dort solange ausgeschlossen, solange die Vereinigten Staaten dort als militärische Besetzer bleiben. Voraussetzung für jegliche Form erfolgreicher Einmischung wäre der Rückzug Amerikas, der Einzug der Vereinten Nationen oder einer anderen Internationalen Organisation, die jedenfalls nichts mehr mit dem unglückseligen Krieg der Vereinigten Staaten zu tun hat und deswegen möglicherweise Erfolg dabei haben könnte, in Afghanistan und im Irak das Herrschaftssystem zu verändern.[4]

Die zweite große Strategie, die die Europäische Union zu Sicherheitszwecken verfolgen sollte, ist die Beseitigung der Armut. Solana hat vorgerechnet, dass die 25 europäischen Unionsstaaten jährlich 160 Mrd. Dollar für ihre militärische Rüstung ausgeben,[5] also für eine veraltete Sicherheitsstrategie, die zwar Verteidigung ermöglicht, aber keine Sicherheit erzeugt. Weniger als die Hälfte, nämlich 60 Mrd. Dollar, so hat das World Watch Institute ausgerechnet,[6] würden reichen, um die Armut weltweit zu beseitigen. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen möchte nur 50 Mrd. Dollar dafür haben,[7] er bekommt sie aber nicht. Und hier sollte die Europäische Union gefragt werden - sie ist für diesen Zustand der Weltarmut mindestens zur Hälfte verantwortlich, weil sie praktisch die Hälfte der Weltwirtschaft bestreitet; und sie brauchte nicht auf die Vereinigten Staaten zu warten, die in vielen Punkten die Europäische Union sogar überholen. Vielmehr könnte sie von sich aus etwas tun, insbesondere ihre Märkte öffnen. Das gilt insbesondere für Afrika, dem die Union, wie oben ausgeführt, seit fast 40 Jahren eng verbunden ist. Wenn aber die Europäische Union jede europäische Kuh mit zwei Dollar täglich subventioniert, aber die Afrikaner südlich der Sahara pro Tag nur einen Dollar täglich zum Leben zur Verfügung haben, dann ist hier ganz deutlich zu sehen, wie die Agrarinteressen Europas direkt zur Armut Afrikas beitragen. Das gilt vergleichsweise auch für die Amerikaner, deren Baumwollsubventionierung so hoch ist, dass die Baumwollproduktion in Afrika praktisch zum Erliegen gekommen ist. Die Beseitigung der Armut, das ist langfristig die wichtigste Vorraussetzung für die Erzeugung jener umfassenden Sicherheit, die wir in Europa geschaffen haben und in der Welt brauchen.

Zum Abschluss dieses Beitrages noch ein Wort zum Nahost-Konflikt. Dieser Nahost-Konflikt müsste beendet werden, die Europäer sollten die Macht, über die sie reichlich verfügen, einsetzen, nämlich die Definitionsmacht. Sie könnten dafür sorgen, dass dieser Konflikt nicht hinter dem Terrorismusvorhang verschwindet, sondern hervorgezogen wird und eine seiner wichtigsten, nämlich die wichtigste Quelle schlechthin, angegangen wird. Meine These ist: Das Ende des Nahost-Konfliktes würde 80 % des Terrorismus aus dieser Welt beseitigen, und mit dem Rest können wir uns abfinden.

Sicherheitspolitik also ist nicht als Verteidigungspolitik zu denken und zu planen, sondern als Beseitigung der Gewaltursachen, die ich allgemein formuliert und dann konkretisiert habe: Außenpolitik ist nicht auf militärische Gewalt zu stützen, sondern auf politische Macht und auf ein aufgeklärtes Selbstinteresse, das die Interessen der anderen berücksichtigt, wie es Morgenthau gesagt hat. Diese anderen sind vor allem alle übrigen Gesellschaften. Wer ihren Konsens erzeugt, wer ihren Konsens für sich und seine Politik gewinnt, der hat diejenige Sicherheit gefunden, die ich eingangs als umfassende Sicherheit bezeichnet habe.

Nachträge aus der Aussprache [8]

Die erste Frage beschäftigt sich mit dem Nahostkonflikt. Ein Gebiet, das ich bewusst etwas kurz gehalten habe, weil es einer sehr ausführlichen und detaillierten Auseinandersetzung an sich bedarf, um dieses schwierige Problem überhaupt richtig zu besprechen. Meine These ist, dass weder Israel noch die Palästinenser in der Lage sind, nach 50-jährigem, zunehmend gewaltsamen, Kampf eine Friedenslösung zu erreichen. Die beiden Kampfparteien sind derart ineinander verkrallt, dass man die Forderungen, die von beiden Seiten erhoben worden sind, so überhaupt gar nicht umsetzen kann. Wenn also, wie Sie gesagt haben, von Amerika aus Strukturveränderungen der Palästinenser gefordert werden, ist es sicherlich in dem Sinne zu verstehen: Es ist ganz ausgeschlossen, dass das passiert, solange große Teile des palästinensischen Gebietes besetzt sind. Die Forderung nach Demokratisierung der Palästinenser ist auch der Versuch, die Friedenslösung und deren Inhalt, derer man sich eigentlich seit den verschiedenen Papieren, die da vorgelegt worden sind, im Klaren ist, weiter rauszuschieben, ebenso wie die Palästinenser ihrerseits die Einstellung der militärischen Gewalthandlungen der Israelis fordern. Insofern, denke ich, ist dieser Konflikt den Partnern völlig aus der Hand geglitten, er sollte mindestens einer neuen internationalen Konferenz zugeführt werden - einem Madrid II. Bilateralisierung der Konfliktlösung führt zu gar nichts und die Multilateralisierung der Konfliktlösung hat, wie wir es in Madrid gesehen haben, die erste wirkliche Friedenschance eröffnet. Die Gegner dieses Friedens haben zehn Jahre gebraucht, um ihn wieder umzustoßen. Deswegen also mein Vorschlag, entweder eine neue multilaterale Konferenz ŕ la Madrid oder, was, glaube ich, hier wirklich noch angemessener wäre, der Einsatz der NATO zu einer robusten Friedenssicherung, die erst mal auf Jahre hin diese beiden Bevölkerungsteile trennt, ohne Mauer, und erst mal die Ruhe dafür schafft, dass überhaupt auf beiden Seiten die Besonnenen zu Wort kommen können.

Ich glaube, das war auch Ihre Frage. Dass Israel eigentlich eine Demokratie ist, das ist völlig richtig. Aber Demokratien sind, wenn sie angegriffen werden, unter Umständen, nicht nur unter Umständen, sondern meistens, wie schon Tocqueville festgestellt hat, unerbittlicher in der Bekämpfung dieser Herausforderung, als es Monarchien je gewesen sind. Und hier können Sie auch sehen, wie die Herausforderung von außen, die man sich ja blutiger gar nicht vorstellen kann, natürlich auch die Demokratie im Inneren eingeschränkt hat. Also kann man hier von Israel, muss man von Israel, von einer Demokratie im Belagerungszustand sprechen, und das heißt, es ist nur noch eine ganz rudimentäre Demokratie. Und trotzdem ist es wichtig, dass die Hälfte der israelischen Bevölkerung eine friedliche Aussöhnung mit Palästina haben möchte. Und umso mehr denke ich, und ich glaube auf der palästinensischen Seite ist es ähnlich, gerade wenn man die Interessen der israelischen Gesellschaft - nicht notwendigerweise die des Likud-Blocks, die beiden halte ich nicht für identisch - wenn man die Interessen der israelischen Gesellschaft berücksichtigt, wäre ein Eingriff von außen nicht nur dringend erforderlich, sondern auch ganz im Interesse der Betroffenen - in Israel wie in Palästina.

Natürlich sind die 80 %, die Verminderung des Terrorismus um 80 %, eine Faustformel, aber sie bringt ihn in ein quantitatives Verhältnis, was eigentlich jeder sagt, den Sie fragen würden - der israelisch-palästinensische Konflikt wird seit jeher und zunehmend seit der Ersten und der Zweiten Intifada in den arabischen Gesellschaften als Manifest westlicher Unterdrückungspolitik begriffen. Und Sie müssen ihn sich mal von dieser Seite aus ansehen. Nicht umsonst ist die Zweite Intifada mit der Verschärfung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern durch Sharon und Bush auf die Beine gekommen, und nicht umsonst ist der Terrorismus seitdem angeschwollen, und vor allem natürlich seit dem Irakkrieg, wie der Krieg gegen Afghanistan im minderen Maße, ebenso wie die vorangegangenen zehn Jahre diskriminierende Aktionen als Unterdrückung arabischer Staaten durch den Westen begriffen und ausgegeben wird. Das finden Sie bei allen arabischen Regierungen, gemäßigt, wie sie sind, das finden Sie als verbreitete Meinung in allen arabischen Gesellschaften. Und der extreme Ausdruck, der von den Gesellschaften nicht geteilt wird, aber dessen Ansatz sozusagen, dessen politische Richtung sehr wohl geteilt wird, dieser extreme Ausdruck ist der Terrorismus. Wenn wir diese drei Konflikte, insbesondere den israelisch-palästinensischen, endlich nach 50 Jahren gelöst haben werden, wenn sich Amerika aus dem Irak zurückzieht, wird diesem Terrorismus die wichtigste Quelle entzogen. Und dann fällt er so zusammen, wie die RAF in Deutschland zusammengefallen ist, weil sie keinen Rückhalt mehr in der Bevölkerung hatte. Der Terrorismus sucht immer den zu beteiligenden Dritten, und der ist inzwischen, leider muss man sagen, in der ganzen arabischen Welt zu finden.

Wichtig erscheint mir auch der Beitrag der neutralen Länder in Europa zur Friedenspolitik. Das ist deswegen besonders wichtig, weil die neutralen Länder für den Gewaltverzicht stehen, weil sie sozusagen in ihrer Neutralität diesen wichtigen Bestandteil einer modernen Sicherheitspolitik personalisieren und politisch repräsentieren. Deswegen, denke ich, könnten und sollten gerade die Neutralen auf diesem Aspekt bestehen und Einwände erheben gegen das Solana-Papier, Einwände erheben auch gegen die Tendenz der Militarisierung der europäischen Sicherheitspolitik im Gefolge des Kölner Gipfels und des Gipfels von Helsinki, wo ja eine eigene europäische Streitmacht, eine eigene militärische Komponente der Europäer aufgebaut wird, die jetzt auch ein eigenes Hauptquartier in Gestalt einer Planungszelle in der Europäischen Union hat, aber die weiter vorangehen wird, einfach weil hier auch massive Interessen der europäischen Militärs vorliegen. Ich vertrete zwar die These, dass die Europäer eine größere militärische Komponente brauchen, einfach um die Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten zu erreichen, aber ich vertrete keinesfalls die These einer größeren Aufrüstung, sondern, wenn überhaupt, die einer Umrüstung. Die Europäer geben genug Geld für eine völlig veraltete Verteidigung aus, die Deutschen jedenfalls stellen dauernd Panzer her, die kein Mensch mehr braucht, aber deren Produktion nachgefragt wird von den Rüstungsindustrien, die in der Lage sind, diese Panzer herzustellen.

Ein amerikanischer Verteidigungsminister, ich glaube, es war Cohen, hat vorgerechnet, dass die Verteidigungsetats der europäischen Länder 60 % des Volumens des amerikanischen haben, aber ihre militärische Effektivität beträgt nur 10 %. Wenn wir also im Bereich der Logistik, im Bereich der Transportfähigkeiten uns so von den Vereinigten Staaten abkoppeln müssen, dass wir in der Lage sind, eine Aktion wie die in Bosnien-Herzegowina oder die in Mazedonien auch auszuführen, ohne auf amerikanisches Gerät zurückzugreifen - wenn ich auch hier der Meinung bin, dass man in der Welt wie sie ist, auch eine militärische Komponente haben muss, dann heißt diese Meinung nur, dass man auch eine militärische Komponente im Rückhalt der politischen Macht haben muss, aber wie Clinton gesagt hat, eine Politik führen muss, die den Einsatz der militärischen Komponente absolut unnötig macht - also man muss sie haben, aber man darf sie nicht gebrauchen. Das, denke ich, sollte die These der Neutralen sein.

Was die Eindämmung der atomaren Proliferation anlangt, bin ich der Meinung, dass die Counterproliferations-Politik der Bush-Politik zusammen mit der entsprechenden Aufrüstung falsch ist, weil sie die Nachrüstung der Staaten auf dem Gebiet der Massenvernichtungswaffen geradezu erzwingt. Deswegen halte ich auch für völlig falsch, was Sharon zu El Baradei gesagt hat, nämlich dass die Bedrohung Israels durch die arabischen Staaten seine Nuklearrüstung geradezu erzwingt. Das ist vollkommen veraltetes Denken, weil jeder, der die Dynamik von Rüstungswettläufen kennt, weiß, dass auf jede Vorrüstung eine Nachrüstung erfolgt, und Israel erst in dem Moment sicher sein wird, in dem im Mittleren Osten eine Zone der Denuklearisierung, eine atomwaffenfreie Zone, errichtet sein wird, genauer: eine Zone, die frei ist von Massenvernichtungswaffen. Und ich erinnere Sie an die Resolution des Sicherheitsrates 978, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, von 1991, in deren § 14 steht, dass die Abrüstung des Irak den Anfang machen soll zu einer Abrüstung der gesamten mittelöstlichen Region - das ist die richtige Antwort auf die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen im Mittleren Osten und auf der ganzen Welt. Deswegen bin ich der Meinung, dass der Nichtweiterverbreitungsvertrag der Nuklearwaffen unbedingt verlängert, aber sicherlich im Verifikationsbereich verschärft werden sollte.

Die nächste wichtige Frage ist die Europäische Union, die kein Regionalstaat wird, weil sie keine Außenpolitik hat. Also erst mal habe ich ja gesagt, sie ist im Werden, und sie macht schon erhebliche Schritte voraus. Vergleichen Sie das mal, was jetzt verabschiedet worden ist, mit der Situation 1980, mit der Gemeinsamen Europäischen Akte - wir machen Schritte voraus. Aber ich möchte gerne der These widersprechen, dass man Staat erst wird, wenn man eine Außenpolitik hat. Staat wird man, wenn man eine Innenpolitik hat - und friedlicher Staat wird man, indem man den Akzent auf die Innenpolitik legt. Und wenn Sie meinem umfassenden Sicherheitsbegriff folgen, dann ist die Herstellung einer Welt, in der es gar keine Feinde mehr gibt, genau in dieser Linie des Fortschritts zu sehen - ein Staat wird man, indem man seine Binnenverhältnisse gemeinsam regelt, und in dem Maße, in dem die Europäische Union das tut, gewinnt sie eine postnationalstaatliche Staatlichkeit. Deswegen wird sie eine außenpolitische Komponente brauchen, das ist unbestritten, das habe ich auch gesagt, aber ihre eigentliche Identität gewinnt sie in der Innenpolitik. Ich gebe Ihnen Recht, wenn Sie sagen, zwischen Vertiefung und Erweiterung klafft ein Widerspruch, der klaffte da von Anfang an, das war eine semantische Zauberformel, die die Politik unter Kohl erfunden hat, um zwei gegensätzliche Interessen semantisch zu harmonisieren. Solange sie, was sie mit der Erweiterung zu einem großen Teil schon gemacht hat, die Herrschaftssysteme, die Rechtssysteme und die Sozialsysteme, von den Wirtschaftssystemen mal ganz zu schweigen, in Europa angleicht, erbringt sie einen großen Schritt in Richtung postnationaler Staat.

Dass wir eine Entdemokratisierungstendenz bei dem Prozess der Integration haben, das ist eindeutig, gar keine Frage - es ist leider so, dass die Kompetenzen, die die Nationalstaaten verlieren, und sie haben sehr viel verloren, nicht an das Europäische Parlament, sondern an die Kommission und den Ministerrat gegangen sind, was selbstverständlich nicht zu tolerieren ist, und dass wir - um das zu korrigieren - einen Aufstand der Bürger, sprich eine neue europäische Bewegung brauchen, sonst profitiert die Exekutive und wir werden im Zuge der Erweiterung, aber auch im Zuge der Vertiefung ein entdemokratisiertes Europa bekommen, ein Europa der Fachleute und ein Europa der Exekutive.

Was den Widerspruch Vertiefung und Erweiterung anlangt, muss ich sagen, die Erweiterung war friedenspolitisch unvermeidlich, absolut wichtig, und ich denke, die wird auch weitergehen - sie sollte auch weitergehen, aber erweitert werden wird dann eben nur die alte Wirtschaftsgemeinschaft, nicht die Union. Wir werden ein Europa der zwei, wenn nicht der mehreren Geschwindigkeiten haben, und je größer diese Union wird, desto unvermeidlicher wird der Zwang zur strukturierten oder engeren Zusammenarbeit kleinerer Gruppen. Ich erwarte schon, dass der Vertrag gar nicht von allen Staaten ratifiziert werden wird, sodass die ganze Sache neu aufgelegt und dazu führen wird, dass ein kleineres Europa, vielleicht das Euro-Europa der 12, sich auch außenpolitisch und verteidigungspolitisch enger zusammenschließt.

Die Schnelle Eingreiftruppe der NATO von Prag ist ja eine Antwort auf die Schnelle Eingreiftruppe der Europäischen Union von Köln - und es ist ja auch diese Kölner Truppe, die in Bosnien-Herzegowina tätig wird, und nicht die NATO. Auch Bosnien-Herzegowina, auch Mazedonien - das ist die Schnelle Eingreiftruppe der EU. Wann und wo die in Prag beschlossene eingesetzt werden wird oder schon eingesetzt worden ist, weiß ich nicht auswendig, ich habe sie aber noch nicht in Aktion gesehen. Ich denke, sie würde erst dann eingesetzt werden, wenn es um wirklich globale militärische Aktivitäten geht.

Wir sollten nicht vergessen, dass die Anbindung der Osteuropäer an die Vereinigten Staaten sehr verstärkt über die NATO läuft. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte die Europäische Union sich beeilen müssen mit ihrer Öffnung nach Osten, weil sie und nicht die NATO der richtige Platz ist für die europäischen Länder, ihre politische Heimat, die kulturelle, die historische - die europäische Form, die wirklich sowohl auf dem Gebiet der Verteidigung wie vor allen Dingen auf dem Gebiet der Wirtschaft und der Werte eine Gesamtofferte anzubieten hat. Jetzt hat die EU nachgezogen, und insofern sollte man das zunächst einmal begrüßen.

Obwohl es keine Demonstrationen in Osteuropa gegeben hat, gibt es, soweit ich die öffentlichen Meinungsumfragen richtig sehe, einen deutlichen Rückgang der Unterstützung des Irak-Krieges. Jedenfalls hat die polnische Regierung nach dem Vorgang der spanischen schon erhebliche Probleme gesehen bei der Weiterführung ihres Kurses. Ich denke, dass sich auch die amerikanische Position ändern wird, weil und wenn der Widerstand Deutschlands, Frankreichs und Spaniens, und es werden noch mehr dazu kommen, wenn dieser Widerstand sich verstärkt. Wenn ich eine Zeitungsmeldung über das Treffen der Europäischen Union und die Vereinigten Staaten vor ein paar Tagen in Irland richtig sehe, hat es erhebliche Meinungsverschiedenheiten über das Terrorismuspapier gegeben, weil die Europäer einen sehr viel deutlicheren Hinweis auf die politischen, wirtschaftlichen und ethnischen Quellen des Terrorismus haben wollten. Also, ich glaube, wir sind weit über den Zustand hinaus, in dem Deutschland und Frankreich im März vorigen Jahres, sozusagen als die Widerborstigen, Isolierten dargestellt werden konnten. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass Deutschland und Frankreich Europa und die europäischen Gesellschaften repräsentiert haben - und die Vereinigten Staaten isoliert sind. Insofern würde ich das einfach einmal der Zukunft anvertrauen - der französische Präsident Chirac hat es ja sehr unfreundlich ausgedrückt. Ich will das jetzt mit einem Spruch ausdrücken, der aus dem Mittelalter stammt und damals die territoriale Herrschaft betraf: Wess' Brot ich ess', dess' Lied ich sing'. Insofern wird sich bei osteuropäischen Regierungen die Einsicht einstellen, dass man von der EU nicht profitieren kann auf der einen Seite, wenn man sie auf der anderen Seite schädigt. Ich denke mir, dass das langfristig seine Wirkung schon tun wird.

Dass wir in Osteuropa noch nicht den gewünschten Grad der Demokratisierung haben, ist klar, es sind aber erhebliche Fortschritte gemacht worden, ich verweise auf die Berichte der Kommission über die innere Entwicklung der Beitrittsländer, und ich verweise darauf, dass es noch ein paar Jahre dauern wird. Auch die Bundesrepublik Deutschland, wenn ich die einmal als Beispiel nehme, war 1948 noch nicht die Demokratie, die sie heute ist. In dem Maße, in dem der Lebensstandard steigt, wird in Osteuropa die Demokratisierung ihren Weg nehmen.

Während des Kalten Krieges bin ich häufig auf Konferenzen gewesen, auf denen auch damals Vertreter des Warschauer Paktes waren. Abends, nachdem alles vorüber war, konnte man sich mit den meisten, abgesehen von den Vertretern der DDR, in der Bar vernünftig unterhalten, aber die Ungarn haben schon im öffentlichen Teil immer wieder gegen den Stachel gelöckt. Wenn der DDR-Vertreter 100 %ig die Moskauer Position proklamiert hatte, da trat dann der ungarische Vertreter auf und zog das sehr nett und sehr freundlich absolut in Zweifel.

Das Solanapapier hat auch eine positive Seite. Ich habe gesucht und stelle fest, wenn ich das vergleiche mit dem Prager Papier der NATO, dann sind das wirklich Unterschiede. Im Prager NATO-Papier steht nur drin: Zusammenstehen gegen den Terrorismus, Aufrüsten und Technisieren. Hier im Papier von Solana ist der erste Punkt in der Tat: mehr Mittel für die Verteidigung. Aber der zweite Punkt heißt schon: zu viele Duplizierungen bei den militärischen Mitteln, gemeinsame Nutzung könnte die Gemeinkosten senken und mittelfristig die Fähigkeiten verbessern. Also wird im zweiten Satz schon zurückgenommen, was im ersten gesagt wird. Der Mittelpunkt ist die verstärkte Fähigkeit, zivile Mittel in und nach Krisen einzusetzen - und die Vorbeugung. Bei allen größeren Militäreinsätzen folgt auf militärische Effizienz politisches Chaos, das hat Washington noch nicht gehört, so ist es aber. Der vierte Punkt verstärkt diplomatische Fähigkeiten, diese sind ebenso wichtig wie die zivilen und militärischen Fähigkeiten. Also hier wird, denke ich, doch Ernst gemacht mit einem anderen Verständnis auch der Konflikte, hier wird ein besseres Verständnis für andere Länder gefordert.

Dieses Papier, das ja ein offizielles EU-Papier geworden ist, ist ein Anknüpfungspunkt für diejenigen Regierungen in der EU und auch für diejenigen politischen Kräfte in der EU, die sie als Zivilmacht voranbringen und die militärischen Funktionen beiseite schieben wollen, weil die sowieso genug, wenn nicht zu viel Aufmerksamkeit bekommen. In diesem Licht ist dieses Strategiepapier der Europäischen Union eine Basis, die sehr wohl benutzt werden könnte, um eine Strategie der Zivilmacht zu stärken. Dafür müssen aber aus den Mitgliedsstaaten die entsprechenden Initiativen kommen.

Dass die Europäische Union und die Vereinigten Staaten bei der Weltführung unentbehrlich sind, ist eine Sache der Faktizität. Ökonomisch vor allen Dingen, aber auch politisch, auch was den Lebensstandard anlangt, die Demokratie anlangt, sind beide das Impulszentrum für die Weltführung. Was dieses Zentrum nur machen müsste, ist, seine Strategie ändern, eben nicht wie unter der Führung der Bush-Administration, aber auch nicht wie wahrscheinlich unter der möglichen Kerry-Administration, unilateral oder überhaupt nur militärisch, sondern multilateral zivil und präventiv. Das steht in dem Solanapapier, das kann jedenfalls rausgelesen werden. Niemand hindert die Europäische Union daran, ihrerseits den Bilateralismus aufzugeben und mal stärker den multilateralen Dialog zu fördern. Denken Sie einmal an den Mittelmeerdialog. Die EU ist den Versuchungen des Bilateralismus genauso ausgesetzt, wie übrigens die Bundesrepublik ihn auch sehr gerne betreibt, weil man im Bilateralismus seine Macht besser anwenden kann als im Multilateralismus. Gerade deswegen müsste innerhalb der Europäischen Union, von den Staaten, von den Gesellschaften die Initiative kommen, den Multilateralismus zu fördern, regionale Organisationen auszubilden - ich habe über den Nahen Osten gesprochen. Es gibt im Fernen Osten das Asian Regional Forum. Es gibt sonst nicht sehr viel, und Amerika ist berühmt dafür, dass es diesem Multilateralismus ablehnend gegenüber steht, und zwar nicht nur Bush. Schon die Regierung Bush-Vater mit dem Außenminister Baker an der Spitze hat immer vor übertriebenem Multilateralismus gewarnt, weil der Bilateralismus, ich sagte es schon, die besseren Führungsmöglichkeiten hergibt. Umso mehr sollte die EU das ändern.

Jetzt komme ich noch schnell zur gewaltfreien Intervention, ich kann das hier nur andeuten, ausführlich habe ich sie in dem Buch "Kluge Macht" beschrieben. Es gibt direkte und indirekte Strategien, mittelbare und unmittelbare. Die indirekten Strategien sind eigentlich die besten, weil man das Land gar nicht betreten muss. Da gibt es das berühmte Seeley'sche Gesetz: Der Grad der Freiheit in einem Land ist umgekehrt proportional zum Außendruck auf seinen Grenzen. Das heißt umgekehrt, man muss die Situation entspannen - und das rundherum, man muss zunächst einmal die Konflikte bereinigen und lösen, um die Situation zu entspannen, damit die vorhandenen, an der Demokratie interessierten Kräfte die Handlungsfreiheit erhalten, sich innen drin zu entfalten und die Regierung entweder zu stürzen oder zu Konzessionen zu bewegen. Wie groß diese demokratische Bewegung ist, sehen Sie an den Tatsachen, dass von den 33 Kriegen, die wir haben, 32 Bürgerkriege sind, und es hier nicht immer, aber vielfach um diese demokratische Mitbeteiligung geht. Wenn Sie an die Vereinbarung über den Abbau der Mittelstreckenraketen 1987 zwischen Gorbatschow und Reagan denken, dann hat dieser Schub der Entspannung - symbolisiert durch den Spaziergang Reagans und Gorbatschows Arm in Arm auf dem roten Platz - die sanfte Revolution ausgelöst. Die Entspannung des Kontextes ist die erste und wichtigste Voraussetzung zur Demokratisierung von außen.

Die direkten Mittel gehen sehr viel weiter. Sie haben bei der Auslandshilfe die Möglichkeit, die Gesellschaft zu fördern oder die Regierung. Wenn Sie die Regierung fördern und die Gesellschaft vernachlässigen, wie die Deutschen das jahrelang mit den Ostdeutschen gemacht haben, erzeugen sie das Gegenteil von Demokratisierung. Wenn Sie die gesellschaftlichen Kräfte fördern, wenn Sie die Entwicklungshilfe, die Auslandshilfe so steuern, dass sie der Infrastruktur zu Gute kommt, nicht den militärischen Erfordernissen, nicht Ausfallstraßen und Eisenbahnen zur Panzerbeförderung, sondern U-Bahn und Telefon, tragen Sie unmittelbar zur Förderung der Demokratisierungskräfte bei. Wenn Sie ihre gesellschaftlichen Gruppen auffordern, gesellschaftlichen Gruppen in einem anderen Land stärker zu unterstützen, von NGOs angefangen über die Städtepartnerschaften bis zu Konferenzen, wie sie hier abgehalten werden, transportieren Sie immer ein Stück Stärkung der gesellschaftlichen Kräfte, immer ein Stück Demokratisierung. Ich gehe sogar so weit, zu sagen, dass jede Interaktion eines demokratischen mit einem nicht-demokratischen Land, wenn man sie so auffassen und so auch benutzen würde, ein Stück Intervention in die inneren Angelegenheiten ist.

Es gibt also eine Fülle von Möglichkeiten, und wie erfolgreich sie sein können, zeigt ein Beispiel: Der Marshallplan Amerikas für Westeuropa war nicht nur eine Hilfsaktion, er war auch eine Auflage: Hilfe bekam nur, wer sich zur Einführung des demokratischen Herrschaftssystems verpflichtete. Die Heranführungsstrategie der Europäischen Union hat genau so funktioniert. Solche Strategien sind sicherlich nichts, was man gegenüber einem afrikanischen Subsistenz-Staat einsetzen kann, aber etwas, was man gegenüber einem schon entwickelten Staat sehr wohl einsetzen kann. Und auch bei dem Subsistenzstaat kann man sehr viel machen, indem man dort die Hilfe gezielt vergibt, das habe ich in dem Artikel im "Merkur" ausgeführt.[9]

Und schließlich: Warum habe ich nicht von Frieden gesprochen? Eine gute Frage. Erstens, weil ich dann Gefahr gelaufen wäre, gefragt zu werden "Was ist Frieden?". Dann hätten wir ein Thema gehabt für eine neue Woche. Zweitens, weil ich glaube, dass der Begriff Friede, ich sage es leider, so abgenutzt ist, dass man ihn, ohne ihn zu operationalisieren, gar nicht verwenden kann; und ich habe, drittens, eigentlich den ganzen Vormittag über Frieden gesprochen. Wenn Sie einen Zustand haben, meine Damen, meine Herren, in dem es keinen Gegner mehr gibt, in dem kein Staat, keine Gesellschaft mehr Gefahr läuft, von außen angegriffen zu werden - ist das nicht Frieden? Ich würde sagen, das ist Frieden. Dann kommen jene mit dem "positiven Frieden" und zweifeln. Lassen wir sie. Ich wäre schon zufrieden, wir hätten auf der ganzen Welt erst einmal diesen Zustand. Wir hätten den Zustand, dass es keinen Krieg mehr gibt, dass wir die Gewalt bei der Anwendung von politischen Konflikten verlässlich ausgeschaltet haben. Den erst einmal herzustellen, ist schwierig genug. Wenn wir den haben, haben wir alles andere. Und deswegen habe ich nicht von Frieden, sondern von umfassender Sicherheit gesprochen. Sie ist der zureichende Friede.

Fußnoten
  1. Im Einzelnen siehe hierzu Ernst-Otto Czempiel: Kluge Macht. Außenpolitik für das 21. Jahrhundert, München 1999.
  2. Javier Solana ist der Hohe Vertreter für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und wird wahrscheinlich erster Außenminister der EU. Javier Solana: Ein sicheres Europa in einer besseren Welt, Europäischer Rat, Thessaloniki, 20.6.2003.
  3. The Pew Global Attitudes Project: Views of a Changing World, Washington 2003; Institut für Auslandsbeziehungen (Hg.): Der Westen und die islamische Welt. Eine muslimische Position, Stuttgart 2004.
  4. William Pfaff: An Exit Strategy Based on Iraqi Nationalism, in: International Herald Tribune (IHT), 5.5.2004.
  5. Javier Solana (Anm. 3), S. 13.
  6. IHT, 16.-17.3.2002.
  7. Kofi Annan: Wir, die Völker. Die Rolle der Vereinten Nationen im 21. Jahrhundert, Bonn 2000, S. 17ff.
  8. Die nachfolgenden Passagen geben Reaktionen des Autors auf Einlassungen des Publikums im Zuge der Aussprache wider, die auf seinen vorangehenden Vortrag folgte. Die Überarbeitung erhält hier, anders als im vorangehenden Vortragstext, bewusst die individuellen Ausdrucksweisen und Textelemente weitestgehend aufrecht.
  9. Ernst-Otto Czempiel: Demokratisierung von außen. Vorhaben und Folgen, in: Merkur 6, 58, Juni 2004, S. 467-479.

* Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (Hrsg.), Projektleitung: Thomas Roithner: "Die Wiedergeburt Europas". Von den Geburtswehen eines emanzipierten Europas und seinen Beziehungen zur "einsamen Supermacht", Agenda Verlag, Münster 2004.


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