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Radikale Neuausrichtung

ETA beendet den bewaffneten Kampf. Wie es die baskische Linke schaffte, mittels eines kompletten Strategiewechsels wieder zu erstarken

Von Gerd Schumann *

Am 30. August 2008, 7.20 Uhr, verließ Arnaldo Otegi nach 15 Monaten Haft das Gefängnis von Martutene. Da ahnte der Sprecher der baskischen Linken bereits, daß ihm nicht viel Zeit »draußen« bleiben würde. 14 Monate sollten es schließlich werden bis zu seiner nächsten Verhaftung. Die mußten unbedingt genutzt werden. Mittels eines tiefgreifenden Strategiewechsels sollte das baskische Projekt »Freiheit«, für das so viele Menschen gestorben waren und so viele Familien gelitten hatten, gerettet werden. »Den Befreiungsprozeß auf eine neue Stufe heben«, lautete der Anspruch. Der wiederum würde nur dann verwirklicht werden können, wenn ihn die Basis der Linken in einer breiten Debatte teilte. Und: Wenn schließlich auch Euskadi Ta Askatasuna (ETA; Baskenland und Freiheit) das Ergebnis akzeptierte.

Unter nahezu konspirativen Bedingungen nicht nur Kritik zu wagen, sondern einen tatsächlichen Kurswechsel ohne Spaltung zu erreichen – wie diese Kärrnerarbeit bewältigt wurde, schilderte Otegi dem Journalisten Fermin Munarritz. Das nun auf deutsch publizierte Buch entstand unter »außergewöhnlichen Bedingungen« – Fragen und Antworten des Interviews mußten schriftlich ausgetauscht werden, nachdem Otegi im Oktober 2009 erneut eingefahren war, diesmal absurderweise verurteilt wegen »Leitungsfunktion« in der ETA zu sechseinhalb Jahren. Mit einer vorzeitigen Entlassung wird nicht gerechnet. Seine schlüssigen Argumente kommen in Madrid nicht gut an.

Es war eine riskante Rechnung mit mehreren Unbekannten gewesen. Letztlich ging es um die Existenz der linken Unabhängigkeitsbewegung des Baskenlandes. Das klingt dramatisch, und also formuliert es der 55jährige Philosoph: Der bis dato »vorgezeichnete Kurs« hätte den »Dampfer« baskische Linke »unerbittlich und sicher politisch Schiffbruch erleiden lassen«. Vielleicht sogar war der Untergang schon jetzt nicht mehr vermeidbar, so die Befürchtung Otegis und des kleinen Kreises seiner Mitstreiter 2007/8, die den Kurswechsel konzipiert hatten.

»Die selbstkritische Überprüfung unserer Strategie und ihre radikale Neuausrichtung ist nicht mehr aufschiebbar«, sagt Otegi. Zwei gescheiterte Anläufe zur Lösung des baskisch-spanischen Konflikts 1987/88 und 1998/99, vor allem jedoch das ernüchternde Ende der Friedensverhandlungen von Lizarra-Garazzi (2005–2007) hatten »Ratlosigkeit und eine gewisse Lethargie« erzeugt. Der Schock des ETA-Anschlags von Ende Dezember 2006 auf das Parkhaus T4 am Madrider Flughafen Barajas, bei dem zwei Unbeteiligte starben, saß tief. Zudem stand die umfassende Strategiedebatte unter denkbar ungünstigen Vorzeichen.

»Batasuna« (Einheit), die Partei der Linken, war seit Jahren verboten, die Polizei omnipräsent, was die Möglichkeiten, sich offen, streitbar und kontrovers auseinanderzusetzen, mehr als behinderte. Trotzdem: Auf Dutzenden Treffen, in konspirativen Versammlungen, in den Volkskneipen und Hinterzimmern wurde von Tausenden über das »heikle Thema« gestritten und mit großer Mehrheit entschieden: Der bewaffnete Kampf ist keine Option für die Zukunft. Auch ETA teilte unter dem Eindruck der eindeutigen Basisdiskussion letztlich deren Ergebnisse. Im September 2011 legte die aus dem antifaschistischen Widerstand gegen das Franco-Regime hervorgegangene Untergrundorganisation »definitiv« und »endgültig« die Waffen nieder. Ihre Auflösung ist im Gespräch.

Otegi redet Klartext, überlegt und logisch, sachlich, auch voller Emotion. Er tut es, trotz seiner Inhaftierung, aus einem Gefühl der Stärke heraus. Die baskische Linke hat offensichtlich den 2008 gestarteten Wettlauf mit der Zeit gewonnen, der Strategiewechsel ist vollzogen, sie wurde bei Wahlen mit etwa 26 Prozent zur zweitstärksten Kraft im Land. Sie hat ihren alten Masseneinfluß und vor allem: ihre Glaubwürdigkeit wiedererlangt – mit Offenheit und Selbstkritik, und weil sie ein Konzept besitzt, das dem spanischen Staat um eine historische Etappe voraus ist. Es setzt auf Bevölkerungsmehrheiten, auf Demokratie, auf die Erringung einer linken Hegemonie durch Argumente. Dazu bedarf es eines alltäglichen Widerstands: »Zusammenballung der Kräfte, Massenkampf, ziviler Ungehorsam« nennt es Otegi.

Allerdings stieß die einseitige Absage an militärische Gewalt bisher auf keinerlei Gegenliebe des spanischen Staats. Die stupide Unfähigkeit Madrids, sich auf die historischen Signale aus dem Baskenland einzustellen, dauert an und auch das spanische Gewaltmonopol wird in den vier baskischen Provinzen südlich der Pyrenäen weiter durchgesetzt. Der – nunmehr einseitige – Einsatz von Waffen bleibt Madrids Prinzip, selbst wenn das »Terrorismus«-Feindbild nicht mehr so einfach vermittelbar ist.

Ob die neue Strategie der baskischen Linken erfolgreich sein wird, ob sich die bei Otegi anklingenden Hoffnungen in die »internationale Gemeinschaft« nicht als voluntaristisch herausstellen werden und Brüssel sich nicht doch mit Madrid gegen eine demokratische Lösung des Konflikts entscheiden wird, sei dahingestellt. Den Sieg garantiert niemand. Jedoch: Ein schlüssiges, mutiges, linkes Konzept liegt auf dem Tisch. Es setzt auf Denken und Handeln auf dem Weg zum Ziel. Das bleibt, so Otegi, ein »unabhängiges und wirklich sozialistisches Baskenland«.

Fermin Munarritz: Lichtblicke im Baskenland. Interview mit Arnaldo Otegi. Vorworte von Gerry Adams und Uschi Grandel. 254 Seiten, PapyRossa Verlag Köln, 2014, 14,90 Euro

* Aus: junge welt, Montag, 10. Februar 2014


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