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Madrid kriminalisiert Mas

Spanische Staatsanwaltschaft klagt katalanischen Ministerpräsidenten wegen Volksabstimmung über Unabhängigkeit an

Von Mela Theurer, Barcelona *

Nach der symbolischen Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Kataloniens, bei der am 9. November über 80 Prozent der 2,3 Millionen Wähler für einen eigenen Staat votiert hatten, richtete sich die Aufmerksamkeit auf die Reaktion der Zentralregierung in Madrid. Der katalanische Ministerpräsident Artur Mas hatte den spanischen Regierungschef Mariano Rajoy nach der nicht bindenden Volksbefragung in einem Brief zu Verhandlungen über ein Unabhängigkeitsreferendum aufgefordert. Doch der setzt statt dessen offensichtlich auf die Kriminalisierung der Regierung der autonomen Region. Am Freitag hat die spanische Staatsanwaltschaft strafrechtliche Ermittlungen gegen Mas, die Vizepräsidentin des Regionalparlaments, Joana Ortega, sowie die katalanische Bildungsministerin Irene Rigau eingeleitet. In ihrer Anzeige wirft sie den Regionalpolitikern im Zusammenhang mit der Volksbefragung Rechtsbeugung, institutionellen Ungehorsam, Machtmissbrauch und Veruntreuung öffentlicher Mittel vor.

In einer ersten Reaktion haben mit Ausnahme der konservativen Volkspartei PP und der prospanischen Ciutadans alle Parteien des katalanischen Parlaments für eine Selbstanzeige der Kammer gestimmt. Mas verurteilte das Vorgehen der Staatsanwaltschaft zudem als Ausdruck mangelnder Demokratie und sah es als juristische Antwort auf eine politische Frage. Die nationale katalanische Volksversammlung ANC, eine breite Basisbewegung, die den Prozess für die Unabhängigkeit maßgeblich trägt und mitbestimmt, hat zu Protesten aufgerufen und ebenfalls eine Selbstanzeigekampagne eingeleitet.

Neben der Absage Rajoys an Mas gab es bei den spanischen Parteien unterschiedliche Reaktionen. Pedro Sánchez, Generalsekretär der sozialdemokratischen PSOE, besuchte Katalonien inzwischen zweimal in nur zehn Tagen. Er hält an einem föderalistischen Modell fest und fordert mehr Demokratie und Eigenständigkeit für die Gemeinschaften. Pablo Iglesias, seit Anfang November Generalsekretär der neuen linken Partei Podemos (»Wir können«), hatte sich bereits zu Jahresbeginn für das Recht der Katalanen auf eine Volksbefragung ausgesprochen. Er plädierte für eine Änderung der Verfassung in territorialen, ökonomischen und demokratischen Fragen, betonte allerdings, dass er gemeinsam mit den verschiedenen Völkern eine Veränderung der sozialen und politischen Verhältnisse im gesamten spanischen Staat anstrebe.

Unterdessen ist die katalanische Regierung nahezu handlungsunfähig. Ihre Haushaltspläne finden bei Parteien, die für die Unabhängigkeit sind, keine Unterstützung. Mit den Sozialisten der PSC, die der Koalition nicht angehören, wäre eine Verabschiedung des Etats zwar mit knapper Mehrheit möglich, die konservative Regierungspartei CiU lehnt dies jedoch ab. Deren Generalkoordinator Josep Rull erklärte, seine Partei würde nicht mit Hilfe der Sozialisten regieren, da dies eine klare Absage an die Unabhängigkeit bedeute. Die PSC vertritt die Linie ihrer spanischen Mutterpartei und setzt auf ein föderalistisches Modell - was bereits zu einer Vielzahl von Austritten geführt hat. Am vergangenen Donnerstag kündigten ehemalige PSC-Mitglieder die Gründung einer neuen Partei im kommenden Januar an.

Aufgrund der faktischen Unregierbarkeit Kataloniens deutet inzwischen alles auf vorgezogene Neuwahlen hin. Eine Fortführung der Legislaturperiode bis 2016 scheint kaum noch möglich. Am morgigen Dienstag will Artur Mas die neue Richtlinie seiner Partei vorstellen. Angesichts ihrer geschwächten Position setzt die CiU auf eine Einheitsliste mit allen Unabhängigkeitsparteien. Dies wird von denen jedoch abgelehnt. Die Republikanische Linke (ERC), die in den Umfragen derzeit vorn liegt, verlangt von Mas Neuwahlen bis Anfang nächsten Jahres sowie die Möglichkeit, einseitig die Unabhängigkeit auszurufen. Unter diesen Voraussetzungen würde sie die Haushaltspläne unterstützen und die momentane Handlungsunfähigkeit der Regierung beenden. Am vergangenen Samstag hat die antikapitalistische »Kandidatur für die Volkseinheit« (CUP) auf einer Sitzung ihres politischen Rates ihre neue Linie festgelegt. Sie optiert für den Bruch mit dem sozialen, politischen und ökonomischen System und für ein breites Bündnis linker Kräfte. Der Loslösung vom spanischen Staat müsse ein Aufbauprozess folgen, der seine Wurzel in den Basisbewegungen hat.

* Aus: junge Welt, Montag, 24. November 2014


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