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Spanien streikt für Bildung

Massenproteste gegen die geplanten Kürzungen der konservativen Regierung

Von Ralf Streck, Madrid *

In Spanien streikte jetzt erstmals das gesamte Bildungssystem - von der Vorschule bis zur Universität, vom Schüler bis zum Dozenten. Protestiert wurde gegen die tiefen Einschnitte. »Die Bildung ist kein Kostenfaktor, sondern eine Investition«, lautete das Motto des Streiks.

Im gesamten spanischen Bildungssektor zeichnet sich ein langer und harter Konflikt ab. Deutlich hat sich das daran gezeigt, dass am Dienstag erstmals seit dem Tod des Diktators Franco 1975 fast im gesamten Land gleichzeitig sowohl Lehrer, Schüler, Dozenten und Studenten als auch Angestellte von Schulen und Universitäten gestreikt haben. Neben Gewerkschaften, Schüler- und Studentenorganisationen hat auch die Elternorganisation Ceapa zu Protesten gegen die Einschnitte der Regierung ins Bildungssystem, die real erst nach dem Sommer spürbar werden, aufgerufen.

Auch Begoña Lopez hat ihre beiden Kinder nicht in die Schule gebracht. »Ich unterstütze die Ziele des Streiks«, erklärt sie am Rand einer Protestversammlung in Madrid. Sie erwartet, dass sich Lage im öffentlichen Schulsystem weiter deutlich verschlechtern wird. Etwa eine Million Beschäftigte und mehr als sieben Millionen Schüler und Studenten waren zum Streik aufgerufen. In den meisten Schulen seien nur wenige Schüler eingetroffen. Besonders stark war die Streikbeteiligung in der bevölkerungsreichsten Region Andalusien und dort vor allem an den Hochschulen, wo zum Teil zu 100 Prozent gestreikt wurde. Auch in einigen Schulen der Region haben mehr als 90 Prozent der Beschäftigten gestreikt, räumten Schuldirektoren ein. Während die Gewerkschaften von einer durchschnittlichen Beteiligung von 80 Prozent sprachen, sah die Zentralregierung nur etwa 20 Prozent im Ausstand. José Campos, Führungsmitglied der großen Arbeiterkommissionen (CCOO), bilanzierte jedenfalls einen »vollen Erfolg« und forderte die Regierung zur Rücknahme der Kürzungen und zu Verhandlungen auf.

Aus Protest wurden Schulen und Universitäten zum Teil nicht verlassen. Auch Eltern und Lehrer besetzten sie für 24 Stunden. Studenten blockierten zudem Straßen und Autobahnen wie die AP-7, die an der Autonomen Universität in Barcelona vorbeiführt. In der katalanischen Metropole demonstrierten zehntausende Menschen. Die großen zentralen Demonstrationen waren wie in Madrid erst am Dienstagabend geplant. In der Hauptstadt gingen nach Angaben der Veranstalter mehr als 100 000 Menschen auf die Straße. Sie marschierten hinter einem schwarz-weißen Banner mit der Aufschrift: »Bildung ist keine Ausgabe, es ist eine Investition. Nein zu den Kürzungen!« zum Bildungsministerium machten mit Trommeln und Trillerpfeifen auch akustisch auf sich aufmerksam.

Die Gründe für den Streik sind so vielfältig wie die Beteiligten. Erwartet wird, dass die Einschnitte um drei Milliarden Euro, die die konservative Volkspartei (PP) in der vergangenen Woche im Parlament beschlossen hat, zehntausende Stellen im Bildungssystem vernichten. Auf 21 Prozent summieren sich die Kürzungen im Bildungshaushalt, der damit ganz besonders von den Sparmaßnahmen der Regierung betroffen ist.

Kultusminister José Ignacio Wert spricht aber lieber von »Anpassungen« oder »Umschichtungen«. Die Bildungsausgaben sollen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 4,9 auf 3,9 Prozent sinken. Im Durchschnitt der 34 OECD-Länder sind es derzeit 5,9 Prozent. Dabei liegt die Schulabbrecherquote in Spanien schon jetzt etwa doppelt so hoch wie im europäischen Durchschnitt. Besonders betroffen werden Aushilfslehrer sein, von denen bis zu 40 000 im Winterhalbjahr keine Anstellung mehr finden dürften.

Geschätzt wird, dass insgesamt etwa 100 000 Stellen im Bildungssektor gestrichen werden; schon jetzt gibt es in Spanien 5,6 Millionen Arbeitslose. Zukünftig sollen in den Klassen statt 25 nun 30 Schüler unterrichtet werden und in Ausnahmefällen sogar noch mehr. Außerdem wird mehr Unterricht ausfallen, weil Ersatzlehrer erst später als bisher eingesetzt werden. Auch Dozenten sollen deutlich mehr Stunden unterrichten.

Die Regionen, die für den Bildungssektor zuständig sind, können die Studiengebühren zudem um bis zu 66 Prozent anheben. Sergio Rueda hat schon im vergangenen Semester 1600 Euro an der Universität König Juan Carlos in Madrid bezahlt. Er weiß wie viele seiner Kommilitonen nicht, was nun auf ihn zukommt und wie er noch höhere Gebühren aufbringen soll. Etliche Studenten erwarten, dass sie das Studium abbrechen müssen. Sie kritisieren, die Konservativen zielten darauf ab, dass nur noch Reiche ihren Kindern eine Hochschulausbildung finanzieren können.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 24. Mai 2012


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