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Abwicklung eines Menschenbildes

Die Universität Bremen baut den renommierten Studiengang Behindertenpädagogik ab

Von Birgit Gärtner, Bremen *

Seit Jahren gilt die Fachrichtung Behindertenpädagogik an der Uni Bremen als wissenschaftlicher Vorreiter. Jetzt soll sie abgebaut werden. In Zeiten von Eliteförderung gibt es für Behindertenpädagogik anscheinend keinen Bedarf mehr, und für die Uni Bremen sind Forschungsprojekte im Rüstungsbereich offenbar lukrativer.

Georg Feuser und Wolfgang Jantzen sind die Pioniere einer integrativen Behindertenpädagogik. Sonderschulen ebenso wie außerschulische Anstalten waren und sind für die beiden Wissenschaftler »gesellschaftliche Sondermülldeponien« - öffentliche Verwahrstellen für den »menschlichen Ausschuss« der Gesellschaft. Der weit verbreiteten Praxis der Diskriminierung, Ausgrenzung und Aussortierung setzen Feuser und Jantzen ein egalitäres Weltbild entgegen, in dem Behinderte gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft sind. Und sie entwickelten entsprechende Integrationskonzepte.

Mehr als 30 Jahre lang vermittelten die Professoren im Fachbereich Behindertenpädagogik dieses Weltbild den Studierenden an der Universität Bremen. Unterdessen sind sie emeritiert, ihre Stellen wurden nicht wieder besetzt, und der Studiengang wird abgewickelt. Ärger mit den Genossen

»Alles hing an einer Professorenstelle«, erläutert Jantzen gegenüber ND. »Mit nur einer Stelle mehr hätte der Studiengang in vergleichbarer Form erhalten bleiben können. Es wäre personell sehr eng geworden, aber es wäre gegangen.«

Im Zuge der Umstrukturierung der Hochschule weg vom Grund- und Projektstudium hin zu Bachelor- und Masterstudiengängen wurde die Behindertenpädagogik den »neuen, modernen« Anforderungen angeglichen: Ab dem Wintersemester 2005 wurden in den alten Lehramts- und Diplomstudiengang keine Studentinnen und Studenten mehr aufgenommen. Von dem ehemaligen eigenständigen Vollstudiengang, acht Semester mit Lehramts- oder Diplomabschluss plus ein Praxissemester im Diplomstudium, ist nur ein viersemestriges Lehramts-Master-Studium geblieben. 2012 läuft der alte Studiengang dann endgültig aus.

Feuser und Jantzen arbeiteten als junge Wissenschaftler zeitweise an der Uni Marburg im berühmten Fachbereich 3, wo Wolfgang Abendroth lehrte. 1974 wurde Jantzen nach Bremen berufen und übernahm den Vorsitz der Planungskommission dieses Studiengangs Behindertenpädagogik, der im Wintersemester 1975/76 begann. Feuser wurde dann 1978 ebenfalls als Professor berufen. Nicht die Defekte, sondern die Entwicklung zu sehen, und Verhaltensstörungen als Störungen der gesellschaftlichen Verhältnisse zu begreifen, war die Basis der Arbeit der beiden Wissenschaftler.

1975, das war die Zeit der Berufsverbote in der BRD. Wolfgang Jantzen, von 1974 bis zum Zusammenbruch des »Realsozialismus« DKP-Mitglied, hatte zu kämpfen gegen ein reaktionäres, von Ausgrenzungs-Gedanken geprägtes Weltbild vieler Kollegen sowie gegen den Antikommunismus. Und wenn nicht die politischen Gegner ihm das Leben schwer machten, dann die eigenen Genossen: Mit seiner Auffassung eines anthropologischen Marxismus eckte er bei den Ideologie-Technokraten in den Führungsriegen der Partei und der SED an.

Prüfung in der Praxis

Aber Jantzen blieb beharrlich und galt bald als Pionier einer integrativen Behindertenpädagogik. Im Wintersemester 1987/88 erhielt er eine Gastprofessur am Wilhelm-Wundt-Lehrstuhl in Leipzig.

Doch Feuser und Jantzen wollten mehr als schöne Theorien entwickeln, sie wollten den Bezug zur Praxis. »Ich kann nicht den Studentinnen und Studenten Theorien predigen, von denen ich gar nicht weiß, ob sie in der Praxis Bestand haben«, sagt Jantzen. Er und Feuser unterstützten Behinderteneinrichtungen, die an Veränderungsprozessen interessiert waren, engagierten sich im Aufbau von Integrations-Kindergärten und -schulklassen. »Auch den sonst häufig üblichen Gegensatz Professor - Studenten gab es in Jantzens Seminaren nicht«, erinnert sich Efigenia Castro, die bei Jantzen studierte. »Wir haben uns gemeinsam entwickelt, sind gemeinsam gewachsen. Wer wollte, konnte eine anspruchsvolle Entwicklung mit sich selber machen»

Der Studiengang Behindertenpädagogik an der Uni Bremen erwarb sich den Ruf als ein Studium mit hohem Niveau, die Absolventinnen und Absolventen gelten als überdurchschnittlich qualifiziert. »Einige meiner Absolventen wurden auf Professorenstellen berufen», so Jantzen. »Deshalb bricht jetzt natürlich nicht alles weg, wir haben in den mehr als 30 Jahren schon Grundlagen geschaffen, die nicht mit der Abwicklung des Studiengangs verloren sind«.

Forschung für Bundeswehr

Trotzdem verschwindet mit dem Studiengang ein Stück egalitäres Menschenbild aus dem Uni-Alltag, aus der Wissenschaft insgesamt, da sind sich Jantzen und Castro einig. »Die Universitätsleitung hat die beste Möglichkeit versäumt, einen Gegenpol zur Neoliberalisierung von Wissenschaft und Universität zu schaffen. Wie keine andere Fachdisziplin ist die Behindertenpädagogik dazu geeignet, die Humanwissenschaften - also alle Wissenschaften, die sich mit dem Menschen als Gegenstand der Forschung befassen - zu vereinen«, unterstreicht Jantzen. »Die Universität hätte eine andere Stellung einnehmen und an die gute alte Bremer Tradition anknüpfen können«.

Doch Politik und Unileitung wählten einen anderen Schwerpunkt - etwa Forschungsprojekte im High-Tech- und Rüstungsbereich. So ist die im Technikpark der Universität angesiedelte Firma Orbitale Hochtechnologie Systeme das Generalunternehmen für die Herstellung des ersten Aufklärungssatellitensystems der Bundeswehr, SAR-Lupe.

* Aus: Neues Deutschland, 23. November 2009


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