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Rekordsturm auf Spanien

Nie versuchten so viele Afrikaner die spanische Küste und die Enklave Melilla zu erreichen wie in diesen Tagen

Von Ralf Streck, San Sebastián *

Fast 1000 Flüchtlinge wurden auf See gerettet. Sie versuchten, mit »Spielzeugbooten« die Meerenge von Gibraltar zu überqueren.

Zahlreiche Flüchtlinge versuchen derzeit die gefährliche Überfahrt von Marokko nach Spanien mit aufblasbaren Schlauchbooten. Auch schlechte See hält sie nicht mehr ab. Am Dienstag zählte das Rote Kreuz und die spanische Seenotrettung 920 Flüchtlinge, die die Überfahrt in fast 100 Booten über die Straße von Gibraltar ins spanische Tarifa versuchten und aus dem Wasser gefischt wurden. Der bisherige Rekord wurde klar übertroffen, als am 18. August 2006 insgesamt 512 Flüchtlinge in 24 Stunden die Kanarischen Inseln mit großen Holzbooten aus Westafrika erreichten. In der Mehrzahl sind es weiterhin Männer, doch am Dienstag wurden auch etwa 100 Frauen und gut 30 Kinder gerettet. In nur 36 Stunden wurden mehr als 1200 Flüchtlinge gezählt, die versucht haben, mit einfachen Booten die Meerenge zu überqueren, die an der engsten Stelle 14 Kilometer breit ist. Ob Boote gekentert und Flüchtlinge ertrunken sind, ist nicht bekannt.

Doch nicht nur auf diesem Weg versuchten Flüchtlinge nach Europa zu kommen. Hunderte Afrikaner versuchten in der Nacht auf Dienstag und in der Nacht auf Mittwoch, die sechs Meter hohen Grenzzäune zur spanischen Exklave Melilla zu überwinden. Obwohl die mit dem gefährlichem Klingendraht ausgerüstet und mit Vorrichtungen versehen wurden, die das hinaufklettern verhindern sollen, gelang das vielen. Am Dienstag schafften es 80 von etwa 750 Flüchtlingen, die von Marokko umschlossene Exklave zu erreichen. Verstärkte Grenztruppen verhinderten es bis zum Mittwochabend, dass einige der 600 Flüchtlinge die Grenze übertreten konnten, die in zwei Gruppen einen erneuten Versuch gewagt hatten. Etwa 100 harrten über Stunden auf dem Zaun aus. Am Vortag gelang es 50 Afrikanern, die sich stundenlang an die Zäune geklammert hatten, doch noch nach Melilla zu kommen.

Da die Grenze zu Melilla und Ceuta immer stärker befestigt und bewacht wird, hat sich der Fluchtweg erneut geändert. Deshalb stürzen sich Flüchtlinge nun mit einfachsten Booten ins Meer. Israel Díaz, Schiffsführer auf dem Seenotrettungsschiff »Salvamar Alkaid« macht deutlich, dass sie immer lebensgefährlicher vorgehen: »Früher haben sie das Wetter beachtet und bei schlechter See keine Versuche unternommen und ihr Leben nicht riskiert«, sagte er der Nachrichtenagentur Efe. Nun sei das anders: »Sie stürzen sich mit irgendeinem Boot ins Meer und schrecken auch nicht mehr vor fünf Meter hohen Wellen zurück.« Er bekräftigt, es sei »praktisch unmöglich, mit solchen Spielzeugbooten die Überfahrt zu schaffen«.

Spanien macht dafür, dass sich viele Flüchtlinge ins Meer und auf die Zäune stürzen konnten, »Nachlässigkeit« Marokkos verantwortlich. Der marokkanische Innenminister Mohamed Hasad gab am Mittwoch zu, es habe »Störungen« bei der Überwachung gegeben. Die Probleme würden »sehr schnell beseitigt«, sicherte er zu. Er verwies auf die bekannte »beispielhafte Zusammenarbeit« und das gegenseitige »Vertrauen« zwischen beiden Ländern.

Dabei handelte es sich um eine Geste gegenüber dem spanischen Amtskollegen Jorge Fernández Díaz. Der traf am Mittwochnachmittag mit den Chefs der Nationalpolizei und der Guardia Civil zusammen, die die Grenzen sichert. Die Lage wurde erörtert und Maßnahmen beschlossen, um dem »Einwanderungsdruck« zu begegnen. Kritik an Marokko wurde nicht mehr geübt – und stattdessen beschlossen, dass weitere 500 Beamte nach Melilla, Ceuta und Tarifa verlegt werden. Ausgeschlossen wird nicht, dass doch wieder »Aufstandsbekämpfungsmaterial« genehmigt wird. Seit Februar dürfen keine Gummigeschosse benutzt werden, weil 15 Flüchtlinge beim Grenzübertritt nach Ceuta ihr Leben verloren, als auch auf Schwimmende geschossen wurde.

Die lückenhafte marokkanische Grenzsicherung hat die Flüchtlinge nun dazu bewegt, die lebensgefährliche Überfahrt zu versuchen. Zum Teil harrten sie seit Jahren unter menschenunwürdigen Bedingungen in Marokko aus. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden sie von Sicherheitskräften dort verfolgt. Die gingen mit äußerster Brutalität gegen Afrikaner vor, wie unter anderem die deutsche Regisseurin und Dokumentarfilmerin Miriam Fassbender in einem kürzlich veröffentlichten Buch beschreibt. Sie hat jahrelang recherchiert und die Flüchtlinge über »2850 Kilometer«, so der Titel des Buchs, begleitet. Die Sicherheitskräfte täten alles, um sie von den europäischen Grenzen fernzuhalten. Die Flüchtlinge würden verprügelt oder vergewaltigt, manchen würden vorsätzlich die Beine gebrochen. Sie würden in der Wüste abgesetzt, wo sie bisweilen verdursten, verhungern, an Krankheiten oder Entkräftung sterben.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag 14. August 2014


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