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Die zweite Transición

Die Bewegung in Katalonien, das spanische »Mutterland« zu verlassen, strebt einer Entscheidung zu

Von Ralf Hutter, Barcelona *

»Es ist offensichtlich, dass wir in einem Übergangsprozess sind«, schrieb etwa Vicenç Navarro in seinem Artikel »Was passiert gerade in Spanien und Katalonien?«, der in mehreren spanischen Online-Zeitungen zu lesen ist. Navarro ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona sowie an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore (USA). Vorher war der Senior, der vielfach im Ausland gelehrt hat, Professor für angewandte Wirtschaftswissenschaft an der Universität Barcelona. Seine Analyse: »Eine Etappe, die in der Periode von 1975 bis 1978 begann, geht zu Ende.«

Mit dieser Meinung steht der Sozialwissenschaftler nicht allein da. Mit seiner Erklärung sicherlich ebenfalls nicht: »Die enorme Herrschaft, die die zutiefst konservativen Kräfte über die erste ›Transición‹ ausübten, hat den aktuellen Prozess bedingt.« Damit ist gemeint, dass das damals ausgearbeitete politische System von den Funktionären Francos geprägt wurde. Ihr politischer Arm wurde später die heute regierende Volkspartei (PP).

Navarro spricht in seinem Text einen Punkt an, der nun die Bruchstelle des Systems sein könnte: Die spanische Demokratie sei bewusst nicht als multinationaler Staat angelegt worden, wie einige der damals Beteiligten mittlerweile im privaten Kreis zugegeben hätten. Das ist die Ursache des Dauerstreits mit vor allem baskischen und katalanischen Nationalisten, bei dem es mal um identitäre, mal um pekuniäre Dinge geht.

Die Wirtschaftskrise hat bekanntlich schlimme Auswirkungen in Spanien, und Korruptionsskandale verfolgen Spitzenpersonal von Königshaus und Regierungspartei. Beides hat das Vertrauen in die staatlichen Institutionen weiter geschwächt. Doch es ist der in den letzten Jahren mit Massenmobilisierungen auftrumpfende katalanische Separatismus, der Risse ins Fundament der politischen Ordnung Spaniens gebracht hat – und in das der beiden größten Parteien Kataloniens.

»Im Moment gibt es eine wichtige Bewegung in der Bevölkerung Kataloniens: Ein großer Teil unterstützt offen die Unabhängigkeit«, hält Oriol Güell fest, Redaktionsleiter in Barcelona von Spaniens größter Tageszeitung »El País«. Dies macht den beiden traditionell großen Akteurinnen der Regionalpolitik – Konvergenz und Einheit (CiU) und Partei der Sozialisten Kataloniens (PSC) – Probleme. CiU ist ein liberal-nationalistisches Bündnis, das aktuell an der Macht ist und schon von 1980 bis 2003 regierte. PSC ist der katalanische Verband der Sozialistischen Arbeiterpartei Spaniens, die zuletzt unter Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero Spanien regierte. Beide müssen nun mit internen separatistischen Tendenzen umgehen.

»Die PSC hatte immer zwei Seelen«, erklärt Güell im nd-Gespräch: »Eine klassisch linke, arbeiterorientierte Seele, die vor allem im Großraum Barcelona auch von vielen Einwanderern aus anderen Teilen Spaniens getragen wurde; und eine »katalanistische«, die sehr auf die Eigenständigkeit der katalanischen Regierung und historische Rechte Kataloniens achtete. Wenn im Denken der Bevölkerung so eine grundsätzliche Bewegung vorhanden ist, dann führt das zu Spannung in der Partei. Der kleinere katalanistische Teil bittet den größeren, sich an die Unabhängigkeitsbewegung anzunähern. Der Rest will das aber nicht.« Ähnlich sei es bei CiU: »Convergència hat sich in die separatistische Richtung entwickelt. Unió ist christdemokratisch und weniger sensibel dafür.«

Werden die Parteien also zerbrechen? »Nein«, antwortet Güell. »Aber die PSC hat schon Leute verloren, sowohl an der Basis, als auch Funktionäre.« Im April der größte Schlag: In der Provinz Girona um die gleichnamige Stadt herum traten zehn Spitzenkräfte, darunter ein ehemaliger katalanischer Minister, von ihren Parteiposten zurück, da sie die Ablehnung des Unabhängigkeitsreferendums seitens der katalanischen Parteiführung nicht mittragen. Drei PSC-Abgeordnete des katalanischen Parlaments, die in dieser Angelegenheit im Januar mit der Regierung stimmten, wurden von sämtlichen Parteifunktionen entbunden und sorgen seitdem für Wirbel. Wie die Online-Zeitung »Público« Ende April aus den separatistisch orientierten PSC-Kreisen erfuhr, warten die drei Parlamentarier ab, welche Strafe Ende dieses Monats für sie festgelegt wird und entscheiden dann, ob sie eine neue Partei gründen.

Größte Spannungen also bei der Sozialdemokratie – bei CiU hingegen sei wieder Ruhe eingekehrt, nachdem der eine Teil, Convergència, sich zeitweise an Positionen der ERC angenähert hatte, sagt Oriol Güell.

Die Republikanische Linke Kataloniens (ERC) ist eine nationalistische Partei mit sozialistischem Anspruch, die in letzter Zeit stark an Zuspruch gewonnen hat. Sie hat seit der Wahl des Regionalparlaments 2012 sogar einen Sitz mehr als die PSC und toleriert die Minderheitsregierung von CiU (mit der sie derzeit in Umfragen für Regional- und EU-Wahlen gleichauf liegt). Diese Konstellation verstärkte die separatistische Tendenz in der Regierungspartei, denn CiU hängt bei Parlamentsabstimmungen von ERC ab, und die will die Unabhängigkeit Kataloniens.

Die beiden haben sich im Dezember zusammen mit zwei weiteren Parlamentsfraktionen auf zwei konkrete Fragen für eine von der Verfassung nicht erlaubte Volksabstimmung über die Unabhängigkeit geeinigt, die im November stattfinden soll und spanienweit für Aufregung sorgt. Es geht ums Ganze.

»Die spanische Verfassung, die 1978 nach fast 40 Jahren Diktatur gemacht wurde, basierte auf stillschweigenden Übereinkünften zwischen vielen Parteien und der Gesellschaft«, erklärt El-País-Chef Güell. »In Katalonien wird das jetzt in Frage gestellt. Ein Teil der Bevölkerung will mehr Autonomie als die Verfassung zugesteht. Es wurde eine Reform des Autonomiestatuts versucht, die aber 2010 vor dem spanischen Verfassungsgericht scheiterte. Das Urteil war sehr umstritten und ist die Erklärung für einen großen Teil dessen, was jetzt passiert.

Neu sei nun, dass ein guter Teil der Bevölkerung und der Parteien der Verfassung nicht mehr die Rolle zugestehe, die sie in allen Ländern habe, nämlich dem politischen System Struktur und Festigkeit zu geben. »Wenn eine Mehrheit diese Position einnimmt, ist es logisch, dass von einer neuen ›Transición‹ gesprochen wird, um die Architektur der Verfassung an die neue Zeit anzupassen«, führt Güell aus.

Die »zweite Transición« ist längst zum geflügelten Wort in Spaniens politischen Diskursen geworden. Selbst die Vorsitzende des relativ schwachen katalanischen Landesverbands der PP, Alicia Sánchez-Camacho, sprach im Oktober 2013 in einem Interview von einer »neuen Transición«, die ihre Partei anführen solle und zu der eine Neuaufstellung der Finanzbeziehungen zwischen Katalonien und der Zentralregierung gehöre. Sie wurde von ihren Parteioberen zurückgepfiffen.

»Die Alternative«, führt Güell seinen Gedanken fort, »ist der Bruch, den ebenfalls ein wichtiger Teil der Bevölkerung will: die Unabhängigkeit Kataloniens, die nicht mit der Verfassung vereinbar ist und die zu einer politischen Krise führen würde, von der wir nicht wissen, wo sie enden kann.«

Dem Bruch ist Navarro durchaus zugeneigt. Der Professor unterstützt die Bewegung »Procés Constituent« (verfassunggebender Prozess), die 2013 von der Ärztin und Nonne Teresa Forcades sowie dem für sein großes zivilgesellschaftliches Engagement bekannten emeritierten Politikwissenschaftsprofessor Arcadi Oliveres angestoßen wurde. Sie will parallel zur Mobilisierung der Bevölkerung für ein »Ja« zu einem katalanischen Staat eine Verfassunggebende Versammlung Kataloniens vorbereiten und gleichzeitig ein wirklich gerechtes System für »die katalanische Republik« entwickeln.

Die in ganz Katalonien präsente Bewegung ist auch in inhaltlichen Arbeitsgruppen wie Gesundheit, Immigration und »Feminismen« organisiert. Die tagen öffentlich und sollen die Bestandteile des neuen Systems erarbeiten. Zu einem Arbeitstreffen zum Gesundheitssystem kamen Hunderte Menschen, berichtet ein Teilnehmer. Dazu muss man wissen, dass es seit Jahren erbitterten Widerstand gegen Einsparungen und Privatisierungen im katalanischen Gesundheitssystem gibt; ebenso gegen eine ans Tageslicht gekommene strukturelle Korruption.

Im Internet veröffentlicht die Bewegung eine Liste mit Namen von Menschen, die sich ihr angeschlossen haben. An die 30 000 Namen stehen dort, über 47 000 Personen sollen es insgesamt sein. Mittlerweile wurden Kontakte zu anderen Bewegungen und auch zu Parteien geknüpft, um für die nächsten Regionalwahlen ein Bündnis zu schmieden – allerdings basierend auf »neuen Leuten« und »nichtprofessionellen Politikern«.

Ein Separatismus ohne eine Idee für ein gerechtes System sei gefährlich, warnt Navarro im eingangs erwähnten Text. Das Unwohlsein gegenüber dem spanischen Staat dürfe nicht nur nationalistisch begründet werden, sondern müsse auch sozialpolitisch motiviert sein.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 17. Mai 2014


Referendum mit zwei Fragen

Am 9. November will Kataloniens Ministerpräsident Artur Mas die Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Kataloniens abhalten. Dass die nicht in ihrer vollen Tragweite von der Verfassung gedeckt ist, räumt er ein. Aber auf der Grundlage des Ergebnisses will er mit der spanischen Regierung zu dem Thema weiterverhandeln.

Eine Mehrheit des katalanischen Parlaments, insgesamt vier Fraktionen, hat die beiden Fragen des Referendums beschlossen:
  1. Wollen Sie, dass Katalonien ein Staat wird?
    und, falls hier das »Ja« angekreuzt wird:
  2. 2. Wollen Sie, dass dieser Staat unabhängig ist?
Meinungsumfragen zum Ausgang der Abstimmung liefern unterschiedliche Ergebnisse, je nachdem wer sie durchführt beziehungsweise in Auftrag gibt. Doch selbst die Ende April vom Meinungsforschungsinstitut der Regionalregierung erstellte Umfrage erbrachte, dass keine Mehrheit aller katalanischen Wahlberechtigten beide Fragen mit »Ja« beantworten will, nämlich nur 47 Prozent.

Weitere knapp neun Prozent würden demnach die erste Frage bejahen, aber bei der zweiten »Nein« ankreuzen, was sich mit einer anderen aktuellen Umfrage deckt. Sie ziehen also ein Föderationsmodell vor, sprich: ein neuer Status und mehr Rechte für Katalonien innerhalb Spaniens.

Nicht außer acht gelassen werden sollte, dass wie bei Parlamentswahlen auch ein Teil der Bevölkerung gar nicht zur Abstimmung gehen wird, wodurch bei diesen Werten der Separatismus wohl die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhalten wird. Zudem gibt es laut besagter Umfrage noch neun Prozent Unentschlossene. R.H.




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