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Pardon, wir gratulieren

Dem Historiker Kurt Pätzold zum 80.

Von Erika Schwarz und Manfred Weißbecker *

Wie bitte? Kurt Pätzold feiert heute seinen 80.Geburtstag? Wer ihn kennt, sein engagiertes Auftreten erlebt, seine jüngst veröffentlichten Publikationen liest... - da werden sich mit uns wohl viele seiner Freunde und Kollegen fragen: Kann das stimmen? Doch, es ist so! Pätzold kam am 3. Mai 1930 in Breslau auf die Welt und ist seitdem einen erstaunlichen Lebensweg gegangen, mit einigen Tiefen und noch mehr Höhen. In seinem Erinnerungsband »Die Geschichte kennt kein Pardon«, vor einem Jahr bei edition ost erschienen, kann das alles nachgelesen werden.

Beeindruckend ist die überströmende Fülle seines Wissens, das er sich im genauen Studium von Literatur und Quellen angeeignet hat. Mehr noch gilt ihm das Zeitgeschehen, das er wachen Auges verfolgt und dessen er sich im besten Sinne des Wortes parteilich annimmt. Jeder kann sehen, wo und auf wessen Seite Pätzold steht. Seit seinem Geschichtsstudium an der Jenaer Friedrich-Schiller-Universität befaßt er sich mit dem verhängnisvollen Wirken jener Kräfte, die sich im 20. Jahrhundert dem historischen Fortschritt in den Weg stellten, indem sie die Ergebnisse des Ersten Weltkrieges zu revidieren trachteten, den parlamentarisch-demokratisch verfaßten Weimarer Staat zerstörten und eine massenmörderische Diktatur errichteten. Sein Blick galt dem Weg, den die deutschen Faschisten - sich selbst als »Nationalsozialisten« tarnend - im Bunde mit den großbürgerlichen und militärischen Eliten in den Zweiten Weltkrieg gegangen sind.

Seine Sicht auf die Wurzeln des Faschismus erwächst aus einer komplexen Kenntnis von Strukturen und Entwicklungssträngen der kapitalistischen Gesellschaft. Dennoch treffen gerade ihn nicht jene Vorwürfe einer »ökonomistischen« Deutung des Faschismus, die seit eh und je gesellschaftskritischen, erst recht marxistischen Historikern gemacht worden sind und wider besseres Wissen auch immer noch erhoben werden. Ein unvoreingenommener Blick in seine biographischen Arbeiten über Adolf Hitler, Rudolf Heß, Julius Streicher, Hans Frank, Alfred Jodl oder Arthur Seyss-Inquart genügt, ebenso die Kenntnis des von ihm gemeinsam mit anderen herausgegebenen Bandes »Biographien zur deutschen Geschichte« oder auch der Publikationen zur Geschichte der NSDAP.

Unter den Faschismusforschern der DDR gehörte er zu den wenigen, die sich intensiv mit der nationalsozialistischen Ideologie und insbesondere der Judenverfolgung befaßten. Mehrere Publikationen bezeugen sein Geschick, tief in das Geschehene einzudringen, es darzustellen und die Ursachen zu verdeutlichen. Der ersten größeren Arbeit »Faschismus Rassenwahn Judenverfolgung. Eine Studie zur politischen Strategie und Taktik des faschistischen deutschen Imperialismus (1933-1935)« folgten die Bände »Verfolgung Vertreibung Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1942«, »Pogromnacht 1938«, »Tagesordnung Judenmord. Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942«, »Auschwitz war für mich nur ein Bahnhof. Franz Novak, der Transportoffizier Adolf Eichmanns«.

Vor 20 Jahren vollzog sich ein tiefer Einschnitt in Pätzolds Leben. Wie viele andere verlor er seine Anstellung an einer Universität. Die Begründung war abenteuerlich und wohl dennoch bewußt gewählt. Sie sollte ihn und mehr noch sein Geschichtsverständnis treffen. Sein eindeutiges, treffendes Urteil: »Die Geschichte der 'Erneuerung' der ostdeutschen Hochschulen ist von ihrem Anbeginn bis in ihre spätere Darstellung durch an ihr Beteiligte und Unbeteiligte auch eine Geschichte von Ignoranz, Fälschung und Heuchelei.«

Es ist nicht gelungen, Pätzold verstummen zu lassen. Im Gegenteil. Noch deutlicher als zuvor, noch intensiver und umfangreicher tritt er in Erscheinung, das Instrumentarium kritisch-dialektischer Analyse glänzend beherrschend. Zwar hat man an ihm demonstriert, daß »Sieger der Geschichte« kein »Pardon« kennen, auch wenn noch so sehr von Pluralismus und angeblicher Freiheit der Wissenschaft getönt wird. Dem hat der Jubilar entgegengesetzt: »Es wird eines Tages zur Kasse gebeten!«

Immer hat er seine Zeit nicht nur kontemplativ betrachtet, sondern auch mit dem Ziel, sie zu bewegen. Eine andere Welt als die kapitalistisch geprägte, ein menschlicheres Zusammenleben zu gewinnen, kann als innere Triebkraft seines Strebens und Wirkens verstanden werden. Er gehört zu jenen, denen es in der 1990 vergrößerten BRD gelungen ist, auch außerhalb des verwehrten Platzes im offiziellen Wissenschaftsbetrieb Gehör zu finden. Mitunter wird das, was kritische Intellektuelle heutzutage leisten, als »zweite« deutsche Wissenschaftskultur benannt - eine überzogener Begriff, wenn es um Wirkungsmöglichkeiten geht, berechtigt aber als Bezeichnung für Sichtweisen, die in striktem Gegensatz zum »verordneten« antisozialistischen und totalitarismustheoretischen Denken stehen.

Es gibt nur wenige Städte im Osten oder Westen Deutschlands, in denen Pätzold noch nicht referiert hat. Oft sucht ein jüngeres Publikum nach seinen Vorträgen das Gespräch. Ihm geht es dann immer auch um eine kritisch-kreative Auseinandersetzung mit der Geschichte der DDR. Stets richtet sich seine Argumentation gegen die Totalitarismustheorie, mit der der offensichtliche Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus ausgeblendet werden soll.

Wir hatten das Glück, über Jahrzehnte mit Pätzold zusammenzuarbeiten. Erlebt haben wir ihn als kenntnisreichen und lernbegierigen, anregenden und problembewußten Partner. Wir lernten ihn auch kennen als einen, dem Fehlerhaftes, Stilloses und Selbstherrliches ein Grauen ist, der sich einer strengen Arbeitsdisziplin unterwirft, ohne die seine Publikationsliste nie so umfangreich hätte werden können. Wer auch immer sich an ihn wendet, lernt seine kritische, zugleich produktive Hilfsbereitschaft schätzen. Wir gratulieren Kurt Pätzold auch im Namen vieler Weggefährten, Kollegen und Freunde zum 80., und sagen hoffnungs- und erwartungsvoll: Ad multos annos!

* Aus: junge Welt, 3. Mai 2010


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