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"Du entscheidest" in Katalonien

Referendum über Abspaltung von Spanien offiziell angesetzt / Zentralregierung: Abstimmung wird nicht stattfinden

Von Ralf Streck, San Sebastián *

Die Katalanen sollen am 9. November über eine Abspaltung von Spanien abstimmen. So hat es die Regionalregierung in Barcelona angeordnet. Madrid will die Volksbefragung aber verhindern.

Nicht einmal einen Tag hat es gedauert, bis die spanische Verbotsmaschinerie in Gang gesetzt war, um die Volksbefragung zur Unabhängigkeit Kataloniens zu verhindern. Schon am Sonntag trat der Staatsrat auf Antrag der Regierung außerordentlich zusammen, um das Referendumsgesetz zu beurteilen, das der katalanische Regionalpräsident Artur Mas am Samstag unterzeichnet hatte. Es wurde erst kürzlich mit knapp 80 Prozent der Stimmen im katalanischen Parlament angenommen.

Das Gesetz sieht eine unverbindliche Volksbefragung am 9. November über die Unabhängigkeit von Spanien vor. Dafür haben am 11. September fast zwei Millionen Menschen in der Region demonstriert, das ist fast ein Drittel der Bevölkerung. Mit dem Urteil des Staatsrats will das spanische Kabinett an diesem Montag außerordentlich zusammentreten, um eine Klage beim Verfassungsgericht zu beschließen. Das Ziel ist, das Gesetz zu kippen und die Abstimmung zu annullieren.

Nach der Unterzeichnung hatte sich der katalanische Regierungschef Mas auch in spanischer Sprache an die Bevölkerung gewendet, um allen klarzumachen, dass sein Vorgehen in einer Demokratie normal sei. »Demokratische Staaten äußern sich und lassen zu, dass andere sich äußern, sie vereinbaren Abstimmungen und benutzen Gesetze, um die Bevölkerung zu hören und nicht, um sie zum Schweigen zu bringen.« Er bot »bis zum letzten Moment« einen Dialog an, um sich nach Vorbild Schottlands auf einen Vorgang und eine Frage für ein Referendum zu einigen. Die »konstante Suche nach einem Dialog« sei bei den Konservativen in Madrid aber nur auf Ablehnung gestoßen, kritisierte Mas. Spanien biete »weder ein Projekt noch eine Alternative« an.

In Madrid erklärt die Regierung gebetsmühlenartig, die Abstimmung werde nicht stattfinden. Sie verstoße gegen die Verfassung. Das sagte am Samstag auch Vize-Ministerpräsidentin Soraya Sáenz de Santamaría. Sie »spaltet die Katalanen und entfernt sie von Europa«, fügte Sáenz de Santamaría hinzu. Schon zuvor hatte sie angekündigt, dass sich Mas »in Teufels Küche« begebe, wenn er das Gesetz unterzeichne. Gedroht wird nicht nur mit der Verfassungsklage, sondern auch mit seiner Verhaftung und der Aussetzung der katalanischen Autonomie.

War es Schottland möglich, frei und verbindlich über die Unabhängigkeit abzustimmen, soll in Spanien sogar eine unverbindliche Befragung verhindert werden, weil den Katalanen das über das Völkerrecht abgesicherte Selbstbestimmungsrecht abgesprochen wird. Unbeachtet bleiben dabei Fälle wie Québec. Das kanadische Verfassungsgericht hat schon vor Jahrzehnten festgestellt, dass zwar dort das Recht auf die Unabhängigkeit nicht vorgesehen sei. Doch es verwies auf das demokratische Prinzip, auf dem die Verfassung beruhe. Deshalb könne der Wunsch Québecs nicht ignoriert werden. Das Ergebnis eines Referendums sei anzuerkennen. So stimmte die frankophone Provinz 1980 und 1995 über ihre Unabhängigkeit ab. Im Fall Kosovo urteilte der Internationale Gerichtshof, dass sogar eine einseitige Unabhängigkeitserklärung ohne Referendum durch das Völkerrecht gedeckt sei.

Die spanische Verfassungsklage führe nach Ansicht von Sáenz de Santamaría zur sofortigen »vorläufigen Aussetzung«, weshalb die Volksbefragung mit »keinerlei Handlungen« vorbereitet werden dürfe. Solange kein Urteil die Befragung annulliere, müssten Vorbereitungen für den Fall getroffen werden, dass das Gericht die Klage abweist oder gegen die Regierung urteilt, argumentiert dagegen Mas. »Tu decideixes« (Du entscheidest) heißt die nun gestartete Kampagne, mit der die Abstimmung beworben wird. Im November sollen 5,4 Millionen Katalanen mit einem Mindestalter von 16 Jahren in 2718 Wahllokalen ihr Votum abgeben, hieß es am Sonntag von der Regionalregierung.

* Aus: neues deutschland, Montag 29. September 2014


Entscheidung am 9. November

Katalonien: Regierungschef Artur Mas unterzeichnet Dekret über Unabhängigkeitsreferendum. Madrid will Abstimmung verhindern

Von Mela Theurer, Barcelona **


Unmittelbar nach Inkrafttreten des vom katalanischen Parlament verabschiedeten Gesetzes über Volksbefragungen hat der katalanische Ministerpräsident Artur Mas am Samstag per Dekret für den 9. November die Volksabstimmung über eine Unabhängigkeit Kataloniens einberufen. »Dies ist ein historisches Datum, es gibt ein Davor und ein Danach«, erklärte Mas, während auf dem Platz vor dem Regierungspalast Hunderte Menschen den weiteren Schritt zur Abtrennung von Spanien feierten.

Die in Madrid regierende Volkspartei (PP) von Ministerpräsident Mariano Rajoy ist jedoch fest entschlossen, das von den katalanischen Parlamentariern mit einer Mehrheit von 80 Prozent verabschiedete Gesetz und das Referendum durch eine Klage vor dem Verfassungsgericht zu Fall zu bringen. Vizepräsidentin Soraya Sáenz de Santamaría bekräftigte die Entschlossenheit des spanischen Staates, die Volksabstimmung unter keinen Umständen stattfinden zu lassen.

Artur Mas hatte sich mit seiner Unterschrift acht Tage Zeit gelassen. Das war offenkundig ein bewußtes Manöver. Das Verfassungsgericht in Madrid tagt nur von Montag bis Donnerstag, und wäre das Gesetz in diesem Zeitraum im Amtsblatt veröffentlicht worden, wäre es vermutlich noch am selben Tag annulliert worden. Die Richter in Madrid hatten in der Vergangenheit immer wieder autonome Entscheidungen der Katalanen unter Berufung auf die geltende Verfassung kassiert, so daß in Barcelona auch in diesem Fall kaum jemand mit einem fairen Urteil rechnet.

Befriedigt über die Unterzeichnung des Dekrets zeigte sich das linke Wahlbündnis CUP, deren Abgeordnete Quim Arrufat und David Fernandéz an der von Mas einberufenen Zeremonie teilnahmen. Fernandéz erklärte anschließend gegenüber dem katalanischen Fernsehsender TV3, daß nun die Weichen gestellt seien und alles in der Hand der Bevölkerung liege. Artur Mas richtete sich seinerseits mit einer in drei Sprachen gehaltenen Ansprache sowohl an die katalanische als auch an die spanische Bevölkerung sowie an die internationale Gemeinschaft und hob die Legitimität des Gesetzes und der Befragung als eines demokratischen Verfahrens hervor. Der Regierung in Madrid bot er erneut Verhandlungen an. In einem Interview mit TV3 erklärte er zudem, er sei bereit, persönlich und politisch alle Risiken auf sich zu nehmen, um diesen Prozeß zu Ende zu führen. Das Gesetz sei juristisch und formal legitim. Sollte es jedoch vom Verfassungsgericht annulliert werden, müßten neue Möglichkeiten in Betracht gezogen werden. Eine wenn auch schlechte Alternative seien »plebiszitäre Neuwahlen«. Bei einer solchen würden das Parlament aufgelöst und die Katalanen zur Entscheidung über ihre Abgeordneten an die Urnen gerufen. Die antretenden Parteien sollten sich dann für oder gegen die Unabhängigkeit positionieren. Wenn die Befürworter der Eigenständigkeit die Mehrheit gewinnen – worauf alle Umfragen hindeuten –, würde das Parlament dann eigenständig die Abspaltung von Spanien erklären. Dafür müsse die Einheit gestärkt werden, bekräftigte Mas seinen Aufruf an die Republikanische Linke (ERC), in sein Kabinett einzutreten.

Die katalanische Regierung hat bereits eine Kampagne unter dem Motto »Du entscheidest« in die Wege geleitet. Mit einer Infrastruktur von 800 Wahllokalen und einem Budget von sieben Millionen Euro sollen die logistischen Voraussetzungen zur Abhaltung des Volksentscheides geschaffen werden. Ernst wird es, wie die Tageszeitung El Punt/Avui am Sonntag berichtete, bereits ab dem 20. Oktober. Dann können im Ausland lebende Katalanen, am 9. November eingebundene Wahlhelfer sowie Menschen mit Körperbehinderung bereits vorgezogen ihre Stimme abgeben. Wahlberechtigt sind alle Katalanen ab 16 Jahren und auch alle seit einem Jahr in der Region lebenden EU-Ausländer. Menschen aus anderen, nicht der Union angehörenden Ländern müssen seit drei Jahren in Katalonien beheimatet sein, um am Referendum teilnehmen zu können.

** Aus: junge Welt, Montag 29. September 2014


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