Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Was wird aus Jugoslawien nach Milosevic?

Ein Land unter Einfluss - Abweichende Meinungen

Es ist schwer, verlässliche Hintergrundberichte über die Wahlen in Jugoslawien und die darauf folgenden Auseinandersetzungen zwischen altem Regime und Opposition zu erhalten. Die meisten Berichte in den großen Zeitungen ergehen sich in triumphalistischen Hymnen an die geglückte friedliche "Revolution", die es angesichts des zum Hitler des Balkans stilisierten, und nun fast über Nacht abgesetzten Milosevic eigentlich gar nicht hätte geben dürfen. Hin und wieder mischt sich in die Kommentare noch die Sorge um die Verlässlichkeit Kostunicas: Ist er wirklich der Mann des Westens? Ist sein serbischer Nationalismus - den er genauso pflegt wie sein Widersacher Milosevic - EU-kompatibel? Und ist eine "Wiederkehr" des "Bösen" in Gestalt Milosevics für alle Zeiten ausgeschlossen? Das sind die Fragen und Probleme der NATO-Kriegsallianz von 1999, die sich in die inneren Verhältnisse Jugoslawiens vor und nach den Wahlen in einer Weise eingemischt haben, dass es schon nicht mehr schön ist. Bundesaußenminister Fischer nennt das "präventive Konfliktprävention".

Aber auch eine friedenspolitische Einschätzung fällt schwer: Was bedeutet das Zurückweichen Milosevics vor dem Ansturm der sich politisch artikulierenden Bevölkerung für die realen innnenpolitischen Machtverhältnisse? Was bedeutet der sich vollziehende Regierungswechsel für die Außenbeziehungen Jugoslawiens? Welche Perspektiven eröffnen sich für den Zusammenhalt Restjugoslawiens (also einschließlich Montenegros und - vor allem - einschließlich des Kosovo)? Folgt der politischen West-Öffnung Jugoslawiens auch eine militärische West-Bindung?

Im folgenden dokumentieren wir zwei aktuelle Einschätzungen, die deutlich gegen den Strich der herrschenden Berichterstattung bürsten. Nicht zufällig stammen sie aus der ständig um ihr Überleben kämpfenden linken Tageszeitung "junge welt", die sich schon während des NATO-Kriegs gegen Jugoslawien im Frühjahr 1999 als willkommene Quelle alternativer Informationen aus dem Kriegsgebiet erwiesen hat und in Kreisen der Friedensbewegung stark nachgefragt wurde. Das Interview mit Markovic ist vor allem auch deshalb interessant, weil es einen Einblick in die gar nicht so einheitlichen und angeblich ausschließlich "diktatorisch bevormundeten" politischen Kräfte des alten Regierungslagers erlaubt.


Neue Serbophilie und alte Serbophobie

Der Milosevic-Block ist an seinen eigenen Widersprüchen zerbrochen, der Kostunica-Block zerbricht jetzt schon.
Von Werner Pirker

Das politische Lager um Slobodan Milosevic und Mira Markovic erodiert. Es hat dem äußeren und inneren Druck letztendlich nicht mehr standhalten können. Als unschlagbar erwies sich die Kombination aus NATO-Drohungen und Kostunica, der, obwohl Favorit der NATO, die Hoffnungen vieler seiner Landsleute verkörperte, daß die Zeit der Demütigung Serbiens zu Ende geht. Genau das hatte Milosevic in seiner Rede zum 600. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld versprochen. Daß er dieses Versprechen nicht halten konnte, hat ihn nun die Macht gekostet. Vergessen war, daß aus dem NATO-Krieg die Serben nicht als gedemütigte Verlierer, sondern als moralische Sieger hervorgegangen waren. Den Sieg in der Niederlage erzielen, auch das hat Milosevic auf dem Amselfeld gesagt. Es nützte nichts: Kostunica war der Schatten, der »Slobo«, den serbischen Volkshelden von 1989, eingeholt hat. »Niemand darf euch schlagen«, sagte Milosevic damals. Im September 2000 glaubten die Geschlagenen einem anderen. Auch der wird sein Versprechen nicht halten können. Mit der NATO nicht und auch nicht gegen die NATO. Als Garant der Pax Americana setzt sich Zoran Djindjic bereits kräftig in Szene. Was verblüffte, war die Würdelosigkeit des Abgangs des bisher herrschenden Blocks, der jahrelang allen Angriffen standgehalten und bei der Organisierung des Volkswiderstandes gegen die NATO-Aggression eines der ruhmreichsten Kapitel in der serbischen Geschichte geschrieben hat. Das beweist, daß das Pro-Milosevic-Lager auch an seinen inneren Widersprüchen gescheitert ist. Die regierenden Sozialisten hatten keinen Rückhalt in der werktätigen Bevölkerung mehr, weil sie mehr regierten, als Sozialisten zu sein. Wenn die Wiener Zeitung Die Presse gedankenlos daherschreibt, mit Jugoslawien sei die letzte kommunistische Bastion in Europa untergegangen, dann ignoriert sie schlicht die Tatsache, daß die Transformation zu Marktwirtschaft und bürgerlicher Demokratie in der Ära Milosevic ihren Anfang nahm. Es ist von kaum zu überbietender Ironie, daß der kapitalistische Westen diesen Prozeß durch seine Embargopolitik mehr behindert als befördert hat. Es ist eine ungeklärte Frage, ob sich Jugoslawien aus eigenem Antrieb der neoliberalen Globalisierung verweigert hat oder ob es dazu gezwungen wurde.

Die marktwirtschaftliche Transformation ist immer eine unappetitliche Angelegenheit - erst recht unter kriegsökonomischen Bedingungen. Die Flucht des Milosevic- Sprößlings Marko sagt einiges über die heruntergekommene Moral der jugoslawischen Marktwirtschaftsnomenklatura aus. Doch während die Sieger über den Kommunismus anderswo Bereicherungsorgien als marktwirtschaftliche Bravourleistungen zu feiern wissen, galt sie im jugoslawischen Fall als übelstes Verbrechen. Und der Korrupteste unter den Korrupten hat Slobodan Milosevic zu sein. Kann gut sein, daß man ihn auch wegen Wirtschaftskriminalität unter Anklage stellt. Es wäre schon von beispielloser Charakterlosigkeit, würde Kostunica dem Wunsch seiner ausländischen Wahlhelfer nach Auslieferung seines Amtsvorgängers nachkommen. Denn der Vorwurf des Kriegsverbrechens bezieht sich auf die serbische Position generell. Und Kostunica war keineswegs des Geistes Kind, das an den »kriegsverbrecherischen Handlungen« der »serbischen Soldateska« Anstoß nahm, ganz im Gegenteil. Er wollte die »serbische Sache« entschiedener und härter vertreten wissen und kritisierte die Milosevic-Politik als zu lasch und kapitulantenhaft. Das Friedensabkommen von Dayton, dessen wichtigster Akteur - neben Holbrooke - Slobodan Milosevic hieß, hat Kostunica bis heute nicht anerkannt. Und auch das Holbrooke-Milosevic-Abkommen vom Dezember 1998, das einen einseitigen Verzicht der jugoslawischen Armee im Kosovo beinhaltete, was den UCK- Terror aufs neue anwachsen ließ, fand in ihm den schärfsten Kritiker. Zu Recht, denn damit hatte Jugoslawien die Internationalisierung des Kosovo-Konflikts akzeptiert, die über Rambouillet direkt zum Luftkrieg gegen Jugoslawien führte. Charakterisiert man Vojislav Kostunica als liberalen Nationalisten, ergibt sich die Frage nach dem Spielraum, den er als Nationalist hat. Die ihm von den Sponsoren der »Demokratisierung Jugoslawiens« zugedachte Hauptaufgabe liegt sicher im neoliberalen Umbau des Landes, dem sich die bisher herrschende Koalition verweigert hatte. Gelingt ihm dies, wird ihm das Festhalten am »serbischen Mythos« nicht weiter übelgenommen werden. Denn was daran störte, war der serbische Sonderweg, das Beharren auf Blockfreiheit und damit die Nichtakzeptanz der imperialistischen Globalisierung. Zur Überwindung dieser Politik ist der Liberale in Kostunica gefordert.

Noch schwelgt die westliche Meinungsmache in serbophiler Begeisterung über die »friedliche Revolution« der Serben, die aus eigener Kraft die Despotie besiegt haben. Gleichzeitig sucht die westliche Aggressionsgemeinschaft nach Selbstbestätigung, will sie im Wahlverhalten der serbischen Bevölkerung den Beweis für die Richtigkeit und moralische Berechtigung des Interventionismus sehen. Die NATO läßt sich ihren Sieg vom serbischen Volk nicht streitig machen. Denn ohne Bomben, hört und liest man, wären die Serben nie zur Besinnung gekommen. Diese zweite, serbophobe Tendenz in der medialen Aufbereitung beruht auch weiterhin auf der Ansicht, daß Milosevic nur der extreme Ausdruck, nicht aber die Ursache des Problems sei. Das Problem seien die Serben selbst, die mit ihren Mythen die ganze Welt schikanieren. Kaum zum Präsidenten ernannt, sieht sich Kostunica bereits mit den Forderungen der antiserbischen Allianz konfrontiert. Der Tenor lautet, daß Serbien nur dann ein demokratisiertes Serbien sei, wenn das Kosovo unter internationaler Kontrolle bleibt. Das Kosovo-Problem sei nicht im serbischen, sondern im Rahmen der jugoslawischen Föderation zu lösen, verlautet es zum Beispiel aus dem österreichischen Außenministerium, wo man es ganz besonders nötig hat, sich für die EU-Sanktionen an einem anderen Sanktionsopfer zu rächen. Diese Forderung läuft praktisch auf die Schaffung einer dritten jugoslawischen Republik hinaus. Löst sich Jugoslawien aber infolge der montenegrinischen Sezession in seine nationalen Bestandteile auf, hätte dies automatisch die Loslösung des Kosovos zur Folge.

Für Kostunica müßte die Forderung nach Jugoslawisierung der serbischen Frage schon allein deshalb unerträglich sein, weil er eines ganz gewiß nicht ist: ein Jugoslawist. Als bekennender serbischer Nationalist geht es ihm um die Sammlung der serbischen Länder, einschließlich Montenegros, und nicht um die Aufrechterhaltung eines antinationalen Gebildes, für das Kostunica Jugoslawien immer gehalten hat. Schließlich kommt er aus dem Dunstkreis der Verfasser des Manifestes der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste, in dem Titos Jugoslawien als Schöpfung einer antiserbischen Verschwörung der Komintern bezeichnet wurde. Dieses Manifest wurde von der westlichen Medieneinfalt gern als ideologische Grundlage der großserbischen Milosevic-Politik hingestellt. Für Kostunica aber hat Milosevic Serbien an seine jugoslawistisch gesinnte Gattin verkauft.

Wenn der neue jugoslawische Präsident seine neoliberalen Hausaufgaben löst, wird er auch ein wenig auf die serbische Pauke hauen dürfen. Längerfristig wird der Widerspruch zwischen Liberalismus und Nationalismus nicht lösbar sein. Neoliberale Transformation in Jugoslawien bedeutet nationale Unterwerfung, Ausverkauf der Reichtümer des Landes zum Preis einer jugoslawischen Fußballnationalmannschaft und die Verbannung großer Teile der Bevölkerung in Bereiche unterhalb der Armutsgrenze. Mag auch Zukunftshoffnung die jugoslawische Gegenwart beherrschen - Nostalgie wird es sein, die die Zukunft bestimmt.
Aus: junge Welt, 14.10.2000

»Milosevic fehlte das richtige Gespür für die Korruption«

jW-Gespräch mit Mihailo Markovic über das Scheitern der Sozialistischen Partei Serbiens und die neuen Aufgaben der Linkskräfte in Jugoslawien

(Prof. Mihailo Markovic ist Mitglied der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Vordenker der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS). Markovic war Mitarbeiter der marxistischen Praxis-Gruppe und bis Herbst 1995 Vize-Chef der SPS)

F: Nach den Wahlen in Jugoslawien am 24. September hat am 5. Oktober gewissermaßen ein »Staatsstreich« der »Demokratischen Opposition Serbiens (DOS)« auf den Straßen Belgrads stattgefunden. Andere nennen es eher »samtene Revolution«. Wie würden Sie das, was geschah, beschreiben?

Der 5. Oktober begann als eine der »Rebellionen«, wie wir sie schon erleben konnten, angefangen mit dem 9. März 1991. Danach gab es verschiedene Versuche auf der Straße, das Regime einzuschüchtern, es zurückzudrängen, vielleicht in staatliche Institutionen einzudringen und sie mit Gewalt zu übernehmen - wie es anderswo in Ländern Osteuropas der Fall war. Natürlich war dieser Protest des 5. Oktober nicht nur der »friedliche« Ausdruck zivilen Ungehorsams, und er war nicht einmal als solcher geplant, gleich was seine Organisatoren sagen. Dabei gab es viel Gewalt, einige Menschen wurden getötet und etwa hundert verletzt; der materielle Schaden war beträchtlich. All dies zeigt klar und deutlich, daß es eine Konterrevolution war und keineswegs diese »Samtheit«, von der einige jetzt sprechen. Nach meiner Definition ist Revolution ein sozialer Gewaltstreich, eine soziale Umwälzung, die zu einer höheren, fortschrittlicheren Form der Gesellschaft führt. Wenn das nicht der Fall ist, sprechen wir von Konterrevolution. Slobodan Milosevic hätte die Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen sogleich eingestehen sollen, dann wäre der Schaden geringer gewesen. Aber nach einer Reihe von Fehlern machte er einen weiteren und entschied sich, die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen vom 24. September nicht anzuerkennen. Als schließlich eine große Protestwelle ausgelöst wurde, als DOS am 5. Oktober das Volk zu Massendemonstrationen in die jugoslawische Hauptstadt rief, war die Zahl der versammelten Menschen nicht einmal mehr entscheidend, weil Milosevic inzwischen schon entschieden hatte, zu kapitulieren. Die Armee reagierte nicht, die Polizei leistete mehr oder weniger symbolischen Widerstand, und die Macht wurde einfach übergeben.

F: Welche Faktoren führten dazu, dem zehn Jahre andauernden serbischen Widerstand unter Slobodan Milosevic ein Ende setzten? Warum passierte dies nicht schon früher?

Hier in Serbien kam das »Übergangs«szenario lange Zeit nicht zum Zuge, und zwar aus verschiedenen Gründen. Einer dieser Gründe ist, daß in Serbien bereits einige notwendige Reformen durchgeführt worden waren. Im Jahre 1989 hatten wir Reformen sowohl des politischen als auch des wirtschaftlichen Systems. So war das, was in den osteuropäischen Ländern später geändert wurde, in Jugoslawien bereits reformiert und geändert worden, aber dabei waren die Regierungen (der Föderation und der Teilrepubliken/d.Red.) fest in Händen sozialistischer Kräfte. Im übrigen ist die serbische Nation sehr widerstandsfähig, wenn der Versuch gemacht wird, ihr Lösungen von außen aufzuzwingen, und sie widerstand fest und lange Zeit den Versuchen reaktionärer Kreise im Westen, hier eine sogenannte »Transformation«, das heißt den Übergang zum Kapitalismus mit »Schocktherapien« und all den anderen für die Bevölkerung und die Gesellschaft katastrophalen Folgen, durchzusetzen. So existierte also eine Art Bewußtsein von all dem, und daher der Widerstand. Nichtsdestoweniger bewirkte eine Kombination bestimmter Faktoren in den letzten zehn Jahren eine allmähliche Veränderung dieser Haltung: Der erste ganz entscheidende Faktor war der enorme Druck der USA, des Westens, der direkt in unsere inneren Angelegenheiten eingriff, Anweisungen an die Oppositionsführer gab und 70 bis 100 Millionen Dollar allein für diese letzten jugoslawischen Wahlen einsetzte. Andererseits erfolgte eine Schwächung gerade innerhalb der Regierung und eine gewisse Demoralisierung von Kadern der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS). Was aber das Schlimmste war: Die Bevölkerung, die unter schwierigsten materiellen Bedingungen, ja geradezu in Armut lebte, konnte dies nicht länger ertragen. Daher schließlich dieses Motto »Veränderungen« um jeden Preis, selbst wenn es hieß, daß diese Veränderungen auch Veränderungen zum Schlechteren sein könnten - und es auch werden. Dies alles führte die Wahlniederlage der Linken herbei, keine totale Niederlage natürlich; denn im Bundesparlament hat die Koalition der linken Kräfte immer noch die Mehrheit; aber auf der kommunalen Ebene war die Niederlage tatsächlich total und natürlich auch auf der Ebene der Präsidentschaftswahlen.

F: Sie erwähnten die »inneren Schwächen« und die »Demoralisierung« in der SPS. Wie weit hat die jugoslawische Regierung, unabhängig von dem ausländischen Faktor, der offenkundig ist, selbst zu ihrem Niedergang in diesen Wahlen beigetragen?

In der Sozialistischen Partei, die der Träger der Verteidigung grundlegender sozialistischer Werte war, gab es ein gewisses Maß an innerer Demokratisierung, und die Moral war ebenfalls auf einer gewissen Höhe. Selbst heute gibt es natürlich eine große Zahl von sozialistischen Funktionsträgern, die ehrlich und unbestechlich geblieben sind, die ihre linke Orientierung nicht aufgegeben haben. Aber die Situation veränderte sich allmählich durch den Umstand, daß eine innere Erosion stattfand. In erster Linie hatte Slobodan Milosevic selbst nicht das richtige Gespür für das Phänomen der Korruption. Auch wenn er selbst bis zum Ende durch und durch ehrlich blieb, so war er doch in seiner eigenen Familie nicht prinzipienfest genug, gegen das Verhalten seines Sohnes und seiner Frau Mirjana Markovic Sanktionen zu ergreifen; und all dies hatte einen wirklich schädlichen Einfluß auf die Gesellschaft, die Anhänger, die Mitglieder und Verantwortlichen der Sozialistischen Partei selbst. Dies spielte bei der inneren Erosion eine große Rolle. Und die Bildung der Jugoslawischen Linken (JUL) spielte eine verheerenden Rolle. Die JUL stellt sich als eine linke Partei dar, aber nach dem formlosen Eingeständnis von Milosevic selbst, wurde diese »linke« Partei unter den Bedingungen der Sanktionen und der Blockade gebildet. Um diese Blockade zu durchbrechen, mußte die jugoslawische Regierung einige Formen der Schattenwirtschaft dulden. Einige Privateigentümer hatten an Funktionäre der Europäischen Union und der NATO Bestechungsgelder zu zahlen. Dadurch gelang es uns, an Öl, Benzin und all das übrige zu kommen. Aber diese Privateigentümer kamen durch die Schattenwirtschaft zu einigem Vermögen. Auf Grund der Überlegung, daß diese Leute, die nun in der Tat zu Kapitalisten wurden, wirklich Gegner der Sozialisten sein werden, befand Milosevic, daß es gut wäre, einen Weg zu finden, sie zu Alliierten zu machen. Dies zu der Frage, wie die JUL schließlich zustande kam und Milosevics Frau deren Führung übernahm. Im Grunde genommen war dies eine schlechte Idee und, wie verlockend sie auch im ersten Augenblick erschien, auf die Dauer waren ihre Folgen übel, wie man sehen kann. Diese Leute waren in dieser sogenannten linken Partei, um sich weiter zu bereichern und vielleicht obendrein noch eine politische Position zu erlangen, in der sie ihr Kapital schützen konnten. Natürlich hatte das auf die Sozialistische Partei einen sehr demoralisierenden Einfluß. Und dann veranlaßte Milosevic auch noch die Sozialisten, die JUL überall zu fördern, eine Koalition mit ihr einzugehen und bei Wahlen den Vertretern der JUL eine große Zahl von Sitzen zu geben. Jahrelang hat das zu wachsendem Unmut unter Funktionären der Sozialistischen Partei geführt. F: Sie sind einer der Vordenker der SPS. Inwieweit hat der Nationalismus und sein Niederschlag im Programm der Sozialistischen Partei zum Niedergang der Linken geführt? »Serbischer Nationalismus«, Nationalismus als solcher und selbst Patriotismus werden oft mit Chauvinismus verwechselt. Das ist ein grob fehlerhaftes Denken. Nationalismus? Ich habe eine kritische Einstellung zum Nationalismus in dem Sinne, daß Nationalismus immer eine einseitige Auffassung eines Problems bedeutet, wobei nur die nationale Dimension gesehen wird. So wird alles im Licht nationaler Beziehungen, nationaler Interessen gesehen. Dazu verhalte ich mich kritisch. Aber selbst dabei haben Sie zwei Arten von Nationalismus. Sie haben den »verträglichen« Nationalismus, der, wie gesagt, eben nur in seiner Einseitigkeit besteht. Aber Chauvinismus, den ich den »bösartigen« Nationalismus nennen würde, ist etwas völlig anderes. Chauvinismus, das ist der Haß auf andere Nationen, das Nicht-Geltenlassen anderer Nationen - das ist etwas absolut Negatives. Leute, die nicht zwischen diesen beiden Arten von Nationalismus unterscheiden wollen oder können oder nicht einmal einen Unterschied zwischen Nationalismus und Patriotismus sehen, sind einfach nicht gebildet genug. Sie sehen die Problemstellungen unserer Zeit eben nicht in allen ihren Nuancen, sondern gehen oberflächlich an die Dinge heran. Sie sehen dort, wo Abstufungen von Grau sind, nur Schwarz und Weiß. Daher ist dies keine Frage von »Serbischem Nationalismus«, nicht einmal von einem verträglichen, sondern von serbischem Patriotismus. Patriotismus ist Liebe zu seinem eigenen Volk und zu seinem eigenen Land und ist vollkommen gerechtfertigt. Sie können nicht Internationalist sein, ohne Patriot zu sein; und wo Unrecht und Aggression geschieht, da haben sie ihr Land zu verteidigen, so wie Sie jedes andere Land auch verteidigen würden. Patriotismus ist etwas gänzlich Positives. Nationalismus kann in einigen rechten Parteien, z.B. in den Parteien von Seselj und Draskovic, vorhanden sein, aber im Fall der Sozialistischen Partei können wir nur von einem Patriotismus sprechen, der andere Nationen gelten läßt, aber gleichzeitig bereit ist, die Interessen der eigenen serbischen Nation zu verteidigen. Es ist gänzlich ungerechtfertigt zu behaupten, daß die SPS von irgendeiner Form von Nationalismus angesteckt sei; und Milosevic kann nicht als Nationalist bezeichnet werden. Seine berühmte Gazi-Mestan-Rede von 1989 war eine vollkommen antinationalistische Rede. Einige nennen sie nationalistisch, ohne sie gelesen zu haben. Oder das frühere Memorandum der Serbischen Akademie der Wissenschaften: Es wurde in der ganzen Welt als die Grundlage von Milosevics Politik angesehen und als ein nationalistisches Dokument bezeichnet, das zum Auseinanderfallen des ehemaligen Jugoslawien führte. Jeder, der wollte, konnte dieses Dokument lesen und feststellen, daß darin einzig und allein von der Gleichberechtigung der Nationen die Rede ist.

F: Der Philosoph Professor Dejan Pavlov Kreculj sagte unlängst gegenüber dieser Zeitung (siehe junge Welt vom 23./24.9.2000), die Septemberwahlen seien eine Entscheidung zwischen »Freiheit und Sklaverei«. Haben die Menschen in Serbien bewußt und bereitwillig für ihre eigene Sklaverei gestimmt?

Natürlich nicht! Es konnte einfach nicht länger mit dem Druck fertig werden, und zwar aus folgendem Grund. Das serbische Volk hat zehn Jahre lang sehr hartnäckig Widerstand geleistet. Und es hätte weiter widerstanden, wenn ausnahmslos alle die Folgen gleichermaßen getragen hätten. Aber die Menschen konnten Armut und Leiden nicht länger verkraften, derweil sie einige unter sich sahen, die reicher und reicher wurden und in Luxus lebten. Diese Diskrepanz zwischen dem Programm einer linken Partei und ihrer Praxis war zu groß. Darum wurden wir schließlich von DOS geschlagen. Und das ist keine Frage des »serbischem Nationalismus« oder der »Überlegenheit« der DOS. Aber die Leute, die sich für den »Wandel« eingesetzt haben und dafür in dem Glauben gestimmt haben, »schlimmer kann es nicht kommen, als es schon ist«, werden bald sehen: Es kann mit Sicherheit schlimmer kommen. Und wenn das serbische Volk die Gewißheit erlangt, daß es schlimmer kommen kann und wird, wenn es den Druck der Verschuldung fühlt, und wenn es schließlich sieht, wie wir eine Halbkolonie des Kapitals und der Neuen Weltordnung, der USA vor allem, werden, dann werden hier wieder die Bedingungen für sozialistische und linke Kräfte entstehen.

F: Gegenwärtig ist die Situation im Lande weit davon entfernt, geklärt zu sein. Auf der einen Seite haben wir linke Kräfte mit allen ihren früheren Schwächen und Stärken. Auf der anderen Seite haben wir DOS als Vollstrecker der Konterrevolution, auch wenn das meiste davon hinter der Bühne abläuft. Wie wird es weitergehen, wenn sich der Staub gelegt hat?

Schauen wir uns zunächst DOS einmal an, diese Koalition, die gegenwärtig »auf der Straße« gewonnen hat. Auf der einen Seite haben wir hier unseren neuen Präsidenten Vojislav Kostunica, und auf der anderen Seite eine sehr bunte Gruppierung von Politikern, die in nichts übereinstimmen außer in ihrem Ziel, Milosevic zu stürzen. Nachdem nun dieses Ziel erreicht ist, steht der Kampf untereinander bevor, und zwar über alles. Wir alle kennen die DOS-Führer und haben sie bereits erlebt, sie einigten sich irgendwie unter dem Druck der USA und brachten es fertig, einen einzelnen Mann zu finden, den einzigen unter ihnen, von dem gesagt werden kann, daß er ehrlich und nicht kompromittiert ist. Eines sollte klar sein: Zwischen Kostunica und dem Rest seiner Verbündeten besteht ein großer Unterschied. Kostunica ist ein Mann, der immer war, was er ist: antikommunistisch, patriotisch, kritisch gegenüber der US-Außenpolitik. Er hat die Bombardierungen Jugoslawiens im letzten Jahr leidenschaftlich verurteilt, und er hat öffentlich gesagt, daß er nicht mit dem Haager Tribunal für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien zusammenarbeiten wird, weil er dieses nicht als eine juristische, sondern als eine politische Institution ansieht. Er sagte öffentlich, daß er Slobodan Milosevic nicht an Den Haag ausliefern werde. Dies alles sind Gründe, warum die USA Kostunica bereits kritisieren, aber sagen, sie akzeptierten ihn als jemanden, der an rechtsstaatliche und demokratische Verfahren glaubt. Aber aus diesen Stellungnahmen geht klar hervor, daß die USA ihn nur vorübergehend akzeptieren, und daß er nicht lange in seiner Position verbleiben wird, wenn er es nicht fertig bringt, sich und seine Position zu verteidigen, und zwar auf der Basis einer breiten Unterstützung seiner Landsleute. Kostunica ist kein neuer Havel, was auch immer die USA denken mögen. Kostunica ist Legalist und versucht, die bestehenden legalen Formen zu nutzen. Das Problem ist, daß die Leute um ihn herum das nicht sind. Sie sind dabei, einige »Krisengruppen« zu bilden, die illegale Institutionen sind. Sie üben beispielsweise schon jetzt Druck auf bestimmte Politiker, bestimmte Werksdirektoren aus, ihren Rücktritt einzureichen, damit andere, von DOS willkürlich ausgewählte Leute, ihre Stellungen einnehmen können. Das ist ein völlig verfassungswidriger Kurs.
Nach der Verfassung ist das erste, was nun zu geschehen hat, der Zusammentritt des Bundesparlaments. An diesem Punkt werden wir sehen, inwieweit Kostunica wirklich ein Legalist ist, denn die Regierung sollte von der Parlamentsmehrheit bestimmt werden. Kostunica hat bereits akzeptiert, das Amt des Premierministers jemandem von der Sozialistischen Partei Montenegros zu geben. Das ist verfassungsgemäß. Aber wir haben auch Zoran Djindjic, der etwas sagt, was nicht verfassungskonform ist: Er ist für eine »Regierung von Fachleuten«. Darüber hat wohl kaum Djindjic zu entscheiden, und das Parlament wird die Art von Regierung bestimmen, die es haben will. Was die Regierung der serbischen Teilrepublik angeht, so ist die Entwirrung der Lage noch im Gange, und wir müssen das Ergebnis abwarten. Insgesamt ist im Hinblick auf die gegenwärtige »Doppelherrschaft« im Lande gewiß, daß - wie im Falle jeder Konterrevolution - die DOS ihren augenblicklichen Vorteil, den Triumph auf der Straße und die Unterstützung der Massen, nutzen wird, entscheidende Machtpositionen zu erlangen. Notfalls durch illegale Mittel. Und wenn schon: Die DOS-Führer werden mit großem Widerstand zu leben haben, gerade wegen dieser Methoden.

F: Was ist nun die unmittelbare Aufgabe der linken Kräfte in Jugoslawien?

Es ist offensichtlich, daß sie zum Teil neu anfangen müssen, und daß eine vor ihnen liegende neue Periode beginnen muß - eine Periode, in der die Sozialisten sich ohne die führende Rolle von Milosevic organisieren müssen. Die Hoffnung, daß die Sozialisten Serbiens sich nach der jüngsten Niederlage umgruppieren, erneuern und eine starke politische Kraft sein werden, beruht vor allem darauf, daß die innere Erosion in der SPS gestoppt wird. Neue Leute werden kommen und die Fehler vermeiden, die früher und jetzt begangen wurden. Und ganz nach dem osteuropäischen Modell werden die Sozialisten erneut an die Macht kommen. Wirkliche, wahre Ideen sterben nicht. Der Globalisierungsprozeß im Gegenzug ist keine wirkliche und wahre Idee. Genau deshalb wird er nicht von Dauer sein. Das macht- und geldhungrige US-Imperium wird wie ein Kartenhaus einstürzen, wie schließlich jedes Imperium, weil seine Fundamente innerlich morsch sind. Der Widerstandsblock ist bereits im Entstehen; und die schreckliche Erfahrung mit der Bombardierung Jugoslawiens hat dazu bedeutend beigetragen. Die Politik der USA schien bis zur Aggression gegen Jugoslawien mit der Methode von »Zuckerbrot und Peitsche« viel Erfolg zu haben. Die Ziele schienen ganz problemlos ohne Kriege zu erreichen. Aber die NATO-Bombardierungen Jugoslawiens haben die Welt aufgeschreckt, indem sie demonstrierten, daß die Neue Weltordnung in vielerlei Hinsicht dieselben Charakterzüge trägt wie der Faschismus. Rußland, China, Indien, südamerikanische und afrikanische Länder - alle sind sie nun ernüchtert, weiser und wachsamer.

Das Gespräch führte Tanja Djurovic in Belgrad
Aus: junge welt, 14.10.2000

Weitere Beiträge über Jugoslawien

Zurück zur Homepage