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Rezension zu Matthias Küntzel: Der Weg in den Krieg

Von Marina Achenbach

KOSOVO-Über die Vorgeschichte des NATO-Krieges und die Wiederkehr des völkischen Denkens - ein Buch von Matthias Küntzel



Die Legende: Aus Bündnistreue musste die Bundesrepublik Deutschland wohl oder übel mit in den Krieg. Es hieß sich von den Versuchungen eines "Sonderwegs" zu verabschieden und statt dessen als gleicher Staat unter Gleichen zu handeln. Deutsche Politik hätte durch Abstinenz nichts verhindern, sich nur selbst ins Abseits manövrieren können. Diesem Bild entsprachen vor einem Jahr auch scheinbar ungereimte Umfrageergebnisse : Ja, dieser Krieg ist "richtig", sagte damals eine knappe Mehrheit (also längst nicht alle). Nein, der wird nichts "bringen", sagte eine viel größere Mehrheit derselben Befragten. Das war irgendwann im April, als die Bomben fielen.

Es gibt schon eine ansehnliche kritische Bibliothek zum Kosovo-Krieg, zur UÇK, zur verblüffenden Wendung der Grünen, zur NATO und dem Beweis ihrer "Existenzberechtigung" durch Krieg. Die ersten Bücher waren Sammelbände. Jetzt erschien diese Untersuchung über die Vorgeschichte des Krieges von Matthias Küntzel, Politikwissenschaftler, der 1984-1988 auch Referent der Bundestagsfraktion der Grünen war: Küntzel stellt dar, dass die Bundesrepublik Deutschland treibende Kraft auf dem Weg in den Krieg war. Das Buch geht von den bekannten, allen zugänglichen Quellen aus. Zitate aus FAZ, taz, Rundschau, Süddeutscher, Spiegel, Zeit, Freitag, aus amerikanischen, englischen Zeitungen (die Widersprüchlicheres transportieren als deutsche), aus Bundestags- und UNO-Protokollen und auch Büchern der Balkanhistoriker verschiedener Couleur bilden das Gewebe des Textes. Küntzel sortiert die Aussagen und verbindet sie auf eine Weise, dass der diffuse Stoff gut lesbar wird. Er bringt dadurch "Übersichtlichkeit" in die Geschehnisse. Vor allem betrachtet er die Monate März 1998 bis März 1999, das Jahr vor dem Krieg, in dem sich die Haltungen der NATO-Länder - auch der USA - vielfach änderten und kreuzten.

Es gab nur einen Staat, der nach Küntzels Erkenntnis ohne Abweichung eine stringente Linie verfolgte, die Bundesrepublik Deutschland. Es war die Linie zum Krieg gegen Serbien, zur Errichtung eines Protektorats Kosovo, zur Vorbereitung der Sezession und langfristig zur Vereinigung des Kosovo mit Albanien. Die deutsche Politik identifizierte sich ganz mit den Zielen der nationalistischen Bewegungen des Kosovo und auch Albaniens.

In den USA wurde Außenministerin Albright Exponentin der harten und strafenden Politik gegen "Belgrad". Sie hatte Widersacher im Pentagon, wie auch in der Person Holbrookes, der dann zum Zuge kam, wenn Albrights Position schwächer war. Am 8. März 1998 aber reiste sie nach Bonn, um mit Klaus Kinkel Vorabsprachen für die bevorstehende Konferenz der "Kontaktgruppe" zu treffen. Kinkel jubelte fast: "Die Amerikaner haben ein unermessliches Interesse und Verständnis für unsere Position an den Tag gelegt". Diese Position bestand in der Internationalisierung des Konflikts und der Vorbereitung des militärischen Eingreifens.

Wie nun ein Zerren und Drängen in alle Richtungen einsetzte, wie die diversen Ultimaten an Milosevic´ zustande kamen, sein partielles Nachgeben Genugtuung bei den einen und Frust bei anderen auslöste, zeichnet Küntzel in einigen Kapiteln nach. Auch wie es im Mai 1998 Gespräche zwischen Rugova und Milosevic gab, wie der neue Präsident Albaniens, der Sozialist Fatos Nano, den Sezessionisten die Unterstützung entzog, wie Rugovas Stern in den deutschen Medien zu sinken begann, wie die UÇK jene Gebiete besetzte, aus denen die serbische Sonderpolizei abzog, wie im Spätsommer 1998 diese Sonderpolizei und die Armee eine Gegenoffensive starteten und Hunderttausende Kosovo-Albaner aus ihren Dörfern trieben, wie dann im Frühherbst wiederum die UÇK diese Menschen hinderte, zurückzugehen, alle diese Wendungen werden noch einmal - vielfach mittels Zitaten - beschrieben. An einer Deeskalation waren demnach zwei Beteiligte nie interessiert: die UÇK und die deutsche Politik mit Rühe, Kinkel und dann genauso mit Fischer.

Aber Küntzel möchte nicht nur die Ereignisse beschreiben und ordnen, sondern die Motive des Handelns ergründen. Dass es sich dort nicht um direkte ökonomische Interessen handelt, liegt für ihn auf der Hand. Er meint, die Motive in den "unsichtbaren und unerkannten Wirkungskräften" der Vergangenheit zu entdecken, in "bewährten" Machtstrategien und in völkischen Denkkategorien, die nie überwunden wurden. Er erinnert an das Schwärmen für die Skipetaren seit Karl May. Hitler übernahm das Bild der mutigen Arier, die umgeben waren von feindlichen Mächten - wie die Deutschen auch. Schließlich hat die Idee der notwendigen "ethnischen Reinheit" eines Volkes gerade die albanischen nationalistischen Bewegungen (und nicht die serbischen Nationalisten) durchdrungen. Darin liegt eine Verbindungslinie zu den Kroaten. Beide Seiten knüpfen an Gedankengut aus der Zeit der deutschen Besetzung und der jeweiligen Kollaboration an.

Für die deutsche Politik liegt in der Sprengkraft des völkischen Gedankens in Osteuropa die Chance, neue Einflussgebiete zu erschließen. Kein Staat hat so einen Machtzuwachs zu verzeichnen seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wie Deutschland, schreibt Küntzel. So sei eine Grunderfahrung der BRD: territoriale Neuordnungen sind nützlich, worin sie sich von den USA wesentlich unterscheidet, die die von ihnen mitgeschaffene Nachkriegsordnung eher stabil halten wollen.

Und ähnlich unterschiedlich sind auch beide Mächte in Hinblick auf völkische Motive. Küntzel zitiert aus zwei Reden im ersten Kriegsmonat, die diesen Unterschied belegen:
Gegen ein unabhängiges Kosovo spreche, so Clinton, "dass ein moderner Staat seine Existenzberechtigung nicht mehr allein aus der Volkszugehörigkeit seiner Bürger ableiten könne. Der Balkan dürfe nicht noch weiter in immer kleinere, rein ethnisch definierte, unabhängige Staaten zersplittert werden". (FAZ)
Nur wenige Tage vorher verriet Karl Lamers (CDU) im Bundestag einen sehr anderen Geist: "... in einem unabhängigen Kosovo als Zwischenschritt zu einem Anschluss an Albanien würde mit Sicherheit kein Serbe mehr leben wollen, selbst wenn wir jedem von ihnen versprächen, ihm einen westlichen Polizisten an die Seite zu stellen." Das Protokoll verzeichnet großen Applaus, nicht nur von der eigenen Partei.
(Quelle: Freitag Nr. 13, 24. März 2000)

Matthias Küntzel, Der Weg in den Krieg - Deutschland, die NATO und das Kosovo, Berlin (Elefantenpress), 2000

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