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"Wir müssen die Zukunft als machbar begreifen"

Elmar Altvater ist der Doyen der marxistischen Wirtschaftswissenschaft. Er untersucht die Strudel der Finanzmärkte und der Globalisierung ebenso wie die Möglichkeiten solidarischer Ökonomie.

Von Mischa Suter *

Da schreibt jemand seit über vierzig Jahren Bücher und hat immer wieder dasselbe Problem: «Die letzten Kapitel eines Buchs sind immer schwierig», sagt Elmar Altvater über die Aufgabe, nach der Untersuchung der Verhältnisse schliesslich eine gesellschaftliche Perspektive zu formulieren. Das Problem zeigt sich in vielen sozialkritischen Beiträgen: Auf radikale Analysen folgen Vagheiten, harm­lose Vorschläge und Forderungen. Den Zwiespalt zwischen Untersuchung und Anleitung zum Handeln gebe es bei den meisten AutorInnen, bei ihm selbst natürlich auch, meint Altvater, heute der bedeutendste deutschsprachige Ökonom marxistischer Prägung.

Verspäteter, aber umso herzlicherer Glückwunsch!

Die AG Friedensforschung schließt sich den Glückwünschen und der Laudatio von Mischa Suter von ganzem Herzen an und bedauert, den Geburtstag um eine Woche "verschlafen" zu haben.
Für die AGF: Werner Ruf und Peter Strutynski




Der pensionierte Professor für Politische Ökonomie wohnt in einem Mietshaus im Berliner Aussenbezirk Spandau, einer gewöhnlichen Stadtgegend mit Hähnchengrill-Imbiss und Eckkneipen, wie sie anderswo in Berlin verschwunden sind. Die Schwierigkeit des letzten Kapitels sei kein Zufall, sondern ein grundlegendes Merkmal konkreter Utopie. «Wenn wir den Kapitalismus oder die Gesellschaft analysieren, dann in der Zeitstrecke zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Daraus lässt sich nicht einfach die Zukunft extrapolieren, sondern wir müssen die Zukunft als etwas Machbares begreifen.» Der sonst zurückhaltend und abwägend formulierende Gesprächspartner redet nun engagiert: «Aber dieses Machbare ist vorgegeben durch die Gesellschaft, in der wir leben. Mit dem Kapitalismus wollen wir etwas abschaffen, in dem wir mittendrin sind. Und das Abschaffen geschieht unter Bedingungen, die vom Kapitalismus vorgegeben sind.» Ein anderer Kommentator hat einmal in bissigem Börsen-Slang bemerkt, die Zukunft sei «the present plus more options», die Gegenwart mit ein paar Optionen mehr. So erdrückt ein ewiges Präsens die Zukunft, die stets schon eingetreten ist. Dagegen gilt es, sagt nun Altvater, die Zukunft als Projekt zu verteidigen.

Ökonomie heisst Machtverhältnisse

Der Wirtschaftswissenschaftler, der am 24. August seinen siebzigsten Geburtstag feierte, tut das ein ganzes Forscherleben lang. Dazu untersuchte Altvater in vielen, zum Teil wuchtigen Büchern die Wirkung des Weltmarkts auf Länder der Dritten Welt oder den Zusammenhang zwischen Finanzmärk­ten und Umweltzerstörung. «Ich habe nie Ökonomie, Politik und Gesellschafts­analyse auseinanderdividiert.» Wie im weltweiten Rahmen mit ökonomischen Mitteln Herrschaft ausgeübt wird, wie wirtschaftliche Beziehungen und Machtverhältnisse zusammenhängen: Das ist die Arena, die in Altvaters Fach, der Internationalen Politischen Ökonomie, erforscht wird.

Aufgewachsen ist Altvater im Ruhrgebiet, in Kamen, einer Kleinstadt, die nur für ihr Autobahnkreuz aus den Staunachrichten im Radio bekannt ist. Der Vater war Bergarbeiter in der Kohlenzeche. Jobs als Liegewagenschaffner und auf dem Bau finanzierten das Ökonomiestudium in München, richtige Stipendien gab es in den Fünfzigern noch nicht. Wer aus dem Ruhrpott kam, hatte schon in der Volksschule Bekanntschaft mit der Klassengesellschaft gemacht. Der linke Student aus proletarischen Verhältnissen stand politisch in der Uni am Rand. Er besorgte sich das «Kapital» von Karl Marx und las es. Allein. Von den 20000 StudentInnen an der Uni München waren genau elf Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds. Das änderte sich, als zur Mitte der sechziger Jahre die StudentInnen in Bewegung kamen. 1968 hatte Altvater seine Dissertation über Umweltprobleme in der Sowjetunion geschrieben und arbeitete als Assistent an der Uni Erlangen-Nürnberg. Er begann «Kapital»-Lektürekurse als Lehrveranstaltungen anzubieten. Ein immenser Erfolg, der sich fortsetzte, als Altvater im Herbst 1970 eine Professorenstelle an der Freien Universität (FU) in Westberlin erhielt. «Wir lasen das 'Kapital' als emanzipatorisches Projekt. Wir wollten wissen, wie die Gesellschaft funktioniert und wie wir selber in ihr funktionierten.» Die Beschäftigung mit Marx' Hauptwerk als «kollektive Anstrengung» verfolgt Altvater nach wie vor. Vor einigen Jahren gab er «Kapital.doc» heraus, eine Lesehilfe in Buchform, mit CD-ROM.

Kollektive Forschung

Der Ausdruck «ricerca collettiva», kollektive Forschung, stammt vom italienischen Linkssozialisten Lelio Basso und bezeichnet das Wechselspiel zwischen sozialer Bewegung, politischer Praxis und dem Versuch, diese Praxis theoretisch zu begründen oder zu reflektieren. Altvaters Arbeiten sind zunächst im durchaus handfesten Sinn kollektive Forschungen. Viele Texte entstanden als Gemeinschaftsarbeiten, Bücher wie «Grenzen der Globalisierung», das vergangenes Jahr in der 7. Auflage erschien, verfasste Altvater mit seiner Lebensgefährtin, der Politikwissenschaftlerin Birgit Mahnkopf, Professorin für Europäische Gesellschaftspolitik an der Fachhochschule für Wirtschaft in Berlin. Die Untersuchungen widerspiegeln die Konjunkturen von Bewegungen, zunächst die Gewerkschaftsbewegung, seit den siebziger Jahren vermehrt die neuen sozialen Bewegungen, später standen Umweltpolitik und die Solidarität mit der Dritten Welt im Vordergrund. In den neunziger Jahren rückten globalisierungskritische Bewegungen wie Attac oder die Weltsozialforen in den Mittelpunkt. Vergangenes Jahr schliesslich ist Altvater der Partei Die Linke beigetreten.

Auch der im engeren Sinn wissenschaftliche Kontext zeigt politische Entwicklungen an, etwa in der Zeitschrift «Prokla», die Altvater mitgegründet und geprägt hat. Die erste Ausgabe 1971 hiess «Probleme des Klassenkampfes». Fünf Jahre später änderte das Journal seinen Namen in «Prokla: Zeitschrift für politische Ökonomie und sozialistische Politik», und 1992 wechselte der Untertitel abermals, in «Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft». Eindeutigkeiten begannen zu verschwimmen. Das Bewegungsprojekt mit wissenschaftlichem Anspruch wurde zu einer wissenschaftlichen Zeitschrift mit politischem Anspruch.

Auch thematisch verschoben sich die Gewichtungen. In den siebziger Jahren interessierten hauptsächlich Untersuchungen zur wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik. In gewerkschaftlichen Diskussionen schlug Altvater mit weiteren Autoren Wege jenseits des Keynesianismus vor, der staatsinterventionistischen Strategie der Gewerkschaften. «Wir haben aber gemerkt, dass man die Dynamik und die Widersprüche der ökonomischen Entwicklung in Deutschland nicht versteht, ohne die Entwicklung in Europa einzubeziehen.» Über Europa hinaus erweiterte die Schuldenkrise der Dritten Welt in den Achtzigern den Untersuchungshorizont, auch ganz konkret durch Forschungsaufenthalte in Brasilien. Der Kollaps des Realsozialismus, der in Berlin in Echtzeit mitzuverfolgen war, bewirkte eine immense Freisetzung von Marktmechanismen. Bei aller Kritik am Realsozialismus, zu dem Altvater dis­tanziert geblieben war: Was bedeutete die Umwälzung in Osteuropa vom Primat der Politik und des Staates zum Primat der Ökonomie für die Linke? Was hiess es für jene, die eine radikal andere Zukunft forderten, dass nun ohrenbetäubend das «Ende der Geschichte» verkündet wurde? Der 1991 veröffent­lichte Essay «Die Zukunft des Marktes» versuchte diesen Fragen nachzugehen. Die Krisentendenzen entfesselter Märk­te zu studieren, wurde umso nötiger, als der Systemwettbewerb von der Standortkonkurrenz abgelöst worden war. In den neunziger Jahren drängte es sich auf, die globalisierte Ökonomie der Weltgesellschaft zu untersuchen.

Die Globalisierung schafft einen «raumkompakten und zeitkompakten Globus», wie Mahnkopf und Altvater in ihrem Standardwerk «Grenzen der Globalisierung» schreiben: mit niedrigen Transport- und Kommunikationskosten und sinkenden Transaktionskosten dank Freihandelsabkommen. Deutlichster Ausdruck und treibende Kraft dieser Entwicklung sind die Finanzmärkte, wo die Zukunft am eklatantesten von der Gegenwart in Dienst genommen wird. Finanzmärkte sind grundsätzlich instabil, und ihre Liberalisierung in den siebziger Jahren hat diese Instabilitäten verstärkt. Die Zukunft bleibt unsicher, der Finanzsektor hebelt diese Unsicherheit hoch. «Der Finanzsektor ist nicht losgelöst von der realen Ökonomie. Er erzeugt lediglich Ansprüche an die reale Ökonomie», so Altvater im Gespräch. «Eine Rendite im Finanzsektor von zwanzig Prozent bedeutet entweder eine rein inflationäre Blase - wertloses Papier - oder dass diese zwanzig Prozent auch von der realen Ökonomie erbracht werden müssen. Und dafür muss die Realwirtschaft entsprechend wachsen. So ergeben sich aus den Finanzmärkten enorme Wachstumszwänge, die unter anderem fatale ökologische Auswirkungen haben.» Aus der historischen Vogelschau gesehen, erreichte der Kapitalismus seine Wachstumsdynamik nur, weil er voll auf fossile Energieträger setzte. Dies macht die äussere Grenze des Erdöls zu einer inneren Grenze kapitalistischer Entwicklung. Eine andere Welt ist nicht nur möglich, wie die «Altermondialistes» postulieren, sie ist auch nötig, «weil wir die Welt verändern müssen», so Altvater 2006 in seiner Abschiedsvorlesung an der FU Berlin, «wenn wir wollen, dass sie bleibt.»

Solidarische Ökonomie

Kapitalismuskritik geschieht in praktischer Absicht und aus handfester Notwendigkeit. Dazu brauche es, so Altvater, eine Vorstellung möglicher Welten. Der Schriftsteller Robert Musil schreibt vom «Möglichkeitssinn», der aus der Wirklichkeit geweckt wird. Darin liegt das Problem der letzten Kapitel von Büchern: Analysen können von Einzelnen betrieben werden. Aber von der Zukunft lasse sich nur sprechen, sagt Altvater, «wenn man nicht nur eine Analyse anstellt, sondern auch Utopien entwickelt. Und das kann nur kollektiv geschehen.» Am revolutionären Prozess gesellschaftlicher Veränderung teilzuhaben, über weite Strecken ein unauffälliger Prozess, sei nur bedingt Sache von Büchern. Menschen würden sich ihrer inakzeptablen Lage widersetzen, und dieser Impuls gehe über das Heute hinaus. Auf Reisen in Argentinien nach der grossen Krise von 2001 beeindruckten Altvater die Betriebsbesetzungen, die «fabricas recuperadas». Aus der Not geborene, limitierte Wiederaneignungen weiteten sich einen Moment lang zu einer Bewegung aus. «Dabei wurden neue Räume er­obert, die nicht mehr nach den Prinzipien der Verwertung funktionierten - es ging nicht mehr darum, etwas für Geld zu verkaufen, sondern man nutzte etwas, um gemeinsam etwas zu machen.» Die­se begrenzten Ansätze dürften nicht romantisiert werden. Aber anders als das individuell organisierte Prinzip des Marktes, setzten Versuche einer solchen solidarischen Ökonomie ein kollektives Subjekt voraus. So könnten im Innern der Gesellschaft, aus den Verhältnissen und ihren Widersprüchen, Entwicklungen mit Veränderungspotenzial entstehen, «bei denen offen ist, was für eine Dynamik sie annehmen».

* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 28. August 2008

Elmar Altvater lesen

Elmar Altvater schreibt regelmässig in der deutschen Wochenzeitung «Freitag», die unter www.freitag.de ein Volltextarchiv führt. Zu seinen Büchern gehören unter anderen:
  • Mit Achim Brunnengräber (Hg.). «Ablasshandel gegen Klimawandel? Marktbasierte Instrumente in der globalen Klimapolitik und ihre Alternativen». VSA-Verlag. Hamburg 2008. 236 Seiten. Fr. 28.90.
  • Mit Birgit Mahnkopf. «Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Politik und Ökologie in der Weltgesellschaft». Verlag Westfälisches Dampfboot. Münster 2007 (7. Auflage). 600 Seiten. Fr. 50.90.
  • «Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Eine radikale Kapitalismuskritik». Verlag Westfälisches Dampfboot. Münster 2005. 240 Seiten. Fr. 27.50.
  • «Die Zukunft des Marktes. Ein ­Essay über die Regulation von Geld und Natur nach dem Scheitern des 'real existierenden Sozialismus'». Verlag Westfälisches Dampfboot. Münster 1991. 386 Seiten. Antiquarisch unter www.zvab.de
  • «Sachzwang Weltmarkt. Verschuldungskrise, blockierte Industrialisierung und ökologische Gefährdung: der Fall Brasilien». VSA-Verlag. Hamburg 1987. 382 Seiten. Antiquarisch unter www.zvab.de
Zuletzt auf dieser Website erschiene Beiträge von Altvater (Auswahl):



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