Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Die weltpolitischischen Folgen des NATO-Kriegs gegen Jugoslawien

Von Werner Ruf

Es handelt sich hier um das Manuskript des Vortrags, den Werner Ruf bei 6. Friedenspolitischen Ratschlag im Dezember 1999 in Kassel gehalten hat. Wir dokumentieren das Referat ohne die Fußnoten.

1. Das Völkerrecht und die Vereinten Nationen

Immer wenn ganz Schreckliches geschah, erstarkten Proteste, Bewegungen und Druck der Menschen, die forderten, die Geißel des Krieges zu bannen; und es kam zu der Einsicht Mancher der in der Politik Tätigen, daß man doch endlich den Krieg verhindern müsse. Ein solcher erster Anlauf war die Gründung des Völkerbundes nach den Schrecken des Ersten Weltkrieges, ein zweiter und in vielen Aspekten sehr gelungener Anlauf, war die Gründung der Vereinten Nationen, deren Ziel es ist, den Krieg in Zukunft zu verhindern, und deren Charta ganz eindeutig klarmacht, daß Angriffskriege verboten sind, daß in Zukunft kein Staat mehr das Recht haben soll, von sich aus Krieg zu führen, daß es die alte praktische Formel, vom gerechten Krieg oder von der Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln (Clausewitz) mittels Krieg nicht mehr geben dürfe. Damit sind selbstverständlich auch die sogenannten Präventivschläge nicht mehr zulässig und völkerrechtlich verboten.

Das Verbot des Krieges als Mittel der Politik wird besonders deutlich in Artikel 51 der UN-Charta, der zwar den Verteidigungskrieg erlaubt, falls trotz der Bestimmungen der Charta ein Staat einen Angriffskrieg führen sollte, oder aber - und das war zum Zeitpunkt der Gründung der Vereinten Nationen durchaus denkbar - falls ein Nichtmitglied der Vereinten Nationen einen Krieg beginnen sollte sollte irgendein Staat dennoch einen Angriffskrieg führen. Hierzu stellt die Charta fest:
"Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis (Hervorhebung W.R.) der Sicherheitsrat die zur Wahrnehmung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat."
In dem Augenblick also, in dem der Sicherheitsrat Maßnahmen ergreift, verliert sogar der angegriffene Staat das Recht auf eigene Kriegführung gegen den Aggressor, dieses Recht geht über an jene suprastaatliche Institution, den UN-Sicherheitsrat, dem zu unterwerfen die Mitgliedsstaaten sich mit ihrem Beitritt zur Charta, also durch den Abschluß eine völkerrechtlich verbindlichen Vertrages, verpflichtet haben. Damit ist der Sicherheitsrat nichts anderes als die Institutionalisierung eines internationalen oder besser: überstaatlichen Gewaltmonopols, ganz so, wie wir das aus der innerstaatlichen Ordnung kennen, daß die Gewalt eben nicht von Einzelnen ausgeübt werden darf, sondern nur durch die Staatsgewalt, sei sie nun demokratisch legitimiert und rechtsstaatlich verfaßt oder auch nicht, wie dies in vielen Staaten der Fall ist, die aber dennoch Mitglieder der Vereinten Nationen sind. Die Schaffung eines solchen, über den einzelnen Staaten und Regierungen stehenden Gewaltmonopols war die Intention, die der Gründung der Vereinten Nationen zugrunde lag. Und da es darum ging, Kriege zwischen den Staaten zu verhindern, wurden in der Charta selbstverständlich die gewachsenen völkerrechtlichen Prinzipien des Respekts der Souveränität und der territorialen Integrität der Staaten festgeschrieben. Allerdings war die Wirklichkeit in der Staatenwelt völlig anders, denn kaum waren die Vereinten Nationen gegründet, begann der Korea-Krieg, dann hatten wir alle möglichen anderen Kriege, nicht zuletzt die Angriffskriege Israels, die vielen Stellvertreterkriege, wie jene Konflikte genannt wurden, auf die die damaligen Führungsmächte des bipolaren Systems in allen Teilen der Welt, vor allem in der sogenannten damaligen Dritten Welt, Einfluß nahmen. So gesehen könnte man sagen, diese Charta hat nie funktioniert.

Und in der Tat: Hätte das 1944 in San Francisco geschaffene Vertragswerk funktioniert, dann hätten die Konflikte, die dann zu Kriegen eskalierten, schnell eingedämmt werden können. Daß dies nicht geschah, liegt an Konstruktionsfehlern der Charta, und diese Konstruktionsfehler sind zurückzuführen auf die Eifersucht, mit der gerade die großen Staaten versucht haben, ihre volle Souveränität zu bewahren und sich selbst dem angedachten überstaatlichen Gewaltmonopol dann zu entziehen, wenn dies zur Wahrnehmung ihrer Interessen nötig oder vorteilhaft erschien.

Dies zeigt sich deutlich in der Konstruktion des Sicherheitsrates. Laut Art. 2 der Charta, sind alle Staaten souverän und gleich, aber die Konstruktion des Sicherheitsrats sieht vor, daß es Mitglieder gibt, die gleicher sind als die Anderen: die fünf Ständigen Mitglieder, die über ein Vetorecht verfügen. Jedes dieser fünf Mitglieder kann den Sicherheitsrat blockieren und ihn handlungsunfähig machen, was in der Folgezeit auch immer wieder geschehen ist. Dies ging meist auf das sowjetische Veto zurück, wobei allerdings zu bedenken ist, daß in der zeit des Systemantagonismus die Zahl der Sicherheitsratsmitglieder 4 gegen 1 war, so daß es geradezu logisch erscheint, daß die Sowjetunion öfters von diesem Instrument Gebrauch machte.

Somit ist festzuhalten: Der Sicherheitsrat ist kein demokratisches Gremium, sondern er besteht aus den Nichtständigen und den Ständigen Mitgliedern, die sich, als die Siegermächte des zweiten Weltkriegs, mit bestimmten Privilegien ausgestattet haben, mit deren Hilfe sie sich Mehrheitsentscheidungen des Rates entziehen können. Das zweite Problem der Charta ist die fehlende Gewaltenteilung, die wir aus bürgerlich-demokratischen Staaten kennen, ist die Gewaltenteilung. Dort haben wir eine Exekutive, die von der Legislative, dem Parlament kontrolliert wird. Und wir haben eine Judikative, in der Bundesrepublik z.B. das Bundesverfassungsgericht, das prüfen kann, ob Entscheidungen der Regierung oder Gesetze des Parlaments auch verfassungskonform sind. All dies ist in den Vereinten Nationen nicht der Fall, ja die dominante Rolle des Sicherheitsrats wird erst richtig deutlich, wenn man sich klar macht, daß die Vollversammlung, also gewissermaßen das Parlament der UNO, sich nicht mit einem Konflikt befassen darf, solange dies der Sicherheitsrat tut.

Und ein Drittes: Der Internationale Gerichtshof ist nur zuständig für Streitigkeiten zwischen den Parteien, also zwischen den Mitgliedsstaaten, wenn diese sich ihm im konkreten Falle unterwerfen. Und, was noch schwerer wiegt: er hat keine Normenkontrollkompetenz. Er also kann nicht darüber befinden, ob der Sicherheitsrat beispielsweise gegen das Völkerrecht, oder auch gegen Sinn und Buchstaben seiner eigenen Charta verstößt.

Damit wird deutlich: Diese Charta ist das Resultat politischer Prozesse und macht die Vereinten Nationen handlungsunfähig für das, wofür sie da sein sollten die Verhinderung und Beendigung zwischenstaatlicher bewaffneter Konflikte. Besonders deutlich machte dies ein amerikanischer Kollege, der dieses gravierende Defizit der Vereinten Nationen auf die kesse Formel brachte: "Die Vereinten Nationen sind eine Mitgliedsorganisation. Gewisse Mitglieder sind ‚gleicher' als andere. Und wir sind der Erste unter den ‚Gleicheren'".

2. Die Menschenrechtsproblematik

Erinnern wir uns: Die im Herbst 1998 gewählte neue Bundesregierung hatte feierlich einen Politikwechsel angekündigt. Was herauskam, war, daß sie sich in nahezu allen Politikfeldern in der Herstellung und in der Wahrung der "Kontinuität" deutscher Politik gegenüber der alten Regierung geradezu überboten hat. In der Außenpolitik hat sie unser Land in einen völkerrechts- und verfassungswidrigen Angriffskrieg geführt, indem sie sich auf die Wahrung und den Schutz der Menschenrechte berief.

In der Tat liegt hier ein Spannungsverhältnis: Die Vereinten Nationen respektieren (nach Art. 2 der Charta) grundsätzlich die Staatensouveränität, d.h. eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates ist unzulässig. Andrerseits bekennt sich die Charta in ihrer Präambel in Art. 1 ausdrücklich zur Wahrung der Menschenrechte und spricht sich aus für "die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheit für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprach oder der Religion ..." Mit dem Beitritt zur Charta erklärt somit jeder Staat, daß er seinerseits die Menschenrechte respektiert, weil mit dem Beitritt zu den Vereinten Nationen Internationales Recht zu innerstaatlichem Recht wird. Darüber hinaus wurden die Menschenrechte nochmals ausdrücklich bekräftigt in der 1948 verabschiedeten Erklärung der Menschenrechte.

Das Problem ist nun, daß zwar fast alle Staaten der Menschenrechtskonvention beigetreten sind, diese aber innenpolitisch nicht umsetzen. Eine Einmischung von außen erscheint jedoch wegen des Souveränitätsprinzips grundsätzlich nicht möglich. Nun basiert das Völkerrecht hauptsächlich auf zwei Quellen: dem Vertragsrecht und dem Völkergewohnheitsrecht. Und hier finden sich in jüngerer Zeit wichtige Präzedenzfälle. So hat der Sicherheitsrat beispielsweise aufgrund großen internationalen (und inneramerikansichen) Drucks Resolutionen, zunächst gegen Südafrika, dann gegen Rhodesien gefaßt, und die dortige Rassendiskriminierung eine Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit bezeichnet (nur aufgrund dieser Feststellung kann der Sicherheitsrat tätig werden) und nach Kap. VI der Charta Maßnahmen gegen diese Staaten verhängt. Maßnahmen, die auf wirtschaftlicher Ebene getroffen wurden und durchaus auch effizient waren. Hier ist also das Souveränitätsprinzip durchbrochen und ein Völkerrecht konstituierender Präzedenzfall geschaffen worden. Seither sind Sanktionen des Sicherheitsrats gegen Staaten möglich, wenn der Sicherheitsrat die innerhalb eines Staates stattfindenden Menschenrechtsverletzung als Gefahr für die internationale Sicherheit und den Weltfrieden definiert. Damit ist jedoch noch nicht gesagt, daß deshalb gleich Waffengewalt eingesetzt werden müßte, den Kapitel VI der Charta nennt ein Vielzahl möglicher Maßnahmen, die weit im Vorfeld des Einsatzes bewaffneter Gewalt liegen.

Dieses Prinzip wurde dann wieder aufgegriffen, als der Sicherheitsrat nach Ende des zweiten Golfkriegs, dessen ursprüngliches Ziel die Wiederherstellung der Souveränität Kuweits war, Maßnahmen gegen den Irak verhängte und erstmals den Begriff der "humanitären Intervention" prägte. Dieser neu ins Völkerrecht eingeführte Begriff war denn auch Bezugspunkt jener Interventionen, die, mandatiert von Sicherheitsrats und primär getragen von den USA, in Somalia und in Haiti durchgeführt wurden. Bereits im Falle des Irak, und deutlicher noch in den beiden anderen Fällen zeichnete sich ab, daß der Sicherheitsrat durch die USA zunehmend marginalisiert wurde, das "Recht zur humanitären Intervention" zunehmend zur Legitimation nationalstaatlicher Interventionen benutzt werden könnte. Eine solche Entwicklung birgt die Gefahr, einerseits die - prekäre - Autorität des UN-Sicherheitsrates weiter zu beschädigen, andrerseits dieses "humanitäre Interventionsrecht" zum Instrument der Durchsetzung nationalstaatlicher Interessen zu machen.

3. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

Die OSZE ist die Nachfolgeorganisation der KSZE (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa). Die aus dem sog. Helsinki-Prozeß hervorgegangen ist, der 1971/72 begonnen hat, als auch die Regierung im Westen wie im Osten realisiert hatten, daß die Formel "Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter" die unausweichliche Folge des west-östlichen Sicherheitsdilemmas und der daraus resultierenden Rüstungsspirale war. Beteiligt waren an dieser Konferenz alle Staaten der NATO, alle Staaten der Warschauer Vertragsorganisation und alle anderen, also die neutralen europäischen Staaten. Diese Konferenz, die bis zum Ende des Welt-Ost-Konflikts dauerte erreichte immerhin einige vertrauensbildende Maßnahmen im Verhältnis zwischen Ost und West wie auch die Herstellung von mehr Meinungsfreiheit in den Staaten des real genannten Sozialismus.

Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wurde die KSZE umgewandelt in die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE), die feierlich aufgrund einer Charta im Jahr 1990 in Paris ins Leben gerufen wurde und deren Ziel und Aufgabe es ist, für die Vermeidung bewaffneten Konflikten in Europa zu sorgen, insbesondere durch Überwachung und Mediation (Vermittlung). Ihr gehören 57 Staaten an. Der Stellenwert, der dieser Organisation mit ihren 57 Mitgliedstaaten beigemessen wird, zeigt sich schon an der Tatsache, daß ihr Budget 1% des NATO-Budgets beträgt. In ihren konkreten Unternehmungen ist sie abhängig von der Bereitstellung von Personal und Mitteln durch die Mitgliedstaaten. Darunter sind die 19 Mitgliedstaaten der NATO, in der wiederum die USA den größten Einfluß haben. Somit stellt die NATO einen entscheidenden Block innerhalb der OSZE dar, ohne dessen Zustimmung diese Organisation handlungsunfähig ist bzw. deren Entscheidungen und Handlungen stark von der NATO beeinflußt werden können.

Im Konflikt um den Kosovo sollte die OSZE eine entscheidende Rolle spielen. Der UN-Sicherheitsrat hatte in seiner Resolution 1160 vom 31. März 1998 hatte der UN-Sicherheitsrat "tätig werdend nach Kap. VII der Charta" (wonach der Konflikt als "den internationalen Frieden und die Sicherheit" gefährdend eingestuft wird) die exzessive Gewaltanwendung der serbischen Polizei ebenso verurteilt wie die "terroristischen Akte" der UCK. Zugleich bekundete der Sicherheitsrat "seine Unterstützung für die Anstrengungen der OSZE, eine friedliche Beilegung der Krise im Kosovo herbeizuführen ... sowie für die Rückkehr der Langzeitmissionen der OSZE." Damit hatte die OSZE ein ausdrückliches Mandat der Sicherheitsrates. Am 23. September 1998 verabschiedete der Sicherheitsrat die Resolution Nr. 1199, in der die von serbischer Seite ausgehende Gewalt wesentlich schärfer verurteilt wurde. Zeitgleich informierte der amerikanischen UN-Botschafter den Sicherheitsrat davon, daß die NATO-Planungen für ein militärisches Eingreifen nahezu abgeschlossen seien. Daß der Krieg bereits zu diesem Zeitpunkt beschlossene Sache war, ergibt sich auch aus einer bis heute undementiert gebliebenen Äußerung von Joschka Fischer aus der Zeit der Bildung der neuen Bundesregierung:
"12. Oktober 1998. Schröder und Fischer befinden sich auf dem Weg zum Kanzler (damals noch Helmut Kohl W.R.), als ein Anruf Günter Verheugens sie einholt. In Washington habe man umgedacht. Man wünsche nun doch sofort eine Zustimmung aus Bonn. 'Fünfzehn Minuten', erinnert sich Joschka Fischer verknittert in irgendeiner stillen Stunde während des Krieges, 'blieben uns, um über eine Frage von Krieg und Frieden zu entscheiden. Warum müssen wir gerade jetzt regieren?' fragt er sich noch."

Bereits am 24. September 1998 drohte die NATO mit Luftangriffen, am 13. Oktober willigte dann die Bundesrepublik Jugoslawien in da Holbrooke-Milosevic-Abkommen ein, sonst hätte die NATO den Luftkrieg bereits am 17. Oktober begonnen. Die nun folgende Stationierung verlief äußerst schleppend, insbesondere weil sich der amerikanische Leiter der Mission William Walker ungeheuer Zeit ließ, jede Entscheidung sich selbst vorbehielt und über Gebühr verzögerte. So war die Mission Mitte Februar 1999, also fünf Monate nach dem Abkommen, erst auf 1307 der vorgesehenen 2000 Man angewachsen:
"Auch die neue deutsche Regierung vermittelte nicht eben den Eindruck, als messe sie der Kosovo-Mission der OSZE eine sehr hohe Bedeutung bei. Regierungen, die später Tausende von Soldaten mit schwerem Gerät in den Kosovo schickten, taten sich offenbar schwer, wenige hundert unbewaffnete Verifikateure zügig verfügbar zu machen."

Ohne hier auf die Verhandlungen von Rambouillet eingehen zu können, die vor allem von den USA so geführt wurden, daß die Bedingungen für die jugoslawische Seite unannehmbar waren, erscheint das Verhalten der OSZE im Kosovo und insbesondere ihres Leiters, Walker, zumindest befremdlich. Jenseits zahlreicher anderer Ungereimtheiten, auf die nicht eingegangen werden kann, erscheint vor allem das sogenannte Massaker von Racak, das letztendlich zum Auslöser des Krieges gemacht wurde, in zweifelhaftem Licht:
"... Den ZeugInnen zufolge seien die ersten OSZE-Beobachter am Nachmittag des 15.1. in Racak eingetroffen, ohne jedoch von dem Massaker etwas zu bemerken. Mit Einbruch der Dunkelheit zogen sie wieder ab. Am nächsten Morgen, nachdem die USK das Dorf in der Nacht wieder unter ihre Kontrolle gebracht hatte, wurden die Leichen entdeckt. Walker traf gegen 13 Uhr, eskortiert von der UCK, am Fundort ein und beschuldigte vor laufenden Kameras die Serben, ohne eine weitere Untersuchung abzuwarten."

Waren die Leichen tatsächlich Opfer eines serbischen Massakers? Handelte es sich um die Körper von Menschen, die anderswo in einem Gefecht getötet worden waren? Waren die Getöteten von der UCK umgebrachte Albaner, die nicht mit der UCK kooperieren wollten? Vor allem: Warum hält die Europäische Union bis heute den Bericht eines Teams von finnischen Gerichtsmedizinern unter Verschluß, die die Leichen obduziert haben?

Soviel kurz zur Rolle der OSZE, die zur friedlichen Lösung dieses Konflikts berufen und schließlich auch damit beauftragt war; deren Präventionspotential aber in diesem Konflikt nicht zum Einsatz kam; die zurückgezogen wurde, bevor sie überhaupt mit ihrer Arbeit beginnen konnte. All dies läßt nur einen Schluß zu: dieser Krieg wurde gewollt. Die Frage bleibt aus welchen Gründen.

4. Neue Kriege?

Spricht man von "humanitärer Intervention", so ist nochmals zurückzublicken auf Den Zweiten Golfkrieg, wo nach Ende der Kampfhandlungen, nach Rückzug des Irak aus Kuweit im Sicherheitsrat eine Resolution (688) beschlossen wurde, die den Irak wesentlicher Teile seiner Souveränität beraubt, die dem Irak neue Grenzen aufzwang, die den ausländischen, unter UNO-Mandat tätigen Missionen aller Art freie Bewegung im Irak ermöglichte, und die vor allen Dingen, und ich denke, das ist unter Menschenrechtsgesichtspunkten wichtig, dem Irak ein Embargo auferlegte, an dessen Folgen seit neun Jahren nach Angaben von UNICEF und Weltgesundheitsorganisation monatlich 5000 Kinder unter fünf Jahren sterben. Dies sind die Folgen der ersten "humanitären Intervention" im Namen der Vereinten Nationen. Es ist die Institution UNO selbst, die hierdurch beschädigt wird, weil sie ihr moralisches Gewicht verliert. Und es gibt einen ganz klaren und eindeutigen Weg von Irak und der Resolution 688 über Somalia, Haiti, Bosnien mit einer stetigen Erweiterung der Mandatierung zunächst der USA, dann der NATO durch die Vereinten Nationen.

Entscheidend ist in dem hier zu behandelnden Zusammenhang, daß der Kosovo-Krieg der erste Krieg war, der von der NATO geführt wurde, ohne auch nur den Schein eines Mandats der Vereinten Nationen. Für einen Krieg gibt es of mehr als einen Grund. Und so mögen auch geo-strategische Interessen, das gar nicht immer so einvernehmliche Verhältnis zwischen den Europäern und der NATO-Vormacht USA eine rolle gespielt haben. In dem hier zu behandelnden Zusammenhang ging es jedoch eindeutig darum, völkerrechtlich den Präzedenzfall zu schaffen, daß die Vereinten Nationen nicht mehr gebraucht werden, daß ihr Mandat nicht mehr gebraucht wird. Das ist letztlich nicht ganz gelungen, weil - entgegen den westlichen Kalkulationen - das Milosevic-Regime in Belgrad nicht unter den NATO-Bomben kapitulierte, sondern neue Legitimität in der Bevölkerung fand. So kam es schließlich zur russisch-finnischen Vermittlung, und die NATO sah sich gezwungen, ihre Aggression gegen Jugoslawien zu beenden und für die KFOR-Mission im Kosovo ein Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen einzuholen. Formal ging dieser als Sieger aus dem Konflikt hervor, denn der in der neuen NATO-Doktrin formulierte Anspruch zur Selbstmandatierung konnte noch nicht zum völkergewohnheitsrechtlichen Präzedenzfall gemacht werden. Daß die USA und die NATO jedoch versuchen werden, auf diesem Weg weiterzukommen, darf als sicher gelten. Es wird von den Machtverhältnissen im Sicherheitsrat abhängen, ob und wie schnell das möglich sein wird.

"Humanitäre Intervention", wie der Anspruch auf souveräne, dem Stand der Entwicklung des Völkerrechts widersprechende Kriegführung heute genannt wird, ist nichts anderes als die Rückkehr zur alten Formel vom gerechten Krieg, ist Rückkehr in eine Zeit, als das Völkerrecht noch den Krieg als Mittel der Politik eines souveränen Staates respektierte. Ob humanitär, ob präventiv, ob gerecht: Es geht darum, ob wir in jene Zeit zurückfallen oder zurückgebombt werden, in der jeder das Recht hat, einen Krieg zu führen. Und hätte es 1938, als Hitler die Tschechei überfiel, schon den Begriff der humanitären Intervention gegeben, Hitler hätte eine prächtige Legitimation gehabt, um die sudetendeutsche Minderheit vor der tschechischen Mehrheit zu schützen.

Solches Recht und solche Legitimation wird man immer finden können, wenn man nur will. Setzt sich die im ersten Golfkrieg noch unter dem Mantel des UN-Sicherheitsrats begonnene, seither weiterbetriebene und in der neuen NATO-Doktrin offiziell verkündete Entwicklung durch, dann sind wir am Ende des Zweiten Jahrtausends auf dem Weg zurück zum Faustrecht, auch wenn der für die NATO neu erfundene Begriff der International Community suggeriert, die NATO sei deckungsgleich mit der Staatenwelt, ersetze also gewissermaßen die UNO.

Gerade unter diesen Bedingungen ist es kein Zufall, daß die Europäer und dort allen voran die Bundesrepublik in diesem Kosovo-Krieg mitschießen und mitbomben wollten. Es ging und geht darum, den Krieg wieder als Mittel der Politik zu legitimieren - und womit ginge dies besser als mit der Moral? Dahinter stehen aber durchaus europäische und vor allem deutsche Ziele: Was bedeutet es, wenn nun die Europäer eine eigene moderne und kampffähige Truppe aufzubauen wollen, mit eigenen, von den USA unabhängigen Satellitensystemen, mit den entsprechenden Transportsystemen, mit den Logistiksystemen? Geht es nicht darum, wenn schon nicht selbständig, dann doch zumindest selbständiger Krieg führen zu können und nicht immer auf die USA angewiesen zu sein? Welche Folgen hat die Aufstellung einer europäischen, von der NATO unabhängigen europäischen Streitmacht, seien es nun multinationale Korps oder der Ausbau der WEU zum militärischen Arm der EU? Stellt dies seitens der Bundesrepublik Deutschland den Versuch dar, den 2+4-Vertrag zu unterlaufen, in dem die BRD auf die Verfügungsgewalt über nukleare (und biologische und chemische) Waffen verzichtet hat? Ist diese europäische Konstruktion der Weg zur Mitverfügung über die französischen (und ggf. britischen) Atomwaffen? Was bedeutet schließlich die Bereitstellung der Krisenreaktionskräfte und der Kommando-Spezialkräfte? Sie werden doch ausgebildet für militärische Eingriffe in innerstaatliche Angelegenheiten!

Was heißt die viel beschworene Gemeinsame Europäische Außen- und Sicherheitspolitik, die sog. GASP, wenn diese Außen- und Sicherheitspolitik nur diskutiert wird unter dem Aspekt der Remilitarisierung Europas, einer Militarisierung der Westeuropäischen Union oder des Ausbaus der EUROFOR, der EUROMARFOR, der deutsch-französischen Brigade zu effektiven Eingriffseinheiten? Was bedeutet es, wenn der ehemalige Generalsekretär der NATO, Solana, jetzt zum Generalsekretär der WEU in Personalunion mit dem Repräsentanten der Gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik gemacht werden soll? Ist denn das Instrument europäischer Außen- und Sicherheitspolitik nur noch das Militär?

Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, daß die Bundesrepublik Deutschland 40 Jahre Wachstum hinter sich gebracht hat, ohne selbständig militarisiert zu sein. Das sogenannte Wirtschaftswunder war die Zeit, in der der Bundesrepublik schwerste Rüstungsbeschränkungen auferlegt worden waren. Das war die Zeit, in der die Bundesrepublik sich zu einer wirtschaftlichen Großmacht entwickelt hat, und die These von Andreas Buro, die ich hier unterstreichen möchte, ist: Wenn die Bundesrepublik Deutschland eine zivile Außenpolitik entwickelt hätte oder entwickeln würde und auf zivile Mechanismen gesetzt hätte, worauf viele Menschen bei der letzten Bundestagswahl gehofft hatten, dann hätte die Bundesrepublik Deutschland eine Führungsrolle in Europa übernehmen können. Viele der kleinen europäischen und neutralen Staaten, skandinavische, Österreich, vielleicht auch die Niederlande, hätten sich dem anschließen können, und man hätte eine Alternative zu einer Politik formulieren können, deren Versagen offenkundig ist: Mit militärischen Mitteln sind die Konflikte der heutigen Zeit nicht zu lösen. Europa könnte hier die Not seiner militärischen Rückständigkeit zur Tugend eine alternativen zivilen Außenpolitik machen. Dies hätte der aufklärerischen Mission eines zivilisierten Europa, wie sie schon Immanuel Kant beschrieben hat, besser entsprochen. Hier könnten noch immer Alternativen entwickelt und Maßstäbe gesetzt werden, die nicht nur die Normen des Völkerrechts sichern helfen, sondern die auch USA bewegen könnten, die Grundsätze ihrer militarisierten Außenpolitik zu überdenken.

Hier geht es zu weiteren aktuellen Hintergrundberichten und interessanten Analysen zum NATO-Krieg:

Beiträge über Kosovo, Jugoslawien und NATO-Krieg

Zur Seite "Friedenswissenschaft"

Zurück zur Homepage