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Immer neue Angriffe

"Sparprogramm": Erwerbslosenzahl in Spanien auf Rekordhöhe, Binnenkonjunktur eingebrochen. Protestbewegung äußert grundsätzlich Kritik am Kapitalismus

Von Adolfo "Txiki" Muñoz *

Es ist ihnen aus der Hand geglitten. Die Kaste der Politiker ist Dienstleister des Kapitals, begünstigt aktiv dessen Akkumulation und zerstört gleichzeitig soziale Instrumente, die dazu geschaffen wurden, den gesellschaftlich erwirtschafteten Reichtum etwas gerechter zu verteilen. Das Arbeitsrecht, der Flächentarifvertrag, die Abschaffung der Vermögenssteuer, die Privatisierung öffentlicher Betriebe – wie weit soll das noch gehen, wie lange wird diese Ausplünderung noch politisch gedeckt?

Spaniens Regierungschef José Luis Rodríguez Zapatero erklärt: »Um das Vertrauen der Märkte zu gewinnen, werde ich die dafür notwendigen Reformen durchsetzen, so hart sie auch sein mögen.« Als er das im Mai 2010 sagte, stand die »Risikoprämie« bei 160 Punkten, nach Durchsetzung besagter Reformen hat sie nun einen Stand von 400. Das ist das Ergebnis, wenn man sich auf eine Erpressung einläßt. Wenn der Erpresser weiß, daß er mit seiner Vorgehensweise Erfolg hat, wendet er sie wieder und wieder an. Wir haben das Recht darauf, Verantwortlichkeiten einzufordern. Mit welchem Ziel wurden all diese Reformen durchgeführ? Sie haben die Macht des Kapitals gestärkt, sie haben die reale Wirtschaft in die Misere geführt, sie haben die Arbeitslosigkeit in astronomische Höhen getrieben.

Politik und Kapital

al쟴BB퓐ɣ䅐ɝ픈ɣ＀`ӹӹӹ쟴BI쥀ɳ䂐ɝ＀` Zapatero vertritt die Interessen von Hochfinanz und Großindustrie. Er wird kein Problem damit haben, einen lukrativen Job in einem dieser Unternehmen zu finden, wenn er nun abtritt. Genauso wie vor ihm Felipe Gonzáles, José María Aznar, Pedro Solbes und wie sie alle heißen. Es gibt nur allzuviele führende Politiker ohne wirkliche Lösungen und Zukunftsmodelle, die direkt aus staatstragenden Regierungspositionen in große Unternehmen der Privatwirtschaft wechseln. Das ist die Form der Danksagung dieser Unternehmen für die für sie geleisteten Dienste. Dies ist ein Teil der Erklärung des Ganzen: Die Politik ist bis ins Mark von Privatinteressen durchdrungen. Die Banken und Sparkassen wurden kürzlich einem Streßtest unterzogen. Die Resultate sind nicht besonders vertrauenerweckend. Diejenigen, die es wissen müssen, sagen, wenn man in die Bilanzen nicht bestehendes Immobilienkapital »zu marktüblichen Werten« hätte einfließen lassen, dann hätten viele diesen Streßtest gar nicht bestanden. Der Direktor der spanischen Nationalbank, ein Zyniker sondergleichen, fordert unterdessen weitere Einschnitte im Bereich des Sozial- und Arbeitsrechts sowie ein rasches Vorantreiben der Privatisierungen und die Einführung des »Copago«, also Zusatzzahlungen bei jedem Arztbesuch. Keiner aus der politischen Führungsriege widerspricht ihm, im Gegenteil. Alle tun, was er sagt. Die Bank ist ein Faß ohne Boden als bittere Konsequenz aus großer Verantwortungslosigkeit und Folge internationaler Spekulationsorgien. Sie hat entschieden, daß wir die Verluste mit dem Abbau erkämpfter Sozial- und Arbeitsrechte bezahlen sollen. Die Finanzinteressen stehen in einem krassen Gegensatz zum Gesellschaftsinteresse. Es passieren zur Zeit sehr schwerwiegende Dinge, für die es eine Erklärung zu suchen gilt. Laut einem Gutachten der Staatengruppe des Europarates gegen Korruption (GRECO – Groupe d’Etats contre la Corruption) erlassen in Spanien Banken den politischen Parteien teilweise die Schulden. Was ist der Grund dafür? Ganz einfach, diese politischen Parteien arbeiten für die Bank.

Zapatero hatte keine Mehrheit für die Reformen, er konnte sie nur dank der Unterstützung durch PNV (Baskische Nationalistische Partei), CiU (katalanisches Bündnis »Convergència i Unió«), UPN (Union des Navarresischen Volkes) und CC (Kanarische Koalition) im Parlament durchbekommen. Die Reform sei gegen die Kurzzeitarbeitsverträge gerichtet, sagte er. Allerdings steigt die Zahl der Kurzzeitverträge seitdem ständig an. Die Lohnkürzungen bei den Beschäftigten im öffentlichen Sektor; das Einfrieren der Renten und die Erhöhung des Renteneintrittsalters, die in Abstimmung mit den Gewerkschaften CCOO und UGT mit dem Ziel einer Ausweitung privater Rentenfonds vorgenommen wurde; die Angriffe auf die Flächentarifverträge und die damit verbundene Verschlechterung der Arbeitsbedingungen; die Privatisierung der Sparkassen und das Einkassieren ihrer Rücklagen für soziales Engagement – sie wetteifern darum, wer die unsozialste Politik durchsetzt. Die Krise ist ihnen dabei eine perfekte Rechtfertigung, Dinge durchzusetzen, die sie schon lange zu verwirlichen vorhatten. Noch vor zwei Jahren hätte sich niemand vorstellen können, daß es so schnell so weit kommen könnte. Mehr noch, niemand kann sich eine Vorstellung davon machen, was in den nächsten Monaten geschehen wird. Das einzige, was wir wirklich wissen, ist, daß es ihnen aus den Händen geglitten ist und wer wen nach seiner Pfeife tanzen läßt, nämlich das Kapital, dem immer alles zu wenig ist, die politischen Parteien, die nicht in der Lage sind, sich dem Diktat des Kapitals zu widersetzen.

Drei Jahre nach dem Beginn der Krise nutzt das Kapital weiter nach Belieben die Steuerparadiese. Mehr als je zuvor, sagen diejenigen, die es wissen müssen und nie etwas dagegen unternommen haben. Im Gegenteil, sie sagen uns, daß man das Kapital liebevoll behandeln muß und daß man die Gewerbesteuern senken muß, man muß es in Ruhe lassen – dasselbe Argument in aller Welt. In den USA gibt Obama dem Druck der »Tea Party« nach, die es geschafft hat, sowohl die Republikaner als auch die Demokraten mitzureißen. In Peru war das erste, was die multinationalen Mineralunternehmen dem neuen Präsidenten Ollanta Humala sagten, daß er es ja nicht wagen solle, die Steuern für diese Unternehmen zu erhöhen – während die unteren Volksklassen verhungern. Im Baskenland haben wir unsere eigene »Tea Party«, und die ist enorm effizient. Sie benutzt die gleiche Demagogie: »Das Kapital zu besteuern, schadet der Wirtschaft und der Beschäftigung.« Sie haben keinerlei Schamgefühl dabei. Sie wollen nicht preisgeben, wer sich daran bereichert, daß wir den geringsten Steuerdruck auf Unternehmen in der ganzen EU haben (acht Millarden Einnahmeverlust der öffentlichen Kassen im Südbaskenland) und wo die Gewinne dieser Bereicherung in die Spekulation eingebracht werden oder wohin sie verschwinden. Die baskische Tea Party weiß ganz genau, daß diejenigen, die nicht aus Arbeit resultierende hohe Einkommen haben und Steuern bezahlen, dumm sind. Die Zusammenarbeit der Finanzämter mit den Steuerhinterziehern bewirkt, daß diese völlig unbehelligt bleiben. Das Kapital muß ohne Zweifel zur Kasse gebeten, muß wesentlich höher besteuert werden.

Dreiste Forderungen

Aber mit dem Rückenwind, den die Unternehmer genießen, fordern sie noch dreist: Geringere Löhne, mehr Arbeitsstunden, mehr Flexibilität – was sich letztendlich in weniger Arbeitsplätzen ausdrückt. Sollen diese Leute tatsächlich repräsentativ für eine reale Gesamtwirtschaft sprechen? Sie wollen, daß immer weniger Leute immer mehr arbeiten, und das auch noch in einer depressiven Konjunktur. Diese Politik bringt uns in eine perverse Spirale und führt letztendlich zum Kollaps der Wirtschaft und damit des Arbeitsmarktes.

Viele Arbeiter sehen sich mittlerweile gezwungen, zwölf bis 14 Stunden täglich zu arbeiten, um dafür vier oder fünf Euro die Stunde zu bekommen. Die Tarifverträge werden schon lange nicht mehr eingehalten oder umgangen, es handelt sich um Ausbeutung pur. Ein Sprecher des baskischen Unternehmerverbandes »Confebask« hat selbst gesagt: »Wir verfügen hier über ausgezeichnete Produktionsbedingungen. « Trotzdem reicht ihnen das noch nicht aus, sie wollen jetzt nach der Arbeitsreform und der Aushebelung der Flächentarifverträge auch noch den bestehenden Tarifverträgen an den Kragen. Günter Grass hat einmal gesagt (und darin stimmen wir überein), daß das kapitalistische Wirtschaftssystem räuberisch im Umgang mit den Rechten der Arbeiter, mit den sozialen Rechten sowie mit der Umwelt ist, und daß jetzt Fragen gestellt werden müssen, die vor kurzem noch vielen als politisch nicht korrekt und unstellbar gegolten haben. Wir von der Gewerkschaft ELA bestehen darauf, daß nicht nur andere Politikformen möglich, sondern gesellschaftlich gesehen inzwischen unumgänglich und notwendig geworden sind.

Die Gewerkschaften haben eine hohe Verantwortung, sie müssen soziale Alternativen gesellschaftsfähig machen und gleichzeitig dafür mobilisieren. Sie müssen Arbeiterinnen und Arbeiter organisieren, um für ihre Sache zu kämpfen. Es gibt auch Dinge, die sie nicht tun sollten: Sie sollten auf keinen Fall Komplizen von Regierungen sein, die Sozialabbau betreiben und mithelfen, die Wünsche des Kapitals durchzusetzen.

* Adolfo »Txiki« Muñoz ist Vorsitzender der baskischen Gewerkschaft ELA. Der Beitrag erschien zuerst in der baskischen Tageszeitung Gara.

Übersetzung: Stefan Natke

Aus: junge Welt, 10. August 2011


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