Kinder in Belgrad
Von Eckart Spoo*
Nebojsa Jovanovic möchte Physiklehrer werden - hoffentlich unter besseren
Bedingungen als heute: Weil die Lehrer nur umgerechnet 100 Mark im Monat
verdienen, und das bei steil steigenden Preisen, sind in diesen Tagen viele
serbische Schulen wegen Streiks geschlossen.
Vladimir Jontic hat den Berufswunsch: Automobil-Designer. Aber zur Zeit werden
in Jugoslawien keine Autos gebaut. Nachdem das große Zastava-Werk in
Kragujevac von NATO-Bomben zerstört worden war, gelang es den Arbeitern zwar
inzwischen, nach sorgfältigem Sortieren der Trümmer eine Produktionslinie
provisorisch zusammenzubasteln, aber unter dem neuen, von der Regierung
Djindjic eingesetzten Management ist die Produktion gestoppt; die Hauptfrage
lautet jetzt: Welcher ausländische Investor wird sich Zastava aneignen - mit
welcher Perspektive? So ähnlich wie sich bei der Wende in Ostdeutschland der
BASF-Konzern die Kaligrube Bischofferode im thüringischen Eichsfeld nur
angeeignet hat, um sie zu schließen?
Marija Joksimovic, die kürzlich in die Berufsschule gekommen ist, hat sich für
den Einzelhandel entschieden, aus Freude am Umgang mit vielen Menschen.
Momentan sind die Aussichten in diesem Beruf besonders düster: Die
Ladenbesitzer beschäftigen zum großen Teil Schwarzarbeiter; so verringern sie
ihre Lohnkosten, vermeiden Lohnnebenkosten, Kündigungsschutz und andere
soziale Verpflichtungen. Die rund 800.000 Flüchtlinge aus Kroatien, Bosnien
und Kosovo sind ein unerschöpfliches Schwarzarbeiter-Potential. Rudolf Scharping, Joseph Fischer, Gerhard Schröder, die sich gelegentlich zu raschem militärischen Eingreifen bereit zeigen, "weil wir nicht wegsehen dürfen", sehen beharrlich über dieses bleibende Flüchtlingselend hinweg, das
durch die deutsche Politik der Zerstückelung Jugoslawiens eingeleitet wurde.
Anfang März 2001 - fast zwei Jahre sind seit dem Beginn der "humanitären
Aktion" vergangen, wie Schröder/Fischer/Scharping den Bombenkrieg gegen
Jugoslawien nannten - sitze ich im Belgrader Gewerkschaftshaus mit Marija,
Vladimir und Nebojsa zusammen. Marija hat auch eine ihrer beiden Schwestern
mitgebracht, die siebenjährige Milica. Für die dreijährige Marija Stukalo ist
ihre Mutter gekommen, Gordana, die mir ernst, still und aufmerksam
gegenübersitzt. Gordanas Mann und die Väter der anderen Kinder wurden in der Nacht vom 23. zum
24. April 1999 um 2.06 Uhr von einer NATO-Rakete zerfetzt, die gezielt in die
Zentrale des jugoslawischen Fernsehens einschlug. Zwei der 16 Toten konnten
nicht mehr identifiziert werden. Der Explosionsdruck schleuderte Leichenteile
bis zu 100 Meter weit auf die Dächer der kleinen russisch-orthodoxen und der
großen serbisch-orthodoxen Sv. Marko-Kirche.
Eine Friedensgruppe in Kassel** entschloß sich vor einem Jahr, jedes dieser
Kinder mit monatlich 100 Mark, einem im heutigen Serbien beträchtlichen
Betrag, zu unterstützen; seitdem treffen sich die Kinder jeden Monat, um das
Geld in Empfang zu nehmen. Die Kasseler, die von meiner Reise nach Belgrad
erfuhren, baten mich, die neue Rate zu überbringen. Ich darf, ich soll nun
einige Worte sagen. Es fällt mir schwer. Ich fürchte, Gordana und auch
Aleksandar Jankovics Mutter, die mit ihrem vaterlos aufwachsenden 14jährigen
handball- und computerbegeisterten Jungen gekommen ist, könnten jedes Wort,
das der Mann aus Deutschland sagt, als billig und anmaßend empfinden.
Dreimal innerhalb eines Jahrhunderts hat deutsches Militär Serbien
angegriffen. Ich wünschte, daß endlich die Serben das Wort hätten, sie, die
wie kaum ein anderes Volk unter deutschem Herrenmenschenwahn zu leiden hatten.
Aber nun führt Bodo Hombach auf dem Balkan das große Wort. Und die Serben
haben schweigend zu büßen - wofür? Die Serben? Nein, nicht alle. Aber diese.
Der Vorsitzende der Einzelhandelsgewerkschaft, Sveta Vladisavljevic, und sein
Kollege von der serbischen IG Medien, Rajko Simic, erleichtern mir die
Aufgabe, indem sie berichten, daß ich nicht zum ersten Mal in Belgrad bin,
sondern während des NATO-Krieges in einer Gruppe von zehn deutschen
Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern unter dem Motto "Dialog von unten
statt Bomben von oben" Luftangriffe auf Belgrad und andere jugoslawische
Städte miterlebt habe. Damals haben wir auch vor den Ruinen des
Fernsehgebäudes gestanden und Blumen niedergelegt. Und wir haben in Novi Sad,
der zweitgrößten Stadt des klein gewordenen Jugoslawien, den Schutthaufen
gesehen, der vom dortigen Fernsehsender übriggeblieben war. Systematisch hatte
die westliche Wertegemeinschaft gleich in den ersten Kriegswochen Radio- und
vor allem Fernsehanlagen zerstört. Dennoch gelang es der NATO bis Kriegsende
nie, den Sendebetrieb länger als zwei Stunden zu unterbrechen; dafür sorgten
zeitweilig mobile Sender. Und immer bot RTS, die serbische Rundfunkanstalt,
auch der europäischen Satellitenzentrale in London aktuelle Bilder an, deren
Weiterverbreitung jedoch auf deutsche Veranlassung unterbunden wurde, denn die
Völker der kriegführenden Staaten sollten nicht erfahren, was die NATO in
Jugoslawien anrichtete. Sie haben bis heute - trotz der ARD-Sendung "Es begann
mit einer Lüge", die immerhin endlich einige Wahrheiten enthielt - fast nichts
darüber erfahren. Den Grund nannte NATO-Chefpropagandist Jamie Shea in der
Sendung selbst: Es ging um die Macht über die Bilder. Wir sollten
desinformiert werden. Deswegen wurden die Väter dieser Kinder mit
militärischer Grausamkeit ermordet.
Jetzt sitzt der damalige RTS-Fernsehdirektor Dragoljub Milanovic in
Untersuchungshaft. Die NATO und die Chefanklägerin des von den Siegerstaaten
finanzierten Haager Tribunals behaupten, Milanovic sei vor dem Angriff gewarnt
gewesen - er also sei schuld am Tode der 16 RTS-Beschäftigten. Siegerjustiz.
Der Sieg ist erst vollständig, wenn die Täter über die Opfer zu Gericht
sitzen, sie schuldig sprechen und bestrafen. Hauptstrafe: lebenslanges
Schweigegebot. Sie gilt schon seit drei Jahren für Slobodan Milosevic. Ich
kann mich nicht erinnern, daß er seit dem von ihm mit unterzeichneten und
strikt respektierten Dayton-Abkommen jemals in einem hiesigen Sender zu Wort
gekommen wäre. Sonst wäre es schwerlich gelungen, ihn zum totalen Feind zu
stilisieren. Kriegerisches Töten beginnt damit, daß der Aggressor die Opfer
mundtot macht.
Borivoje Urosevic, gewerkschaftlicher Vertrauensmann der RTS-Beschäftigten,
hatte an jenem 23. April Tagesschicht, sonst wäre vielleicht auch er unter den
Toten. Er sagt mir: "Ja, wir waren schon insofern gewarnt, als
NATO-Generalsekretär Solana gleich zu Beginn des Krieges das Fernsehen zur
Propagandaeinrichtung und damit zum militärischen Ziel erklärt hatte. Aber
hätten wir etwa den Aggressoren den Gefallen tun sollen, unsererseits den
Sendebetrieb einzustellen? Uns fiel auf, daß die Vertreter von CNN und anderen
ausländischen Sendern ihre Büros in unserem Fernsehgebäude jedesmal eine
Stunde vor einem Bombenalarm räumten und eine Stunde nach dem Alarm
zurückkehrten. Sie müssen also wirklich gewarnt gewesen sein. Aber hätten wir
denn jedesmal mitgehen und die Zuschauer im Stich lassen sollen? NATO-Sprecher
Shea sagte in Brüssel am Tag vor dem Angriff, es sei nicht beabsichtigt, unser
Fernsehen anzugreifen. Insofern konnten wir uns sicherer wähnen als zuvor.
Allenfalls hätte uns einfallen können, daß dieser Mann immer gelogen hat und
daß deswegen auch diese Entwarnung eine Lüge sein mußte. So klug war leider
keiner von uns. Sonst wäre wohl die Mutter unseres damaligen
Informationsministers, Angelina Vucic, die seit langem beim Fernsehen
arbeitete, nicht im Gebäude gewesen."
Eine Wohltat für die Sieger ist es, wenn sich Serben finden, die ihnen das
Blut von den Händen waschen. Auch unter den Angehörigen der Toten sind zwei,
die nun Milanovic beschuldigen statt der siegreichen NATO. Und am 5. Oktober
vergangenen Jahres wurde unter dem Jubel der tonangebenden Medien in den
NATO-Ländern nicht nur an der Stupcina, dem Sitz des gewählten Parlaments,
sondern auch an der Fernsehzentrale Feuer gelegt, das, wenn es nicht schnell
gelöscht worden wäre, mit dem Gebäude auch die Spuren des Raketenangriffs
hätte verbrennen können. "Aber größeren Schaden als der Brand", berichtet mir
Dusan Markovic von Radio Belgrad, "haben die Plünderer angerichtet."
Die NATO hat auf dem Balkan fast alles erreicht, was sie erreichen wollte. Bis
Anfang 1999 hatte sie dort nur ein einziges Mitgliedsland: das nach den
Erfahrungen des per NATO-Putschplan "Prometheus" installierte Militärregime
1967-1974 nicht gerade bündnisfromme Griechenland (über dessen
Widerstandshaltung zum Krieg gegen Jugoslawien die deutsche Öffentlichkeit
fast nichts erfuhr). Mit dem Krieg gewann die NATO die Hoheit über den ganzen
Balkan - zunächst noch mit Ausnahme Serbiens, das aber, nachdem ihm die
materielle Existenzgrundlage weggebombt war und das Embargo die Not von Jahr
zu Jahr, von Tag zu Tag vergrößert hatte, mürbe werden mußte. Was der NATO zu
ihrer Zufriedenheit noch fehlt, ist nur noch eins: Jugoslawien soll ihr seinen
früheren Präsidenten zur Bestrafung ausliefern.
Auf dem Konvent des Serbischen Gewerkschaftsbundes spricht man über all das
nicht mehr. Nur über die wachsende Armut, die Arbeitslosigkeit, die Inflation.
Der Vorstand stimmt die 1500 Delegierten auf die Privatisierungen ein, die als
unvermeidlich gelten. Nach dem Sieg der NATO - das ist allen bewußt - werden
Kapitalinteressen entscheiden - über die wirtschaftliche und soziale
Entwicklung des Landes entscheiden. Werden die Gewerkschaften dabei ein wenig
mitreden können? Bedingungen werden formuliert: Die Regierung soll ein
Sozialprogramm beschließen, ein Teil des zu privatisierenden Kapitals soll den
Beschäftigten zugeeignet werden, sie wollen nicht restlos enteignet werden.
Jugoslawien soll nicht auf das Niveau eines unterentwickelten Landes zurücksinken.
Ich werde nach Erfahrungen bei der Privatisierung in Ostdeutschland gefragt.
Ich wünschte, Experten des DGB und seiner Einzelgewerkschaften wären hier.
Aber sie boykottieren seit Jahren den Serbischen Gewerkschaftsbund wie auch
den jugoslawischen Dachverband. Der DGB-Vorsitzende Dieter Schulte hat auf
etliche Briefe nicht einmal geantwortet. Ob er es wagen würde, den Kindern und
Witwen der ermordeten Fernsehmitarbeiter unter die Augen zu treten? Schon am
Tage vor den ersten Bombenangriffen hatte er seine Zustimmung zum Krieg erklärt.
Vorab veröffentlicht aus OSSIETZKY Nr. 5/2001
* Eckart Spoo ist Redakteur und Herausgeber der Zeitschrift OSSIETZKY. Er gehörte zu der Gruppe engagierter Gewerkschafter, die während des NATO-Kriegs solidarische Hilfe für Belegschaften zerstörter Betriebe in Jugoslawien organisierte - eine Initiative, die auch heute noch existiert.
** Bei der Kasseler Gruppe handelt es sich um das Kasseler Friedensforum, das seit Monaten versucht, über Spenden Einzelner und Geldsammlungen bei Veranstaltungen die "Stipendien" für die betroffenen Waisenkinder zusammen zu bringen.
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