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Wohin mit der Wut?

Den Demonstranten auf der Plaça Catalunya in Barcelona ist klar, daß sich etwas ändern muß. Nur was, wissen sie nicht

Von Tamara Keuer *

Auf der Plaça Catalunya, dem zentralen Protestort Barcelonas, herrscht überraschende Ordnung. Der Form des Platzes wegen bilden Stände einen Kreis um das durch Pavillons und Planen vor Regen und Sonne geschützte Camp. Menschen aller Altersgruppen und Nationalitäten, Touristen und Einheimische, Sympathisanten, wenige Skeptiker und viele Neugierige schlendern in der knallenden Sonne durch das mit Tausenden bunten Protestplakaten geschmückte »Dorf«. Denn außer den Kommissionen, dem Herzstück der Bewegung, ist man stets um Selbstversorgung bemüht: An der kostenlosen Essensvergabe reiht sich ein knurrender Magen an den nächsten, während ein paar Meter weiter Kinder mit Bauklötzen und Farbe spielen, Rollstuhlfahrer zwei Rampen hoch- und runterheizen oder Sportsgeister für Strom auf der Stelle radeln. Andere graben die spärlichen Grünflächen am Rande des Platzes um, malen neue Plakate, fegen, handwerkeln, debattieren. Konzerte und Komikerauftritte ergänzen den Alltag auf dem Platz um die kulturelle Komponente. Alles wirkt außerordentlich gut organisiert, die Stimmung ist friedlich und ausgelassen.

»Das ist doch alles nur eine Fete«, kritisert der 40jährige Juan aus Málaga genervt, der mit dem politischen Gedanken der Bewegung eigentlich sympathisiert und selbst empört ist. In Málaga habe er bisher an einer Demonstration mit etwa 10000 Protestierenden teilgenommen, sehe aber keinen Sinn in der bloßen »Besetzung« eines öffentlichen Platzes. Was Juan sich bisher hat entgehen lassen: die allabendlich stattfindenden Versammlungen.

Flatternde Hände

Während tagsüber vor allem junge Menschen aktiv sind, füllt sich der Platz abends mit Empörten jeder Altersgruppe. Wie auch bei der Organisation des Camps leben die Protestler bei der öffentlichen Veranstaltung die »echte Demokratie jetzt« konsequent (vor), die nach wie vor Hauptforderung der Bewegung ist. Zunächst tragen die Kommissionen ihre Arbeitsergebnisse vor, danach beginnt die offizielle Debatte über neue, sowohl inhaltliche als auch organisatorische Vorschläge. Die basisdemokratische Abstimmung geschieht mit Handzeichen: Flatternde Hände symbolisieren »einverstanden«, kreisende Arme »du wiederholst dich/was du gerade erzählst, interessiert mich nicht«, überkreuzte Arme »dagegen«. Zu jedem Zeitpunkt hat jeder Bürger die Gelegenheit, selbst ans Mikrofon zu treten, um seine Meinung zu äußern. Selten lassen sich überkreuzte Arme erblicken, und viele Skeptiker im Inneren, wie Juan einer ist, konnten durch den Besuch der öffentlichen Debatten ihre Zweifel abwerfen.

Der 27. Mai

Was die Bewegung 15-M, deren Name auf spontane Demonstrationen in knapp 50 Städten Mitte Mai anspielt, immer wieder nachdrücklich betont: Es handelt sich um einen friedlichen Protest, und nicht selten fällt unter den Empörten der Vergleich mit der 68er Bewegung. Ein erstes Ohnmachtsgefühl macht sich allerdings dann breit, wenn so etwas passiert wie am Freitag vergangener Woche in Barcelona.

Der 27. Mai: Es ist 11 Uhr. Mehrere tausend Menschen haben sich um den Plaça Catalunya versammelt. Es herrscht Aufregung, denn das Protest-Dorf ist umstellt. Heute morgen zwischen sechs und sieben Uhr hat die Polizei ohne vorherige Ankündigung das Gelände weitgehend eingekesselt. Bei der katalanischen Polizei handelt es sich um die Mossos d’Esquadra. Seit der Franco-Diktatur hat sich an ihrer Struktur kaum etwas verändert hat. Wegen Folter und Mißhandlungen sind sie seither massiver Kritik ausgesetzt.

Nach und nach schieben sich Reinigungswagen auf den Platz, die offizielle Begründung für den Protestabbruch ist nämlich: Es müsse gereinigt, und gefährliche Gegenstände müßten entfernt werden. Doch die beauftragte Reinigungsfirma widmet sich nicht nur dem ohnehin bereits recht sauberen Boden und leeren Mülleimern. Sie beseitigt Kühlboxen, Matten, Holzpaletten – fast das komplette, mühsam errichtete Camp wird in seine Kleinteile zerlegt. Während die Protestierenden auf dem Platz vergeblich versuchen, die Wagen aufzuhalten, wachsen die Wut und auch die Anzahl der Protestler außerhalb des Platzes drastisch. Die Polizei ist mit Hubschraubern, Schlagstöcken und Gummigeschossen ausgestattet.

»Es ist Krieg«

Durch die Schußgeräusche zwingt sich der Gedanke »Es ist Krieg« auf. Obwohl die Demonstrantenseite ihren Prinzipien treu bleibt und somit keine Steine fliegen, haut die Polizei drauf, sobald der Versuch unternommen wird, die Blockaden zu durchbrechen. Unter den Opfern sind auch schmächtige Frauen und Männer, selbst ein Rollstuhlfahrer bleibt von der rohen Gewalt der Staatsmacht nicht verschont. Wo am Anfang noch Tausende gesessen haben, stehen sie jetzt schimpfend vor der von der Polizei markierten Grenze. Nach und nach gelingt es jedoch immer mehr Demonstranten, die Blockade zu überwinden, bis der Platz schließlich wieder ganz den 15000 gehört. Die Menschen jubeln, feiern, weinen, liegen sich in den Armen, während es weiterhin zu Ausschreitungen kommt. Ein Migrant aus Namibia steht unter Schock: »Was hier falsch läuft? Ich habe vor meinem eigenen Auge gesehen, wie eine schwangere Frau zusammengeprügelt wird! In meinem Land würde es sowas nicht geben!« Im nachhinein besteht die Polizei darauf, es sei von vornherein vorgesehen gewesen, den Platz nach der Reinigung wieder freizugeben. Das Ergebnis des Mißverständnisses: Etwa 130 Verletzte, zwei davon schwer – und ein zerstörtes Camp.

Prompt packen viele mit an, um das Lager wieder einigermaßen zu rekonstruieren. Bis in die Nacht bleiben mehr Menschen als üblich hier, ein Teil des Verkehrs, der normalerweise um die Plaça Catalunya läuft, muß sogar umgeleitet werden. Die Stimmung beginnt sich zu beruhigen, obwohl der heutige Tag den meisten noch quer im Magen liegt. Die Versammlung macht wieder Mut, stellt die Kritik am Partycharakter zwar nicht auf lautlos, aber auf leise.

Am selben Abend ruft eine junge Frau etwa 40 Camper zusammen, um mit zum Krankenhaus zu kommen und sich mit einem schwerverletzten Compañero zu solidarisieren. Die Krankenschwestern vor Ort tragen an ihren Kitteln einen »Empört euch«-Aufkleber. Sie äußern ihre Sympathie für die Bewegung, müssen sich aus Respekt vor der Familie mit näheren Informationen aber zurückhalten. Immer wieder – auch über diesen Tag hinweg – wird augenscheinlich, was vielen Spaniern klar ist: Es muß sich etwas ändern. Nur was?

Die Ursachenforschung

Doch es ist leider wahr: Die Ursachenforschung wird weitgehend ignoriert. Vielen ist unterschwellig klar, daß die Gefahr von Spaltungen besteht, es ist die Angst, die Masse und somit die Kraft zu verlieren.

Als Hauptverantwortliche für die jetzige Situation in Spanien werden vor allem Politiker gesehen – ein Mißtrauensvotum, für das insbesondere etliche Korruptions­affären gesorgt haben. So richten sich die ersten Forderungen vor allem an die Real­politik: »Jetzt hört uns doch mal zu!« Die repräsentative Demokratie als solche wird nur von wenigen in Frage gestellt, für die meisten soll sie nur anders, in erster Linie volksnäher funktionieren. Das »Warum ist es so, wie es ist?«, egal welche potentielle Antwort darauf gegeben wird, wird von der Mehrheit auch deshalb totgeschwiegen, weil sich die Bewegung ausdrücklich von Ideologien fernhalten möchte. Ein Hinterfragen wird von einigen bereits als solche angesehen.

Statt dessen werden konkretere Vorschläge geäußert und Unterschriften für Volksinitativen gesammelt. Die Bewegung bleibt von ihrer Stärke von unten überzeugt – zumindest in Barcelona.

Das Interesse in Málaga nimmt inzwischen hingegen ab. Ziele und Stärke der Bewegung sind im ganzen Land dann doch zu unterschiedlich. Der Motor der Organisation, die Kommissionen, kommt nicht in die Gänge. Málaga steckt im Gegensatz zum außerordentlich gut organisierten Barcelona und Madrid, wo die Versammlungen nicht mehr nur zentral, sondern über einige Stadtteile verteilt stattfinden, noch in den Kinderschuhen. Dort wird mehr um die bloße Aufrechterhaltung gekämpft als sich mit den grundlegenden Dingen befaßt. Die unterschiedlichen Interessen der Orte werden allein durch die Beobachtung deutlich, daß eine der wenigen existenten Kommissionen in Málaga aus gewerkschaftlich organisierten Arbeitern besteht und einen Generalstreik anpeilt. Eine Forderung, die in Barcelona trotz ansonsten beeindruckendem Angebot nicht auftaucht.

Inzwischen schwappt die spanische Revolution auf andere Länder Europas über. Zunächst als Solidaritätskundgebungen spanischer Immigranten gedacht, soll nun versucht werden, die Bewegung aufs eigene Land zu übertragen. Was in Paris trotz der Räumung des Protestcamps am Sonntag erste Züge annimmt, schleift in Deutschland hinterher: Hier zeigt sich nur geringes Interesse, und noch immer bilden die Spanier bei den wenigen Treffen die Mehrheit.

Zukunft ungewiß

Die Aufforderung »Empört Euch!«, die den Ursprung und vielleicht auch den Kern der Organisation darstellt, stammt aus dem gleichnamigen Essay des 93jährigen, ehemaligen französischen Widerstandskämpfers und KZ-Überlebenden Stéphane Hessel, veröffentlicht im Oktober 2010. Voll brennender Wut äußert er sich in seiner Abhandlung gegen den Finanzkapitalismus und unterstreicht seine Einstellung zum Pazifismus. Er sieht eine Gefährdung des Sozialstaats und der Menschenrechte und versucht, für die Aufrechterhaltung moralischer Werte zu mobilisieren. Auch er beschreibt konkret einen Ist-Zustand bzw. welche Dinge falsch laufen, empört sich außerdem über die israelische Politik, untersucht aber weder hier noch da gezielt die Ursachen. Durch friedlichen, zivilen Ungehorsam soll eine Änderung herbeigeführt werden, der immer ein moralisches Bewußtsein vorausgeht. Die Rezeption ist kritisch. Die Abschlußworte des Essays lauten: »Neues schaffen heißt Widerstand leisten! Widerstand leisten heißt Neues schaffen!«

Die Zukunft der Bewegung 15-M läßt sich schwer einschätzen. Es gibt genug Ansatzpunkte, warum auch diese Protestbewegung, wie zum Beispiel die Studentenproteste 2009 in Deutschland, nur ein vorübergehender Aufschrei ist. Auf der anderen Seite ist die grundlegende Empörung in weiten Teilen der Bevölkerung tatsächlich zu spüren, und der Protest ist, zumindest in den größeren Städten, so gut organisiert, daß ein plötzliches Verschwinden nicht vorstellbar ist. Nur woher es kommt – und wo die Grenzen dieses Protestgedankens liegen – darüber will sich offenbar – noch – niemand Gedanken machen.

* Aus: junge Welt, 4. Juni 2011


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