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Geschichte gemacht

"Zeitgeist, ich habe keinen großen Respekt vor Dir": Ein Nachruf auf den im Januar verstorbenen Historiker Helmut Hirsch

Von Volker Külow *

Das geschichtsträchtige Jahr 1989 begann an der Karl-Marx-Universität Leipzig mit einem akademischen Paukenschlag, der auch im anderen deutschen Staat aufmerksam wahrgenommen wurde. Am 31. Januar wurde wohl erstmals in der deutschen Geistesgeschichte mit 56jähriger Verspätung einem Doktoranden die Promotionsurkunde überreicht. Für seine Ende 1932 an der Alma mater Lipsiensis eingereichte, aber nach dem Machtantritt der Nazis nicht mehr verteidigte Dissertation »Karl Friedrich Koeppen. Der intimste Berliner Freund Marxens« erhielt der Düsseldorfer Historiker Helmut Hirsch im Alter von 81 Jahren in einem bemerkenswerten Akt nachholender Gerechtigkeit die ihm zustehende Würdigung. In einem knapp drei Jahre später im Neuen Deutschland erschienenen Interview bezeichnete Hirsch die von den Leipziger Geschichtsprofessoren Hans-Jürgen Friederici und Manfred Neuhaus mit hohem diplomatischen Geschick eingefädelte Ehrung als »eine sehr bewegende, unvergeßliche Situation, ein Höhepunkt meines Lebens und speziell meiner Rückwanderung«.

Den Nazis hatte der am 2. September 1907 in Barmen geborene Verfasser der Koeppen-Biografie gleich dreifach als verdächtig gegolten: als Sohn eines aktiven Funktionärs der Arbeiterbewegung, als Intellektueller jüdischer Abstammung und als Verfasser einer Dissertationsschrift über einen Freund von Marx. Folgerichtig mußte Hirsch sofort nach dem 30. Januar 1933 ins Exil, das insgesamt ein Vierteljahrhundert währen sollte. Nach mehreren Zwischenstationen auf dem europäischen Festland landete er unter Mithilfe von Thomas Mann, den er im berühmten Pariser Lutetia-Ausschuß näher kennengelernt hatte, 1941 in den USA. Hier mußte er als Träger von Mehl- und Zuckersäcken zunächst ganz von vorn anfangen. Dank des ihm eigenen kämpferischen Naturells, gepaart mit Ausdauer und viel Humor, gelang ihm in der neuen, wenn auch schwer errungenen zweiten Heimat, der Sprung an die Roosevelt University von Chicago, wo er nach einem weiteren Studium von 1942 bis 1945 als Lehrkraft wirkte. In seinen 1994 in Leipzig unter dem Titel »Onkel Sams Hütte. Autobiografisches Garn eines Asylanten in den USA« erschienenen Buch hat Hirsch mit einem guten Schuß Selbstironie ein Bild jener Jahre gezeichnet.

1957 verzichtete Hirsch auf seine Lebensstellung in Chicago als Professor für europäische Geschichte und kehrte in die BRD zurück. »Ich wollte das Gefühl haben: Hitler hat den Krieg nicht gewonnen. Wir haben ihn gewonnen«, begründete Hirsch die Remigration ins Land der Täter. Einen Ruf an eine Universität erhielt der ausgewiesene Fachmann für die Geschichte der sozialistischen Arbeiterbewegung aber keineswegs. Ganz im Gegenteil: Die neue Heimat »begrüßte« den Ankömmling mit einem geradezu kafkaesken Verwaltungsakt. Für seine Flucht aus Hitlerdeutschland erhielt Hirsch als Wiedergutmachungsleistung exakt 29,28 DM zugebilligt – der Gegenwert einer Bahnfahrtkarte zweiter Klasse von Wuppertal nach Paris im Jahre 1933.

Entsprechend seiner Lebensdevise »Ein rollender Stein setzt kein Moos an« hielt sich Hirsch mit ausländischen Gastprofessuren und freier publizistischer Tätigkeit in den folgenden Jahren finanziell eher mühsam über Wasser. Dann aber folgte der Durchbruch als Autor und Wissenschaftler, indem er in steter Regelmäßigkeit für die geradezu legendären Rowohlt-Bildmonografien zahlreiche Bestseller über die großen Persönlichkeiten der deutschen sozialistischen Bewegung verfaßte: über Marx und Engels, Bebel und Lassalle, aber auch über Bettina von Arnim und Sophie von Hatzfeldt. Unbestritten nimmt Rosa Luxemburg in seinem Schaffen die Schlüsselrolle ein. Deren Biografie erlangte nach ihrem erstmaligen Erscheinen 1969 schnell Kultstatus und wurde in den folgenden Jahrzehnten weit mehr als 100000 mal verkauft.

Der Erfolg von Hirschs Büchern beruhte nicht zuletzt darauf, daß der Autor die deutsche Sprache meisterlich beherrschte und seine Leser bereits mit dem ersten Satz zu packen und in den Bann seiner Darstellung zu ziehen vermochte. Was er im ersten Satz über seine Helden schrieb, galt für den Autor oftmals selbst: »Nichts wirkt derartig phantastisch wie das tatsächlich Geschehene«, beginnt seine Engels-Biografie. Der erste Satz seiner Monografie über Luxemburg lautet: »Das wahre Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist – ein Menschenleben«. Über dieses Buch, das zweifellos eine Zäsur in der Luxemburg-Rezeption der BRD markierte, kam die Zusammenarbeit mit Margarethe von Trotta zustande, die für ihren auch in der DDR sehr erfolgreichen Luxemburg-Film von Hirsch und der Ostberliner Historikerin Annelies Laschitza beraten wurde.

Dreimal verheiratet, wußte Hirsch auch mit Frauen jenseits der Politik umzugehen. Mit seiner dritten Frau Marianne verkehrte der Gelehrte allerdings per Sie, in dritter Person, wie der Autor dieser Zeilen bei seinem gemeinsamen Besuch mit dem damaligen ND-Redakteur Holger Becker im Herbst 1991 in Düsseldorf bei Hirsch erstaunt feststellen konnte. »Meine Liebe, würden Sie so gut sein, mir noch eine Tasse Kaffee zu reichen«, war eine beliebte Formel des Mannes, der im Alter von 79 Jahren mit regelmäßigem Bodybuilding begonnen hatte und als Frühaufsteher jeden Morgen im Park von Schloß Kalkum joggte, jenem Ort, an dem sich einst Sophie von Hatzfeldt und Ferdinand Lassalle trafen.

Hirsch zählte neben Hans Mayer, Stefan Heym und Sebastian Haffner zu den letzten jüdischen Deutschen, die noch aus eigenen Anschauungen über die Spätzeit der Weimarer Republik und die Jahre des Faschismus berichten konnten. Diese Erfahrungen verbitterten ihn allerdings keineswegs, sondern führten zu Abgeklärtheit und Altersweisheit. Er hatte daher auch keine Mühe, die Zeitenwende von 1989 optimistisch zu verarbeiten und an der Berechtigung von Utopien für eine gerechtere Welt mit dem folgendem Credo festzuhalten: »Dem sogenannten Zeitgeist muß ich also sagen: Ich habe keinen großen Respekt vor Dir.« Am 21. Januar starb Helmut Hirsch im gesegneten Alter von 101 Jahren. Die ihm gewidmete Traueranzeige ist mit seinen Worten »Kommentar, Protest, Meinungsverschiedenheiten, Liebe – das ist das Leben« überschrieben.

* Aus: junge Welt, 2. Februar 2009


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