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Enttäuscht, aber nicht resigniert

In Spanien bildet sich eine außerparlamentarische Opposition heraus

Von Ralf Streck *

Ein Hauch revolutionärer Stimmung ist derzeit in Spanien spürbar, seit die »Empörten« am 15. Mai mit großen Demonstrationen in mehr als 50 Städten aufgetaucht sind. Seit mehr als zwei Wochen trotzen Tausende mit Protestcamps in vielen Städten allen Versuchen, die Menschen »ohne Job, ohne Wohnung, ohne Pension und ohne Angst« zum Schweigen zu bringen. Sie geben damit dem geballten Unmut im Land eine kollektive Stimme. Die Bewegung, die sich in den letzten Wochen entwickelt hat, steht außerhalb von Parteien und Gewerkschaften. Der Glaube an ein System, in dem sich die beiden großen Parteien jeweils an der Macht abwechseln, zerbricht.

Die Platzbesetzungen wirken dabei als Katalysator im Bewusstwerdungsprozess. Die Staatsmacht unterstützt ihn sogar unfreiwillig. Zunächst mit den Räumungen in Madrid und Granada zu Beginn und nun am vergangenen Freitag, als versucht wurde, die Protestcamps im katalanischen Barcelona und Lerida mit Gewalt zu räumen. Das war für viele das untrügliche Zeichen, wie notwendig Veränderungen sind. Die Bilder, als Polizisten mit Knüppeln und Gummigeschossen auf friedliche, unbewaffnete am Boden sitzende Menschen losgingen, erschreckten, verängstigten aber nicht.

Mit jedem Angriff konnten die Empörten in neue Bevölkerungsschichten vordringen. Die versuchte Räumung in Barcelona verschaffte ihr eine neue Dynamik, erklärt der Platzbesetzer Manel. »Eigentlich war geplant, das Camp freiwillig zu räumen.« Doch nachdem Tausende aus der ganzen Stadt zum Platz strömten und die Räumung verhinderten, entschied eine riesige Vollversammlung, auch das Camp in Barcelona weiterzuführen. Die Empörten erobern nun weitere Stadtteile, unterstützen Initiativen der Bewohner und verhindern zum Beispiel Zwangsräumungen.

Die Bewegung verfügt nach eigenem Bekunden über keine Alternativen und debattiert erst über Möglichkeiten, wie eine »wahre Demokratie« und ein vernünftiges ökonomisches System erreicht werden können. Sie zeigt in ihrer Praxis und mit der strengen Basisdemokratie schon eine neue Richtung an. Die stellen sie der Politik der beiden großen Parteien entgegen, die die immer gleiche Politik stets als »alternativlos« verkaufen.

Nach den ersten Demonstrationen wollten viele ihren Unmut nicht zurück in die Vereinzelung tragen. In den Protestcamps kommt das Bedürfnis zum Ausdruck, das eigene Schicksal außerhalb bestehender Institutionen, Parteien und Gewerkschaften in die Hände nehmen zu wollen. Es ist kein Zufall, dass die Bewegung jetzt entstanden ist. Denn im Frühjahr ging vielen die letzte Hoffnung verloren, als sich die beiden großen Gewerkschaften erneut auf den »Sozialpakt« einließen. Nach dem Scheitern der Verhandlungen hatten Arbeiterkommissionen (CC.OO.) und Arbeiterunion (UGT) auf massiven Druck der Basis und der Vereinten Linken (IU) noch zum Generalstreik gegen eine Arbeitsmarktreform geblasen, die den Kündigungsschutz praktisch beseitigt hat. Der Streik diente aber nicht dazu, den Kampf gegen die gravierenden Einschnitte aufzunehmen, sondern die Basis sollte Dampf ablassen können. CC.OO. und UGT arrangierten sich schnell und nickten im Februar kampflos die Rentenkürzung ab. Sie ist als Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 und Ausweitung des Berechnungszeitraums getarnt. Angesichts von 21 Prozent Arbeitslosigkeit – fast jeder zweite junge Mensch ist ohne Job – ist das kaum vermittelbar.

So muss auf Plätzen angeprangert werden, dass die Reichen und Mächtigen, die für die Krise verantwortlich sind, sich über sie neue Vorteile verschaffen und die Kosten ihren Opfern aufbürden: Löhne werden gesenkt, Renten eingefroren und Sozialleistungen gestrichen, mit dem Plazet der Gewerkschaften. Auch sie werden nun denen zugeordnet, die ihre Vormachtsstellung zum Machterhalt nutzen und um kleinere Organisationen an den Rand zu drängen. Wie Politiker kümmerten auch sie sich nur um eigene Interessen, Pöstchen und Pensionen, anstatt die Rechte der einfachen Bevölkerung zu verteidigen. »Selber aktiv zu werden, blieb damit als einzige Alternative.« Das, so glaubt Manel, sei der Grund für den Erfolg.

* Aus: Neues Deutschland, 1. Juni 2011


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