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Zivilisierung des Krieges

Ein Buch von Michael Ignatieff

Die Neue Zürcher Zeitung brachte am 08.06.2000 eine Besprechung eines neuen Buches von Michael Ignatieff.

Moralischer Internationalismus
Michael Ignatieff über die Zivilisierung des Krieges


Nach dem Ende der grossen, welthistorischen Erzählungen sind nur mehr zwei Kurzgeschichten in Umlauf. Die eine trägt den Titel «Globalisierung» und schildert, wie die Handelszentren zusammenrücken und die Kulturen sich bis zur Unkenntlichkeit angleichen. Die andere erzählt von Chaos und Anarchie, von Kriegen des Zerfalls, von Hunger und Massenelend. Die erste Geschichte spielt in New York, Tokio, Singapur, London und Budapest, die zweite in Kabul, Grosny, Vukovar, Freetown oder Jolo.

Zwischen beiden Erzählungen gibt es kaum eine Verbindung. Die Sicherheit der «nördlichen» Länder ist durch den Niedergang der Peripherie kaum bedroht. Mit dem Ende der Imperien hat sich das strategische Interesse an den Elendsgebieten verflüchtigt. Alles Gerede vom «globalen Dorf» kaschiert nur diesen Riss, der die Welt in zwei Hälften teilt.

Eine bezweifelbare These

Und doch gibt es, will man Michael Ignatieff Glauben schenken, einen Konnex zwischen den Regionen des Wohlstands und den Zonen der Gefahr: die Doktrin der Menschenrechte und das Gefühl des Mitleids. Die Vorreiter der globalen Moral sind die Aktivisten der internationalen Hilfsorganisationen, welche die Spezies vor sich selbst zu retten versuchen. Ihre Lehranstalt ist das Fernsehen, das die Schreckensbilder überträgt und die Zuschauer zu Spenden auffordert. Und ihre Helfershelfer sind die Diplomaten und Schutzverbände der Vereinten Nationen sowie die mobilen Eingreiftruppen der letzten Grossmächte. Von der These einer globalen Moral hängt es ab, ob man Ignatieffs Betrachtungen über die Dilemmata einer liberalen Weltpolitik für triftig hält. Nur wenn man an den Wechsel von imperialen Wirtschafts- und Machtinteressen zu Recht und Moral glaubt, stellt sich überhaupt das Problem, dass die ethischen Grundsätze zwar zum Eingreifen verpflichten, zugleich aber die Rücksichtslosigkeit verbieten, die für erfolgreiche Interventionen nötig ist.

Nimmt man ferner die offizielle Rhetorik der Entrüstung für bare Münze, so muss man sich auch darum sorgen, dass Empörung wenig haltbar ist und rasch in Resignation, Misanthropie und Gleichgültigkeit umschlagen kann. Wer überall eine wertrationale Politik am Werke sieht, muss angesichts der ethnischen Kriege das Scheitern der liberalen Weltordnung konstatieren. Aber wo haben die hehren Prinzipien der Hilfe und Solidarität tatsächlich den Ausschlag gegeben? Bei Lichte betrachtet handeln Ignatieffs Reflexionen von einer Fiktion. Widerwillig verabschiedet er sich von einer Illusion, der er selbst aufgesessen ist, der Illusion nämlich, dass nach dem Ende des Kalten Krieges irgendwann einmal eine Ära des humanitären Internationalismus eingeläutet worden sei.

Gewiss, die vorliegenden Essays sind famos geschrieben, klug und anschaulich zugleich. Ignatieff war vor Ort, in Rwanda, Afghanistan und Jugoslawien. Einprägsam schildert er die Widersacher der liberalen Internationale, das Personal des poststaatlichen Krieges, die Banditen, Milizen und Glaubenskämpfer, die Kindersoldaten und Warlords, die vielerorts das Regime bereits übernommen haben. Diese Marodeure im martialischen Gewand kennen nicht die männliche Selbstdisziplin des Berufssoldaten, und sie wissen auch nichts von einem Kriegsrecht, welches die Gefangenen und Zivilisten zu schonen befiehlt.

Mit bescheidenem Erfolg versuchen ihnen daher die Delegierten des Roten Kreuzes die westliche Idee des Kriegsrechts anzuerziehen - eine lebensgefährliche Sisyphusarbeit, der Ignatieff zu Recht jeden Respekt zollt. Nicht auf die Menschenrechte, sondern auf die universale Erfahrung des Schmerzes und den Ehrenkodex des Kriegers setzt das IKRK. Die Delegierten in den Gewaltzonen kennen den Preis des neutralen Schweigens sehr wohl: die unfreiwillige Komplizenschaft mit den Mördern. Doch aus Erfahrung misstrauen sie allen Träumereien von einer Welt ohne Krieg. Dafür hoffen sie auf die Zivilisierung eines Krieges, der in Wahrheit längst kein Krieg mehr ist, sondern eine Abfolge von Überfällen, Anschlägen und Massakern. Den jugendlichen Banditen und Marodeuren fehlt es nicht an Ehre. Aber sie folgen einem ganz anderen Gruppenkodex als die Absolventen von Westpoint oder Sandhurst, eine Tatsache, die Ignatieff auf Grund seines westlich getrübten Blicks erst gar nicht in Betracht zieht.

Nachbarschaft, Gewalt

Die wichtigsten Einsichten des Buches liefern die Passagen über die Gewalt aus dem Geiste der Nachbarschaft. Kein Krieg ist grausamer als der Bürgerkrieg, kein Hass reicht tiefer als jener unter Bekannten und Verwandten. Je enger die Beziehung zwischen den Gruppen, desto unerbittlicher ihre Feindschaft. Denn je kleiner die realen Unterschiede, desto wichtiger die symbolischen Differenzen. Weil der Alltag zwischen Serben, Kroaten und Bosniern, zwischen Hutu und Tutsi so viele Gemeinsamkeiten aufwies, kannte die Gewalt, diese Leidenschaft der Nähe, keine Grenzen. Ob dagegen das Axiom von der ursprünglichen Gleichheit aller Menschen, auf das sich Ignatieff verzweifelt beruft, noch etwas auszurichten vermag, ist mehr als zweifelhaft. Denn zu den Illusionen des Multikulturalismus, die er selbst schonungslos entlarvt, gehört die Hoffnung, nach dem Gemetzel könnten sich die Todfeinde wieder vertragen. Obwohl diese Mahnung lange vor dem Kosovokrieg verfasst wurde, möchte man sie allen Zeitgenossen ins Merkbuch schreiben, die weiterhin von friedlicher Koexistenz träumen. Nach dem Massaker liegt der einzige Ausweg meist nur in der Sezession.

Ignatieffs Essays bieten indes weit mehr als politische Reportagen, sie enthalten zugleich Exkurse in die Ideengeschichte und moralphilosophische Spekulationen. Diese Mischung von Anschauung und Gelehrsamkeit ist selten genug, aber sie trägt auch zur entscheidenden Schwäche des Buches bei. So realistisch die pragmatischen Schlussfolgerungen ausfallen, der normative Blickwinkel verzerrt mitunter die Wahrnehmung. Um sein Weltbild vom sittlichen Fortschritt der Gattung zu retten, folgt Ignatieff bisweilen der Devise, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.

Den Golfkrieg hält er allen Ernstes für eine humanitäre Aktion, die allen Regeln der Genfer Konvention genügt habe. Als ob es keine Giftgaseinsätze, Vergewaltigungen und Massaker gegeben hätte. Das Desaster in Somalia ist wohl nicht auf die moralischen Skrupel der Marines zurückzuführen, sondern auf die strukturelle Ohnmacht staatlicher Armeen gegenüber dem Chaos der Bandenkriege. Die Aufrüstung der afghanischen Milizen hatte doch eher mit gutem Geld als mit dem Willen zum Guten zu tun. Die Untätigkeit in den Bürgerkriegen des Balkans und während des Völkermords in Zentralafrika entsprang nicht moralischer, sondern strategischer und ökonomischer Indifferenz. Und der jüngste Bombenkrieg gegen Serbien, so muss man hinzufügen, zeugte weniger von Empörung als von politischer Hybris und von der Illusion, man könne ohne eigene Opfer einen Krieg in den Lüften gewinnen.

Systematisch überschätzt Ignatieff die Bedeutung der Moral für die Aussen- und Kriegspolitik. Wider den Zeitgeist, aber auch wider die historische Erfahrung hält er unbeirrt an den universalen Prinzipien fest. Dass moralische Kreuzzüge besonders mörderische Gefahren in sich bergen können, kommt ihm daher erst gar nicht in den Sinn. Dagegen hat immer schon der Rückzug auf die viel geschmähte Realpolitik der Interessen geholfen. Hierfür könnten Ignatieffs lesenswerte Essays den Sinn allerdings schärfen.
Wolfgang Sofsky

Michael Ignatieff: Die Zivilisierung des Krieges. Ethnische Konflikte, Menschenrechte, Medien. Aus dem Englischen von Michael Benthack. Rotbuch-Verlag, Hamburg 2000. 243 S., Fr. 33.-

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