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Knotenpunkte statt Parteibüros

Mit der Partido X entsteht im krisen- und austeritätsgeschüttelten Spanien eine neue politische Kraft

Von Johanna Treblin *

Bisher agiert die neue Partido X in Spanien als Leaking-Plattform und konzentriert sich auf Bürgerversammlungen. Doch nun wird diskutiert, ob man im Mai zur Europawahl antritt.

Kommende Woche, am 24. Januar, soll Miguel Blesa wieder vor dem Richter erscheinen. Der ehemalige Chef des Sparkassenverbandes Caja Madrid war für den Kauf der City National Bank of Florida durch die spanische Sparkasse verantwortlich, die für das Bankhaus doppelt so viel zahlte, wie es Schätzungen zufolge wert war. In der Causa Blesa geht es um vermeintliche Fahrlässigkeit, Betrug und Amtsmissbrauch.

Wichtiger Beweis in dem Prozess ist die E-Mail-Korrespondenz von Blesa mit mehreren seiner damaligen Mitarbeitern, die unter anderem Verwicklungen mit der Spanien regierenden Partido Popular (PP) aufzeigen. Die E-Mails wurden anonym der Antikorruptionskommission der im vergangenen Jahr gegründeten Partido X zugespielt. Die wiederum gab die Daten weiter an die spanischen Zeitungen »El País« und »eldiario.es«, die die elektronische Korrespondenz dann öffentlich machten.

Die Enthüllungen lassen an eine spanische Version von Wikileaks denken. Und etwas Ähnliches soll die Antikorruptionskommission auch sein – mit Fokus auf die Aufdeckung von Fällen unlauterer Vorteilnahme und Klientelismus in Politik und Wirtschaft. Die Kommission stellt dabei vor allem eine Art anonymen Briefkasten zur Verfügung. »Wenn wir die Quelle nicht kennen und nicht einschätzen können, ob die Daten echt sind, dann leiten wir sie an kompetente Experten weiter: Rechtsanwälte oder Journalisten«, sagt Simona Levi gegenüber »nd«. Levi ist eine der Sprecherinnen der Partido X und mittlerweile bekanntes Mediengesicht. Obwohl sie selbst nicht das Gesicht der Partei sein will: »Wir sind einfache Bürger und wollen das auch bleiben«, sagte sie in einem Interview mit »eldiario.es« im Oktober, kurz nachdem die Partei sich zum ersten Mal in der Öffentlichkeit präsentiert hatte. Da lag die Gründung des »Netzwerks aus Bürgern«, wie sie sich auch nennt, bereits ein Dreivierteljahr zurück.

Weitere eineinhalb Jahre zuvor versammelten sich am 15. Mai 2011 auf der Puerta del Sol, dem zentralen Platz in Madrid, 20 000 Menschen. Sie protestierten gegen die politischen Schritte, mit denen die Regierung auf die Wirtschaftskrise in Europa reagiert hatte. Die Maßnahmen seien unsozial und dienten vor allem dazu, die Banken zu retten, hieß es auch in 57 weiteren spanischen Städten. Insgesamt folgten dem Aufruf eines Bündnisses, das sich »Democracia Real Ya« (Echte Demokratie Jetzt) nannte, allein an jenem Sonntag 130 000 Menschen.

Hinter der Demonstration steckten Verbände, Gruppierungen und Einzelpersonen unterschiedlicher Couleur. In den Medien wurden die Protestierenden, die auch in den folgenden Wochen immer wieder auf die Straße gingen, Indignados genannt, Empörte, oder auch die »Bewegung 15-M«. Die Spanier, die unter der geplatzten Immobilienblase litten, unter der Wirtschaftskrise und den wenig bürgernahen politischen Lösungsversuchen, forderten ein Ende der Korruption und eine unabhängige und potente Judikative.

Und sie wollten selbst etwas dafür tun. Während einige von ihnen bestehenden politischen Parteien beitraten, hielten sich andere von der etablierten Politik fern. Viele setzten auf lokale Arbeit beispielsweise in Stadtteilversammlungen, andere engagierten sich in Organisationen zur Verbesserung der Lebensverhältnisse, so zum Beispiel in der Plattform für Betroffene der Zwangsvollstreckung von Hypothekenverträgen.

Wieder andere wollen als Teil der parlamentarischen Demokratie die Verhältnisse verändern: mit Hilfe einer neuen Partei, die an Wahlen teilnimmt und an der Macht der etablierten Parteien – der rechten Volkspartei (PP) und der Sozialdemokraten (PSOE) – rüttelt: die Partei X. Eine neue Form der Politik wolle sie begründen, hieß es auf der Informationsveranstaltung im Oktober in Madrid, eine Teilnehmerin sprach gar von einem »Neustart des Systems«.

»Sie wollen mehr sein als eine Partei«, sagt Marc Pradel, Soziologe an der Universitat de Barcelona, gegenüber »nd«. »Sie wollen die traditionellen Parteienschranken aufbrechen und als Netzwerk von Bürgern agieren.« Zentraler Slogan der Partei ist »Democracia Y Punto« (Demokratie und sonst nichts) mit vier Kernthemen: Transparenz, verbindliche Volksentscheide und das Recht auf »permanente Stimmabgabe«, mit der die Entscheidungen der Regierung jederzeit per Referendum widerrufen werden können. Viertes wesentliches Element ist eine sogenannte Wiki-Regierung. »Regieren mit offenem Quellcode«, nennt Pradel das: Transparenz in den politischen Entscheidungen auf der einen Seite, auf der anderen Seite das Regieren der Bürger selbst. Darüber hinaus ist alles offen. Das soll das »X« in ihrem Namen symbolisieren. »Die Agenda soll nicht von vornherein vorgegeben werden, sondern sich nach und nach mit Inhalt füllen«, sagt Pradel. Ein Angriff auf das Establishment will eben wohl überlegt sein.

Und so wetzt die Partei erst einmal ihre Messer. Die schärfste Klinge hat sie ihrer Antikorruptionskommission in die Hand gedrückt. Die ist eigentlich noch dabei, Werkzeuge zu entwickeln, um einen sicheren Kanal für anonyme Anzeigen von Korruptionsfällen bereitzustellen, doch schon jetzt bekommt sie zahlreiche Hinweise zu unlauterer Vorteilnahme.

Daneben spinnt die Partei derzeit am Aufbau lokaler Strukturen. In 17 Städten ist sie bereits mit sogenannten Knotenpunkten vertreten. Das sind keine Parteibüros, sondern Bürgertreffpunkte, mit welchen die von der »Bewegung 15-M« geforderte »radikale Demokratie« umgesetzt werden soll: Keine Vertreter, sondern die Mitglieder selbst sollen über das Programm entscheiden und sich auf Wahllisten setzen können.

Aufklärung und Wahlkampf müssen allerdings finanziert werden. Gemäß ihren eigenen Standards will die Partido X unabhängig von großen Geldgebern sein. Und so hat sie eine Crowdfunding-Kampagne zur Mikrofinanzierung ihrer Arbeit durch Kleinstspenden gestartet. Im Februar wollen Parteienvertreter durch 15 Städte reisen, um die Partei bekannt zu machen und Geld von Unterstützern einzusammeln.

Im Herbst 2015 will sich die X-Partei dann an den Wahlen zum Nationalparlament beteiligen. Ob sie sich bereits in diesem Jahr der Herausforderung stellt und sich zur Europawahl aufstellen lässt, soll im Februar entschieden werden. Noch muss sich zeigen, ob sich der Lärm, den die neue Partei macht, sich auf den Klingelbeutel und das Säbelrasseln beschränkt. Oder ob das zarte Pieken in den wohlgenährten Bauch der spanischen Politikerelite durch die Veröffentlichung der E-Mails von Miguel Blesa nur ein Anfang war.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 15. Januar 2014


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