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Spanier gegen "Selbstmordpolitik"

Über eine Million Menschen protestierten gegen Sparmaßnahmen zur Bankenrettung

Von Ralf Streck, San Sebastián *

Die »Generalmobilisierung« der spanischen Gewerkschaften hat am Donnerstagabend zahllose Menschen auf die Straßen getrieben. In 80 Städten wurde gegen das vierte Spardekret in sechs Monaten protestiert, das die regierende Volkspartei (PP) im Parlament gegen die Stimmen aller Oppositionsparteien verabschiedet hat.

Es war wohl die Ouvertüre zum Protestsommer: In der Hauptstadt Madrid sollen sich laut Gewerkschaften 800 000 Menschen an den Protesten gegen die bisher tiefsten Einschnitte ins Sozialsystem und die Steuererhöhungen beteiligt haben. In der katalanischen Metropole Barcelona sollen es 400 000 gewesen sein und sogar in Palma de Mallorca 50 000.

Blieben die Proteste meist friedlich, kam es in Madrid zu Konfrontationen. Die Polizei löste gegen Mitternacht eine Versammlung, die zum Parlament ziehen wollte, mit Knüppeln und Gummigeschossen auf. Feuerwehrmänner versuchten, die Polizisten zu beruhigen, was ihnen nicht gelang. Sie erinnerten die Spezialtruppen daran, dass auch sie betroffen sind. Einige Demonstranten bewarfen die Polizei mit Flaschen und Steinen und einige Mülltonnen wurden als Barrikaden benutzt und abgebrannt. 15 Personen wurden festgenommen und etwa 40 verletzt.

Die großen Arbeiterkommissionen (CCOO) und die Arbeiterunion (UGT) sprechen von einem großen Erfolg und kündigten der Regierung unter Mariano Rajoy einen heißen Sommer an, falls die Regierung nicht einlenkt und die »Selbstmordpolitik« beendet. Auf einem großen »Sozialgipfel« werde das Vorgehen noch im Juli mit Wohlfahrtsverbänden, sozialen Organisationen und Initiativen abgestimmt.

CCOO-Chef Ignacio Fernández Toxo sagte, die Regierung werde es mit der »breiten Mobilisierung der Bevölkerung« zu tun haben. Man wolle ein Referendum, in dem die Bürger selbst über Sparprogramme und Bankenrettung abstimmen. Die Konservativen hätten die Wähler betrogen und vor den Wahlen versprochen, keine Banken mit Steuergeldern zu retten, keine Steuern zu erhöhen und keine Gehälter zu kürzen. Doch ihre Maßnahmen, wie die Anhebung der Mehrwertsteuer, »treffen die gesamte Bevölkerung, um einer kleinen Elite zu dienen«.

Toxo fügte an, dass für die 100 Milliarden Euro zur Bankenrettung erneut zahllose Arbeitsplätze vernichtet würden. Er sprach von einer »Aggression gegen Arbeitslose, Beamte, Selbstständige und allgemein gegen die Mittelschicht des Landes, die verarmt«. Mit Blick auf die Zinsen für Staatsanleihen wies er darauf hin, dass nicht einmal die Finanzmärkte beruhigt würden. Denn am Donnerstag musste Spanien erneut Rekordzinsen für Staatsanleihen bezahlen, obwohl das Sparpaket verabschiedet wurde. Allen sei längst klar, dass diese Programme nur tiefer in die Rezession führten, womit sich die Probleme und die Löcher in den Bilanzen von Banken nur vergrößerten, weil immer neue Kredite ausfallen.

Von einem Generalstreik wurde noch nicht gesprochen. Den haben die baskischen Gewerkschaften schon für den 26. September ausgerufen. Doch auch die Basis von CCOO und UGT drängen auf massiven Widerstand. Da niemand erwartet, dass die Regierung einlenkt, dürfte an diesem Tag in ganz Spanien gestreikt werden. Für Txiki Muñoz, Chef der großen baskischen Gewerkschaft ELA, geht es darum, »die Lügen zu entlarven, die das kapitalistische System vorbringt, um die Einschnitte zu rechtfertigen«. Den Basken geht es darum, die Angriffe zu stoppen und Alternativen zu diesem System aufzuzeigen.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 21. Juli 2012


Barrikaden in Madrid

Von Carmela Negrete und André Scheer**

Mehrere Millionen Menschen haben am Donnerstag abend in rund 80 Städten Spaniens gegen die Kürzungspolitik der Regierung von Ministerpräsident Mariano Rajoy demonstriert. Zu den Protesten hatten alle großen Gewerkschaftsverbände und unzählige weitere Organisationen aufgerufen – allein in Madrid mehr als 1000 Vereinigungen, von Nachbarschaftszusammenschlüssen über die Menschenrechtsorganisation Amnesty International und Berufsverbänden bis hin zur anarchosyndikalistischen CNT und den »Empörten«. Bei der Kundgebung in der Hauptstadt zählten die Veranstalter 800000 Teilnehmer – die Polizei sprach lediglich von 40000 Demonstranten. In Barcelona waren 400000 Menschen auf der Straße.

Unmittelbar zuvor hatte der spanische Kongreß mit der Mehrheit der postfranquistischen Volkspartei (PP) den umfangreichsten Sozialabbau seit dem Ende der Franco-Diktatur beschlossen. 65 Milliarden Euro sollen innerhalb von zwei Jahren gestrichen werden. Das werde den Verlust von mehr als einer Million weiteren Arbeitsplätzen nach sich ziehen, kritisierte der Chef der Vereinigten Linken (IU), Cayo Lara. Bei einer Pressekonferenz in Madrid warf der Generalsekretär der Arbeiterkommissionen (CCOO), Ignacio Fernández Toxo, der Regierung vor, Menschen in extreme Armut zu stürzen, die an der Krise unschuldig seien. Erstmals hatten alle großen Gewerkschaftsverbände gemeinsam zum Gespräch mit den Journalisten eingeladen. Sie fordern eine Volksabstimmung über die Streichungen. Sollte diese nicht durchgeführt werden, werde man zu einem weiteren Generalstreik aufrufen. Im Baskenland, wo die nationalistischen Gewerkschaften ELA und LAB nicht zu den Demonstrationen am Donnerstag aufgerufen hatten, ist ein solcher Ausstand für den 26. September bereits angekündigt. Zudem wollen die Beschäftigten aller Bildungseinrichtungen Madrids – von den Kindergärten bis zu den Hochschulen – mit dem Ende der Sommerferien am 17. September in einen unbefristeten Streik treten.

»Der nächste Arbeitslose muß ein Abgeordneter sein«, gehörte zu den am häufigsten gerufenen Sprechchören der Großdemonstration in Madrid. Über den Teilnehmern wehten unzählige rote Fahnen, Banner der verschiedenen Organisationen und Flaggen der Spanischen Republik (1931–1939). Nachdem auf der Kundgebung von bekannten Schriftstellern ein »Soziales und gewerkschaftliches Manifest gegen die Kürzungen« verlesen wurde (»Wie können wir eine Regierung respektieren, die ein Geheimprogramm aus der Tasche zieht?«), sangen die Demonstranten mit erhobenen Fäusten gemeinsam die Internationale. Erneut beteiligten sich zahlreiche Feuerwehrleute und Polizisten in Uniform an dem Zug, die sich zeitweilig zudem in die erste Reihe der Kundgebung stellten, um die anderen Teilnehmer vor Übergriffen durch die paramilitärischen Aufstandsbekämpfungseinheiten zu beschützen. Diese waren im Zentrum der Hauptstadt aufgeboten worden, um eine befürchtete Besetzung des Parlaments durch die Menge zu verhindern. Zehntausende belagerten dennoch das Gebäude und errichteten Barrikaden. Die Beamten gingen mit Tränengas und Gummigeschossen gegen die Protestierenden vor und feuerten mit scharfen Waffen in die Luft. Einem Bericht der Tageszeitung El País zufolge wurden 15 Demonstranten festgenommen, unter ihnen ein Feuerwehrmann und ein minderjähriges Mädchen. 39 Menschen wurden verletzt.

** Aus: junge Welt, Samstag, 21. Juli 2012


Eskalierende Krise

Von Martin Ling ***

Auswandern oder gegen die Sparpolitik aufstehen: Das sind die grundlegenden Alternativen, die der spanischen Bevölkerung bleiben und das sind die Wege, die bereits beschritten werden. Um 44 Prozent stieg die Zahl der Auswanderer im ersten Halbjahr 2012 im Vergleich zum Vorjahr. In 80 Städten gingen gestern die Menschen auf die Straßen und der nächste Generalstreik ist nur noch eine Frage der Zeit.

Was die herrschenden Politiker in der EU und Spanien betreiben, grenzt an Realitätsverweigerung - allen voran gilt dies für die deutsche Krisenpolitik. Als bedürfte es noch eines Beweises für den verfehlten Kurs, stiegen die Zinsen für zehnjährige spanische Staatsanleihen gestern wieder über die kritische Marke von sieben Prozent. Spaniens Regierung verabschiedet Sparpaket nach Sparpaket, um die Märkte zu »beruhigen« und wird stattdessen mit steigenden Zinsen Mal für Mal abgestraft. Die Zeche zahlt die darbende Bevölkerung.

Obwohl Jahre der Sparpolitik in den Krisenländern den Beleg bereits erbracht haben, dass es eine Illusion ist, sich aus der Krise sparen zu können, wird unter der Regie des Zuchtmeisters Deutschland daran festgehalten. Merkel hegt offenbar die Illusion, dass sich so Deutschland die Krise ersparen kann. Doch wenn der Kurs nicht schleunigst geändert wird, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Krise als letztes europäisches Land auch Deutschland trifft. Mit dem Europäischen Schuldentilgungspakt liegt ein gangbarer Ausweg seit Monaten auf dem Tisch. Doch solange Deutschland blockiert, wird die Krise weiter eskalieren.

*** Aus: neues deutschland, Samstag, 21. Juli 2012 (Kommentar)


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