Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Terror und Krieg und die Verantwortung der Wissenschaft

Die Universitäten sind auch nach dem 11. September kein politikfreier Raum

Die Terroranschläge des 11. September haben den Alltag des universitären Lebens in den USA verändert wie kaum ein Ereignis zuvor. Und trotzdem versuchten Lehrende und Studierende den Universitätsbetrieb nach Überwindung des ersten Schocks wieder möglichst rasch in normale Bahnen zu lenken. Die Rückkehr zur Normalität war gleichsam eine innere Aufforderung, um durch die Permanenz der Diskussion und der Aufgeregtheit nicht noch nachträglich den Terroristen Recht zu geben, denen ja gerade an der Unterbrechung des normalen Lebens, an Unordnung und Chaos gelegen zu sein scheint. Dennoch berichten Kolleginnen und Kollegen von US-Universitäten und Colleges, dass kaum ein Tag vergeht, an dem nicht irgend ein Teach-In, eine Vortrags- und Diskussionsveranstaltung oder eine Kundgebung und Demonstration auf dem Campus stattfinden. Anlässe hierfür gibt es zuhauf: Neben den Folgen der Anschläge für das politische und kulturelle Selbstverständnis der US-Gesellschaft, die es zu reflektieren gilt, gehört seit dem 7. Oktober auch der US-Feldzug gegen den Terror dazu, der sich mit zunehmender Dauer immer mehr als normaler Luftkrieg - mit alle seinen Folgen für die Zivilbevölkerung - entpuppt. Hinzu kommt natürlich auch die unsichtbare und schleichende Bedrohung der Bevölkerung durch gezielt freigesetzte Milzbrand-Bakterien, noch dazu seitdem klar ist, dass sie ihren Ursprung nicht in irgendeinem Schurkenstaat oder einem überseeischen Terrornest haben, sondern dass sie sozusagen "hausgemacht" sind.

In Europa, also auch hier in der Bundesrepublik Deutschland ist die Diskussion an den Hochschulen insgesamt verhaltener. Politisches Engagement, das zur Zeit des Golfkriegs vor 10 Jahren noch zu unzähligen Campus-Demos, Vollversammlungen und Resolutionen der Selbstverwaltungsorgane bis hin zu lebhaften Diskussion in den Lehrveranstaltungen - gleich welcher Fachrichtung - geführt haben, ist zwar vorhanden, zeitigt aber längst keine spektakulären Ereignisse mehr. Die einen werden froh darüber sein, weil sie sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit (die Lehre eingeschlossen) nicht abgelenkt oder "gestört" fühlen müssen, von den anderen mag das als Zeichen für eine zunehmende Entpolitisierung der Studentenschaft und eine akademische Selbstvergessenheit der Universitäten gedeutet werden. In den Sozial- und Kulturwissenschaften werden hier und da ursprünglich geplante Seminar- und Vorlesungsthemen den aktuellen Ereignissen angepasst und Raum für politische Diskussionen gegeben. Nicht selten werden "interkulturelle" Dialoge angezettelt (oder ergeben sich fast von selbst), teils auch mit dem Ziel, ausländische, insbesondere moslemische Studierende vor möglichen Angriffen und Anfeindungen in Schutz zu nehmen. Aus meiner Sicht funktioniert die Universität als Stätte des gewaltfreien Diskurses dort am besten, wo sich noch eine Atmosphäre der Toleranz und eine lebendige politische Streitkultur erhalten hat. In den berühmten Elfenbeinturm, so mein Eindruck, will kaum jemand zurück.

Claus Leggewie, Professor für Politikwissenschaften an der Justus-Liebig-Universität Gießen und häufiger Gastdozent an amerikanischen Universitäten, hat in einem Feuilletonbeitrag für die Frankfurter Rundschau ein paar Überlegungen über das Verhältnis von Politik und Wissenschaft im Allgemeinen und von Krieg und Universität im Besonderen angestellt, die für die gegenwärtige Neubesinnung des akademischen Lehrkörpers auf ihre gesellschaftliche Verantwortung und für die Wiedererweckung allgemeinpolitischen Engagements des akademischen Nachwuchses von gewisser Bedeutung sein dürften. Wir dokumentieren im Folgenden den Teil seines Beitrags, in dem er sich dem herrschenden Universitätsdiskurs hier zu Lande zuwendet. Er verortet den Bildungsauftrag der Universitäten sehr zutreffend irgendwo zwischen (Kriegs-)Affirmation und Pazifismus, ohne allerdings praktische Konsequenzen daraus auch nur anzudeuten. Hier muss wohl der geneigte Leser selbst weiter denken. Unklar geblieben ist mir lediglich eine Stelle. Leggewie schreibt: "Wissenschaftler in einen wie auch immer gearteten 'Kriegseinsatz' zu versetzen, wäre ebenso absurd, wie die Universität zu einer Trutzburg der 'Friedensbewegung' auszubauen - mit beidem hat die deutsche Universität hinreichend negative Erfahrungen gemacht." Mir scheint, dass mit der verordneten Kriegsorientierung die deutsche Universität in ihrer Geschichte in der Tat ausreichend negative Erfahrungen hat sammeln müssen. In welcher Zeit allerdings das Gegenbeispiel, die Umfunktionierung der Universität in eine "Trutzburg der 'Friedensbewegung'" Realität gewesen sein soll, wüsste man doch zu gern. Selbst den frühen 80er Jahren, als an zahlreichen Hochschulen bemerkenswerte Resolutionen gegen die Stationierung neuer Atomraketen verabschiedet wurden, als z.B. der Konvent der Kasseler Gesamthochschule - darüber noch hinausgehend - einen Beschluss gegen "Kriegsforschung" gefasst hat, kann ein solches Etikett nicht verpasst werden. Trotz allem gesellschaftlichem Engagement blieb das hohe Gut der Pluralität von Lehrmeinungen und wissenschaftlichen Methoden immer unangetastet. Das soll auch so bleiben.
Peter Strutynski


Den Krieg denken
Rückbesinnung statt Rückzug: Aufgaben der Universität

Von Claus Leggewie

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Gilbert Keith Chesterton hat einmal geschrieben, es sei durchaus legitim, Hydraulik zu studieren, während Rom brennt. Was ist das nützliche Wissen heute, da Ground Zero immer noch brennt? Gewiss hat jede Universität in Deutschland genügend "Bordmittel" und ausreichend nützliche Erkenntnisse an der Hand, um aus der jeweils fachspezifischen Sicht etwas über den "so genannten Krieg" (US-Verteidigungsminister Rumsfeld) auszusagen, den die Vereinigten Staaten von Amerika mit Unterstützung fast der gesamten Welt gegen einen immer noch nicht scharf konturierten "Feind der Menschheit" begonnen haben.

Was "heilige Kriege" betrifft, sind Orientalisten und Islamwissenschaftler derzeit besonders gefragt, die sich davor hüten müssen, als Verfassungsschutzagentur oder für Bezeugungen guten Willens gegenüber "dem" Islam missbraucht zu werden. Ebensowenig kann man die Reflexion über die "Ereignisse" an die der Aktualität verpflichteten zeitgeschichtlichen und sozialwissenschaftlichen Disziplinen delegieren oder allein vom Völkerrecht Aufschlüsse erwarten. Und nicht minder überfordert wäre die Universität, würden sich ihre Theologen und Therapeuten als Trostspender zur Verfügung stellen, während die Kollegen Lebenswissenschaftler einräumen müssen, über Milzbranderkrankungen und dergleichen einiges zu wissen, aber kaum etwas dagegen aufbieten zu können.

Wie also verarbeiten Studierende und Lehrende eine Situation, in der auch die hiesige politische Führung erklärt, im "ersten Krieg des 21. Jahrhunderts" zu stehen und ankündigt, einen langen, entbehrungsreichen Kampf führen und gewinnen zu wollen? Nicht nur pro domo gilt es, die akademische Freiheit wieder ins Gedächtnis zu rufen und die Autonomie der Universität zu verteidigen, die ja wegen der "Schläfer" ins Gerede geraten ist. Von Klaus Landfried, dem Präsidenten der Hochschulrektorenkonferenz, war zu hören, er befürworte eine generelle Überprüfung ausländischer Studierender mit einer Regelanfrage bei den Sicherheitsbehörden und darüber hinaus stichprobenartige Kontrollen der Internet-Aktivitäten an Hochschulen.

Ob die gläserne Universität eine angemessene Reaktion darauf ist, dass die Mörder von New York und ihre Unterstützer auch an deutschen Hochschulen eingeschrieben waren, darüber ließe sich trefflich streiten. Gerne hätte man bei dieser Gelegenheit aber auch ein paar Worte über den Bildungsauftrag der Universität gehört. Wie dieser nicht aussieht, kann man jedenfalls sagen: Wissenschaftler in einen wie auch immer gearteten "Kriegseinsatz" zu versetzen, wäre ebenso absurd, wie die Universität zu einer Trutzburg der "Friedensbewegung" auszubauen - mit beidem hat die deutsche Universität hinreichend negative Erfahrungen gemacht.

Die Universität muss vielmehr als ein Ort der Reflexion wirken und so in jener Rolle bestehen, die ihr freie Gesellschaften seit der frühen Neuzeit zugewiesen haben. Die Rolle als öffentliches Forum haben sie heute weitgehend an die elektronischen Medien verloren, die sich dabei einem immer hohler werdenden Infotainment hingeben. Daran beteiligen sich auch Universitätslehrer mit mehr oder weniger erhellenden Minuten-Statements, aber via Universität haben sie sich diesen Herbst noch nicht aus den Semesterferien zurückgemeldet.

Gegen oberflächliche Expertise und gegen den Rückzug auf Spezialwissen besteht die altmodische Aufgabe der Universitas in einer gründlichen, alle Disziplinen einbeziehenden Reflexion der säkularen Moderne, die von fundamentalistischen Verächtern am Pranger vorgeführt wird, sich aber auch aus eigenem Antrieb auf ihre vermeintlich universalen Geltungs- und Anwendungsansprüche befragen lassen muss. Das kulturelle Kapital, mit dem die Universität in der "Wissensgesellschaft" immer noch wuchern könnte, ist die transdisziplinäre Gesamtkonstruktion, die in den letzten Jahren freilich erodiert ist und auch ganz bewusst preisgegeben wird. ...

... Die Lehrenden müssen sich stärker auf ihr eigentliches Geschäft besinnen, das wir als Fachgutachter und Fernsehexperten, Politikberater und Lobbyisten, Drittmittelakquisiteure, Wissenschaftsmanager und Fachbereichsbürokraten in den letzten Jahren (aus stets guten, dringenden Gründen) vernachlässigt haben. Auch die Studenten müssen sich fragen, ob es richtig war, die Universität als Lebensraum weitgehend aufzugeben, ihr lediglich Bildungsdienstleistungen abzuverlangen oder ihr nur noch gelegentlich, zwischen Freizeit und Nebenjob, Besuche abzustatten. Schließlich müssen Hochschulpolitiker und Verwaltungen jenseits aller Verwertungsmöglichkeiten geistigen Eigentums, die sich in Patenten und Kapazitätsauslastungskoeffizienten niederschlagen, die zunächst funktionslose, aber an die Wurzeln gehende Orientierungs- und Verständigungsaufgabe der Universitäten anerkennen.

Das hätten die Universitäten schon in friedlicheren Zeiten nicht geschafft, lautet ein Gegenargument, aber jedes Plädoyer für ein allzu routiniertes Weitermachen richtet sich selbst. Es ist wahr, dass Universitäten und andere Bildungseinrichtungen zu den Bereichen gehören, die wohl als erste bluten müssen, wenn ein Krieg geführt wird, dessen Kosten sich gar nicht abschätzen lassen. Es ist aber müßig, jetzt noch nachzurechnen, was die Bildungspolitik mit jenen siebzehn Milliarden Mark hätte anfangen können, die allein der Golfkrieg verschlungen hat. Das alles sind jetzt nur noch Nebenschauplätze.

So schwer es ist: Auch die Universität muss "den Krieg denken", was wahrlich nicht heißt, den "ersten Krieg des 21. Jahrhunderts" zu verteidigen, zu unterstützen oder gar mit zu planen. Jede denkende Herangehensweise an kriegerische Konflikte ist eine, die den Krieg, wie er gerade geführt wird, analysiert (also zersetzt), dekonstruiert und mithin kritisiert. Universitäten sind ihrer Definition nach dem Frieden und dem kulturellen Austausch verpflichtet.

Nicht zufällig stehen gerade Studierende und Lehrende der New Yorker Universitäten, wo Dutzende von Nationalitäten vertreten sind, den laufenden Militäraktionen in Afghanistan skeptisch bis ablehnend gegenüber. Aber sie beschränken sich nicht auf die Bekundung von Ekel oder moralischer Ablehnung, sie führen - und darin besteht die Schwierigkeit - eine Auseinandersetzung mit, ohne konformistisch in ihr aufzugehen. Eine Universität muss sich vor allen Anflügen von Bellizismus schützen, ohne ihren Bildungsauftrag in den Dienst einer pazifistischen Doktrin zu stellen oder in wissenschaftlicher Neutralität erschöpft zu sehen.

... eine akademische Gemeinschaft, die sich der Auseinandersetzung mit der geistigen Situation dieser Zeit nicht entzieht, darf sich auch um normative Fragen nicht herumdrücken. Sie muss zur Diskussion stellen, welche Werte, Institutionen und Gewohnheiten man aus welchen Gründen zu verteidigen bereit ist. Das Weitermachenkönnen nach Katastrophen ist eine große Leistung des Menschen, die prinzipielle Ächtung des Krieges auch. Aber wir müssen auch bereit sein zur Verteidigung der Zivilgesellschaft, ohne diese damit selbst aufs Spiel zu setzen. Es ist an der Zeit, dass Universitäten sich hörbar und als solche erkennbar an der Debatte beteiligen.

Aus: Frankfurter Rundschau, 30. Oktober 2001

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