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Harter Schlag für Spaniens Politik der Vergeltung

Gericht musste aufgrund eines Straßburger Urteils die Freilassung einer inhaftierten ETA-Aktivistin anordnen

Von Ralf Streck, San Sebastian *

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat Spanien verurteilt, viele Gefangene freizulassen, die illegal inhaftiert sind.

Angehörige der Baskin Inés del Río Prada begaben sich am Dienstag auf den 700 Kilometer langen Weg zum Gefängnis von Teixeiro. Der Nationale Gerichtshof in Madrid hatte am Morgen in einer Sondersitzung die Freilassung der 55-jährigen ehemaligen Aktivistin der baskischen Untergrundorganisation ETA verfügt. Das Gericht hatte keine Wahl, nachdem Spanien am Montag vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg eine Niederlage erlitten hatte.

Inés del Rio war wegen der Verwicklung in mehrere ETA-Anschläge zu mehr als 3000 Jahren Haft verurteilt worden. Die höchstzulässige Haftzeit zum Zeitpunkt der Verurteilung betrug 30 Jahre. Aufgrund üblicher Strafnachlässe hätte del Rio 2008 freigelassen werden müssen. Doch inzwischen hatte Spaniens Oberster Gerichtshof die nach einem anderen ETA-Mitglied benannte Parot-Doktrin erlassen: Durch Veränderung der Strafnachlässe wurde die Haftdauer der Gefangenen bis 2017 verlängert. Diese nachträgliche Strafverschärfung verstößt nach Auffassung der Straßburger Richter gegen den Grundsatz »keine Strafe ohne Gesetz« und damit gegen die Menschenrechtskonvention. Der EGMR stellte in zweiter und letzter Instanz fest, dass Inés del Rio seit fünf Jahren »irregulär« inhaftiert ist. Spanien müsse derartige Verstöße »dringlich« beenden, sagte Gerichtspräsident Dean Spielmann. Der Gefangenen wurde eine Entschädigung von rund 30 000 Euro zugesprochen.

Für Margerita Robles, Sprecherin des spanischen Justizkontrollrats CGPJ, ist klar, dass damit ein »Präzedenzfall« geschaffen wurde. Da die Parot-Doktrin auf etliche Gefangene – nicht nur ETA-Mitglieder – angewandt wurde, müsste Spanien auch andere Häftlinge freilassen. Die Tageszeitung »El País« schrieb, bis zu 137 inhaftierte ETA-Kämpfer könnten in den kommenden Jahren betroffen sein. 56 haben bereits gegen die Anwendung der Doktrin geklagt.

In London wurde am Dienstag über das Schicksal des Basken Antonio Troitiño beraten, der aus Spanien geflohen war, nachdem er nach seiner Freilassung gemäß der Doktrin erneut ins Gefängnis einziehen sollte. Aufgrund eines Europäischen Haftbefehls sitzt er seit 2012 in Großbritannien in Abschiebehaft. Die Abschiebung wurde aber mit Blick auf das EGMR-Urteil ausgesetzt.

Für Spaniens konservative Regierung und die Volkspartei (PP) ist der Straßburger Richterspruch ein harter Schlag. Innenminister Jorge Fernández Díaz und Justizminister Alberto Ruiz-Gallardón sprachen mit ernster Miene von einem »bedauerlichen« Urteil. Anders als viele Juristen sieht Gallardón keinen Präzedenzfall, zumindest will er »Fall für Fall« prüfen lassen. Für die Zukunft kündigte er die Einführung einer tatsächlich »lebenslänglichen Strafe« an. An der »Antiterror- und der Gefängnispolitik« werde sich nichts ändern, kündigte sein Kollege aus dem Innenressort an. Die Präsidentin der Organisation spanischer Anschlagsopfer (AVT), Ángeles Pedraza, fehlten die Worte, um auszudrücken, was sie fühle. Sie forderte die Regierung auf, dem Urteil des EGMR nicht zu folgen, »Wir haben nie Selbstjustiz geübt, aber unsere Geduld ist begrenzt«, drohte Pedraza.

Anders die Reaktionen im Baskenland. Für dessen Autonomieregierung sprach Josu Erkoreka von einer »Chance für eine neue Gefängnispolitik«. Die sozialdemokratische Baskische Solidaritätspartei (EA) sah die »Ungerechtigkeit Spaniens« bestätigt. Die Politik der Regierung in Madrid basiere auf Vergeltung, um Reaktionäre zu befriedigen.

Hasier Arraiz, Präsident der neuen linken Partei Sortu (Aufbauen), glaubt, dass Regierung und PP den Friedensprozess durch Repression und Gefängnispolitik scheitern lassen will. Die ETA, die vor zwei Jahren auf Gewalt verzichtet hat, solle zur Umkehr oder zur Spaltung provoziert werden, damit Madrid keine Schritte in Richtung baskischer Selbstbestimmung gehen muss.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 23. Oktober 2013


Frei nach 26 Jahren

Nach Urteil in Strasbourg: Spanien entläßt baskische Gefangene aus der Haft

Von Stefan Natke **


Inés del Río ist frei. Nach 26 Jahren Haft wurde die wegen Mitgliedschaft in der Untergrundorganisation ETA verurteilte Baskin am Dienstag nachmittag auf freien Fuß gesetzt. Zuvor hatte die in Madrid ansässige Audiencia Nacional, das Sondertribunal für Terror- und Drogendelikte, einstimmig die sofortige Freilassung del Ríos angeordnet. Freiwillig geschah das nicht, vielmehr waren die spanischen Richter zu ihrer Entscheidung vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gezwungen worden.

Der EGMR hatte am Montag in Strasbourg den spanischen Staat wegen Rechtsbeugung verurteilt und die 2006 erlassene »Parot-Doktrin« für rechtswidrig erklärt. Diese verstoße gegen Artikel 7 und 5.1 der Europäi­schen Menschenrechtskonvention. Del Río müsse sofort freigelassen und mit 31500 Euro entschädigt werden, entschieden die Richter. Schon im Juli 2012 hatte der Gerichtshof die Doktrin für rechtswidrig erklärt und den spanischen Staat aufgefordert, die Baskin freizulassen. Die Madrider Behörden hatten dagegen jedoch Widerspruch eingelegt. Dieser wurde am Montag von der Großen Kammer des EGMR zurückgewiesen, wodurch das Urteil rechtskräftig ist.

Als »Parot-Doktrin« wird eine nach dem ETA-Mitglied Henri Parot benannte Gesetzesänderung bezeichnet, durch die Haftstrafen bereits verurteilter Angehöriger der bewaffneten Untergrundorganisation rückwirkend über die maximale Haftdauer von 30 Jahren hinaus verlängert werden können. Parot war der erste Gefangene, auf den dieses offiziell »Doktrin 197/2006« genannte Gesetz angewendet wurde. Obwohl er 2006 hätte entlassen werden müssen, sitzt er immer noch in Haft. Er und mindestens 71 weitere politische Gefangene aus dem Baskenland müßten nach dem Strasbourger Urteil nun ohne weitere Gerichtsverfahren freigelassen werden, erklärte Margarita Robles Fernández, die Richterin der dritten Kammer des Obersten Gerichtshofs Spaniens ist, im baskischen Rundfunksender Radio Euskadi.

Ein ehemaliger Sprecher der Ende September verbotenen Gefangenenhilfsorganisation Herrira erklärte, das Urteil zeige, »daß unser Kampf für die Rechte der baskischen politischen Gefangenen rechtens und richtig war und ist. Es beweist, daß über 70 Personen zur Zeit vom spanischen Staat illegal in Haft gehalten werden und auch das gegen uns ausgesprochene Verbot und die Verfolgung unserer Mitglieder und Mitarbeiter rechtswidrig ist.«

»Das EGMR-Urteil zur sogenannten Parot-Doktrin in Spanien ist ein wichtiger Schritt für die Verteidigung von Grundrechten in Europa«, kommentierte der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko (Die Linke). »Spanien muß jetzt unverzüglich die Rechtspraxis der Parot-Doktrin beenden und die betroffenen Gefangenen freilassen.« Für den baskischen Friedensprozeß sei der Richterspruch eine positive Nachricht.

Die spanische Regierung hat sich über den Beschluß der Strasbourger Richter »enttäuscht« gezeigt. Justizminister Alberto Ruiz-Gallardón sprach von einer »bedauerlichen Entscheidung«, auf die man zu reagieren wisse. Vor allem will Madrid nun verhindern, daß es ein Foto von 70 bis 100 Gefangenen gibt, die gleichzeitig aus der Haft entlassen werden müssen. Ein solcher Gesichtsverlust gegenüber der linken baskischen Unabhängigkeitsbewegung und der Weltöffentlichkeit soll vermieden werden, indem jetzt jeder Fall einzeln geprüft wird. Zudem kündigte Gallardón an, daß man alle Möglichkeiten der »Justiztechnik« bemühen werde, um die »ETA-Terroristen« nicht freilassen zu müssen. Mit einem Anschlag auf Inés del Río droht gar die Chefin der »Vereinigung der Opfer des Terrorismus« (AVT), Ángeles Pedraza. »Wir haben nie Selbstjustiz geübt, aber auch unsere Geduld hat Grenzen«, erklärte die Präsidentin der Organisation, die der spanischen Regierungspartei PP nahesteht.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 24. Oktober 2013


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