Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Das einzige richtige Essen der Kinder ist die Schulspeisung"

In Spanien leiden viele Arbeiterfamilien bittere Not. Besonders schlimm ist es in Andalusien. Ein Gespräch mit Miguel Sanz Alcántara *



Wie ist die soziale Lage in Spaniens Süden, in Andalusien, wo Ihre Gewerkschaft arbeitet?

Sehr, sehr hart. Nicht nur wegen der aktuellen Kürzungen in den Sozialetats, sondern weil Spanien ohnehin seit sehr langem eine hohe Arbeitslosigkeit hat. Andalusien ist die am wenigsten industrialisierte Region Spaniens. Wenn also Spanien inzwischen eine Arbeitslosenquote von 25 Prozent hat, ist sie bei uns um fünf bis sieben Prozentpunkte höher. Es gibt viele Arbeiterfamilien, die kaum noch genug Geld haben, um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Nicht wenige sind auf die Suppenküchen der Kirche angewiesen. Ein Lehrer, der Mitglied unserer Gewerkschaft ist, erzählte mir neulich, daß für viele Grundschüler das einzige richtige Essen die Schulspeisung ist, sie also nur eine Mahlzeit am Tag bekommen.

Und dennoch drohen weitere Kürzungen bei den Sozialausgaben?

Ja, die EU zwingt uns, die Verschuldung zu senken, obwohl das spanische Haushaltsdefizit deutlich unter der Drei-Prozent-Grenze der Maastricht-Kriterien liegt. Im Bildungs- und im Gesundheitswesen sollen 20 Milliarden Euro gestrichen werden. Außerdem setzt die Zentralregierung die autonomen Regionen unter Druck, ebenfalls zu kürzen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat für ganz Europa sogenannte Arbeitsmarktreformen gefordert. Werden jetzt auch in Spanien die Arbeiterrechte angegriffen?

Ja, das fing schon unter den Sozialdemokraten an. Unter anderem wurden Entlassungen erleichtert und die vorgeschriebenen Abfindungen erheblich gesenkt. Ich war selbst davon betroffen: Ich hatte einen Vertrag, nach dem die Abfindung eineinhalb Monatsgehälter pro Beschäftigungsjahr betragen sollte. Durch die Arbeitsmarktreform der Regierung wurde dieser Vertrag außer Kraft gesetzt. Und so ist es vielen gegangen, die dachten, sie seien gut abgesichert. Außerdem wurde das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre angehoben und die Mindestarbeitszeit erhöht, die notwendig ist, um die vollen Rentenansprüche zu haben.

Und wie geht die neue Regierung damit um, die seit Dezember an der Macht ist?

Die Konservativen haben diese Politik noch verschärft, ihr oberstes Ziel ist es, die Gewerkschaften zu schwächen. Ein neues Gesetz erlaubt den Unternehmen, die Tarifverträge zu brechen, wenn sie Verluste machen. Damit wird natürlich die Existenz der Gewerkschaften angegriffen, denn welchen Sinn machen noch Tarifverhandlungen, wenn sich die Unternehmen nicht dran halten müssen?

Des weiteren wird es künftig statt acht Monate nur noch maximal sechs Monate Arbeitslosengeld geben. Außerdem wurde erneut die Mehrwertsteuer angehoben. Inzwischen wird auf einen Teil der Produkte bereits 21 Prozent erhoben! Ein großes Problem sind die Zwangsräumungen. Viele Arbeiter sind verschuldet und können, wenn sie arbeitslos werden, ihre Hypotheken nicht zurück zahlen. Die Regierung unternimmt nichts zum Schutz dieser Menschen.

Generell läßt sich sagen, daß die herrschende Klasse die Krise als historische Chance sieht, ein Programm umzusetzen, das sie seit jeher verfolgt hat. Der Sozialstaat wird aufgelöst, die staatlichen Haushalte werden zusammengestrichen, weite Teile der öffentlichen Daseinsvorsorge privatisiert, und die Gehälter werden gedrückt.

Die Krise betrifft auf die eine oder andere Art alle EU-Staaten. Wie läßt sich der Kampf dagegen internationalisieren?

Eigentlich bräuchten wir einen EU-weiten Generalstreik, wie er jetzt für die südeuropäischen Länder diskutiert wird. Aber eines der Probleme ist, daß die kämpferische Linke in Europa kaum vernetzt ist. Wir brauchen mehr Zusammenarbeit und Austausch. Unsere nächsten Aktionen werden am 25. September stattfinden. Für diesen Tag hat die Bewegung des 15. Mai, die im letzten Jahr aus den Platzbesetzungen hervorgegangen ist, aufgerufen, das Parlament in Madrid zu umzingeln. Und im Oktober oder November wird es einen weiteren Generalstreik geben. Die Studenten werden vermutlich das neue Semester mit einem Streik beginnen.

Interview: Wolfgang Pomrehn

* Miguel Sanz Alcántara ist Mitglied im Vorstand der Andalusischen Arbeitergewerkschaft SAT (Sindicato Andaluz de Trabajadores) in Spanien.

Aus: junge Welt, Montag, 17. September 2012


Zurück zur Spanien-Seite

Zurück zur Homepage