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Mit der Verhaftung von Milosevic ist es nicht getan

Internationale Pressestimmen - Ein Überblick

Der Westen triumphiert abermals und begrüßt die Verhaftung Milosevics als einen ersten Schritt, dem der nächste folgen müsse: die Auslieferung an das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Das ist auch der Tenor der meisten Kommentare, die wir einen Tag nach dem Drama von Belgrad in der deutschen und internationalen Presse lesen konnten. Das überrascht nicht weiter. Zu denken gibt aber doch, dass alle Enthüllungen über den NATO-Krieg, über die Lügen, mit denen dieser Krieg in Szene gesetzt wurde, wie weggeblasen scheinen. Milosevic ist wieder der, der er schon vor zwei Jahren war: der Hitler des Balkan, der an allem schuld war. Wer spricht da noch von den eigenen Vergehen, vom Bruch des Völkerrechts oder von den Verstößen gegen die Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts? - Die im Folgenden zitierten Pressestimmen stammen - falls nicht anderes vermerkt - alle aus den Zeitungen vom 2. April 2001.

Frankfurter Allgemeine Zeitung
Die Revolution in Jugoslawien war im Grunde nicht einmal eine halbe Sache: Milosevic hatte sich verkalkuliert und wurde in Wahlen geschlagen, das Eingeständnis dieser Niederlage mußte ihm dann allerdings durch den Druck der Straße abgenötigt werden. Derjenige, der ihn ganz legal abgelöst hatte, der neue Präsident Kostunica, von Berufs wegen Verfassungsrechtler, gab von Beginn seiner Amtszeit an zu erkennen, daß er nicht auf die Dynamik des Umsturzes setze, sondern einen Wandel in geordneten Bahnen bewerkstelligen wolle: Das hat ihn mehrmals in Konflikt mit denjenigen Kräften in der neuen serbischen Führung gebracht, die wie Djindjic den Machtwechsel in Belgrad zu einem energischen Aufbruch gen Westen nutzen wollten.
... Die Vorwürfe, die Milosevic gemacht werden, laufen auf Amtsmißbrauch durch persönliche Bereicherung hinaus - also der berühmte Griff in die Portokasse, allerdings in eine üppig gefüllte. ...
Ob nicht nur der Dieb Milosevic bestraft wird, sondern auch der Staatsverbrecher, der vor mehr als einem Jahrzehnt Feuer an das balkanische Pulverfaß gelegt hatte und direkt wie indirekt für den Tod Zehntausender verantwortlich ist, das könnte wieder zum Gegenstand von Streit in der jugo-serbischen Führung werden. Djindjic und seine Freunde würden Milosevic gerne nach Den Haag ausliefern - um des internationalen Ansehens willen und auch wegen Finanzhilfen, die dann üppiger fließen würden. Kostunica dagegen, der als serbischer Nationalist die Nato-Aktion gegen Jugoslawien als völkerrechtswidrig ansieht und dem Internationalen Strafgerichtshof die Legitimität abspricht, will Milosevic zu Hause zur Verantwortung ziehen. Das hat unter volkspädagogischen Aspekten seinen Sinn. Das letzte Wort über Milosevics Untaten darf es nicht sein.

Der Tagesspiegel
Das Drama um die Verhaftung von Slobodan Milosevic hat schließlich doch ein positives Ende genommen. Der Autokrat ist sechs Monate nach seinem Sturz hinter Gitter - und wird auch nicht so bald wieder auf freiem Fuß sein. Das Land kommt einen großen Schritt vorwärts. Die Bewältigung der Vergangenheit kann jetzt richtig beginnen.
... Milosevic soll als "gewöhnlichem Kriminellen" der Prozess gemacht werden. Für die Opfer der vier Balkankriege ist dies bestimmt eine abstoßende Vorstellung.
Tatsache ist allerdings, dass mit dieser Festnahme eine ganze Lawine losgetreten werden wird. Helfer und Mittäter werden zu reden beginnen. Der Druck ist jetzt weg, die Gefahr eines Comebacks des Autokraten vollständig gebannt. In den Medien und in der serbischen Öffentlichkeit dürfte eine breite Diskussion über die Milosevic-Ära einsetzen. Überdies lassen sich die verschiedenen Gründe für Prozesse gegen den Autokraten von gestern kaum getrennt betrachtet. Milosevic hat seine Landsleute ausgeraubt, um die verheerenden Kriege zu finanzieren, für die er in Den Haag zur Verantwortung gezogen werden soll. Der Dieb Milosevic lässt sich vom mutmaßlichen Kriegsverbrecher Milosevic nicht trennen.
... Es ist positiv, dass der Prozess jetzt zuerst einmal in Belgrad beginnen wird. In Den Haag wäre der Fall Milosevic möglicherweise bald in Vergessenheit geraten, und das Land hätte ungestört zum Alltag zurückkehren können. Serbiens Öffentlichkeit wird sich so nun weiterhin mit dem prominenten Untersuchungshäftling auseinander setzen müssen. Jeder wird sich dabei auch die Frage der Mitverantwortung stellen können, denn schließlich war der zuletzt verhasste Autokraten noch vor nicht langer Zeit plebiszitär gewählt und bestätigt worden.
Es spricht nichts dagegen, dass Milosevic in einem zweiten Teil des Verfahrens nach Den Haag ausgeliefert oder in Belgrad nach den Regeln des UN-Tribunals als mutmaßlicher Kriegsverbrecher beurteilt wird.

Frankfurter Rundschau
... Mit dem Prozess gegen den korrupten Ex-Staatschef und mutmaßlichen Kriegsverbrecher Slobodan Milosevic beginnt nun für Jugoslawien die Aufarbeitung einer verlorenen Dekade. Die Anforderungen, die Jugoslawien auf der einen und das UN-Kriegsverbrecher-Tribunal auf der anderen Seite an dieses Verfahren stellen, sind dabei unterschiedlicher, ja teilweise widersprüchlicher Natur. Serbien muss seine Vergangenheit bewältigen, die Welt fordert Gerechtigkeit. In der Theorie geht das eine nicht ohne das andere. Aber die Wirklichkeit, selbst die juristische, ist da viel komplizierter. Und dennoch besteht nach den Äußerungen der Regierung Djindjic durchaus eine Chance, dass die Verurteilung von Slobodan Milosevic seinen Opfern so etwas wie Gerechtigkeit bringt und zugleich Serbien eine ehrliche Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Schuld. Dies aber wird nur möglich sein, wenn alle Beteiligten in Belgrad, Den Haag, Brüssel und Washington im juristischen Umgang mit dem Angeklagten Slobodan Milosevic von ihren Maximalforderungen abweichen, Flexibilität zeigen und nicht länger mit Boykott drohen.
Milosevic wird zunächst wegen Amtsmissbrauchs und Korruption vor ein Belgrader Gericht gestellt. Diese Anklagen sind wichtig, weil die serbische Öffentlichkeit nur so erfahren wird, in welchem Ausmaß die Familie Milosevic und deren kriminelle Kumpane im serbischen Mafiastaat die Gesetze gebrochen, die Bürger beraubt und der Gesellschaft geschadet haben. Jede demokratisch gewählte Regierung muss das Recht haben, einen ehemaligen Präsidenten für Verbrechen gegen den eigenen Staat vor Gericht zu stellen. ...
Aber auch die nicht-serbischen Opfer der jugoslawischen beziehungsweise serbischen Politik und die Welt in Gestalt der Vereinten Nationen haben ein Anrecht darauf, dass sich Milosevic für seine Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten muss. Viel steht hier auf dem Spiel: die Versöhnung an den Orten der Kriegsverbrechen und auch der weitere Fortschritt des Internationalen Völkerrechts. Ohne eine Verurteilung Milosevics und anderer Kriegsverbrecher für den Völkermord in Bosnien und Kosovo kann es dort kein friedliches Zusammenleben zwischen den im Krieg verfeindeten Bevölkerungsgruppen geben. Ohne einen Prozess in Den Haag gegen den Hauptschuldigen - aber keineswegs Alleinschuldigen - an vier Balkankriegen wäre das 1993 ad hoc eingesetzte Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien nur eine Episode im Völkerrecht - und keine Etappe auf dem mühsamen Weg von den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen zum ständigen Internationalen Kriminalgerichtshof. Letzterer ist zwar beschlossene Sache, aber angesichts der feindlichen Haltung der neuen US-Regierung noch lange nicht politisch etabliert.
Das UN-Tribunal braucht also Slobodan Milosevic. Aber es braucht auch Zeit. Denn noch ist der jugoslawische Ex-Präsident offiziell nur für seine Verbrechen in Kosovo angeklagt. Noch fehlt es dem Tribunal in Den Haag an Beweismaterial, das die Befehlslinie vom Oberkommandierenden Milosevic direkt zu den Handlangern des Völkermordes in Bosnien und Kosovo aufzeigt und belegt. Die Beweislage stellt sich im Fall Milosevic noch nicht so schlüssig dar, wie sich dies ein Ankläger wünschen muss, der den Angeklagten zweifelsfrei überführen will. Hier ist das Tribunal auf eine enge Zusammenarbeit mit der Regierung in Belgrad angewiesen.
Im Idealfall könnte ein Kompromiss wie folgt aussehen: Zunächst verantwortet sich Slobodan Milosevic vor einem serbischen Gericht wegen der Verbrechen gegen seinen Staat. Danach klagt ihn das UN-Tribunal nach seinen Regeln und vor seinen Richtern wegen Völkermord und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit an, und zwar in Belgrad. Keine ferne, abstrakte und leicht zu ignorierende "Siegerjustiz" wäre dies, sondern ein "Schauprozess" im Sinne des internationalen Völkerrechts. Er könnte auch den skeptischen Serben beweisen, dass es nicht um Kollektivschuld, sondern allein um Gerechtigkeit geht.

Süddeutsche Zeitung
Alles Ende ist schwer. Fast 30 Stunden dauerte die Belagerung der Villa von Slobodan Milosevic. 30 Stunden, in denen eine junge Demokratie noch einmal mit der Erblast einer untergegangenen Despotie ringen musste. Mit der Festnahme des gestürzten Ex-Präsidenten fand dieser Kampf ein glückliches Ende. Die serbische Oktober-Revolution hat sich in dieser Nacht vollendet. Das ist ein Grund zur Freude. Die Belgrader Wende jedoch bleibt unvollständig. Das ist ein Grund zur Besorgnis.
Die dramatischen Ereignisse des Wochenendes werfen ein Schlaglicht auf die Belgrader Szenerie im Jahre eins des Neuanfangs. Da ist die neue Führung um die Protagonisten Vojislav Kostunica, Präsident Jugoslawiens, und Zoran Djindjic, Premierminister Serbiens. Die Dualität der Macht zeigte sich auch in den Diskussionen um Milosevic allzu oft als Duell um die Macht. Djindjic, der Pragmatiker, sucht die Nähe zum Westen. Er weiß um die Abhängigkeit seines Landes von internationalen Aufbaugeldern, und er ist bereit, diese Finanzhilfe auch als Kopfgeld auf Milosevic zu akzeptieren. Deshalb scheute er sich nicht einmal vor der Pikanterie, die seinem serbischen Innenministerium unterstellten Polizeikräfte just an dem Tag zuschlagen zu lassen, an dem ein an Washingtoner Hilfsgelder geknüpftes Ultimatum ablief. Djindjic selbst dürfte, auch wenn er das nicht offen zu sagen wagt, kein Problem damit haben, Milosevic wie gefordert an das Haager Tribunal auszuliefern.
Auf der anderen Seite aber steht Kostunica, dessen Herz für die serbische Nation schlägt. Er hört aufs Volk, bei dem die jahrelange anti- westliche Propaganda des Regimes noch nachwirkt und die Nato-Bomben des Kosovo- Krieges nachhallen. Kostunica würde eine Überstellung Milosevics an das UN- Tribunal als Verrat an der serbischen Sache sehen. Deshalb tritt der Präsident als Bremser auf und scheut den klaren Schnitt mit der Vergangenheit. Wie gefährlich das ist, zeigte sich auch wieder in der Konfrontation an der Milosevic-Villa in Dedinje. Kostunica war es, der seinem Amtsvorgänger die bewaffnete Leibgarde zugestand, die den ersten Versuch zur Verhaftung mit Waffengewalt vereitelte. Und Kostunica trägt die Verantwortung dafür, dass die jugoslawische Armee in den Verdacht geriet, die serbischen Polizeikräfte bei der Verhaftung behindert zu haben. Die Armee nämlich wird immer noch vom Generalstabschef Nebojsa Pavkovic geführt, jenem Mann, mit dem Milosevic schon in den Kosovo-Krieg gezogen war.
Die Verhaftung Milosevics mit einem anschließenden Prozess in der Heimat ist der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Belgrader Führung - wohl mit stillschweigendem Einverständnis der westlichen Geldgeber - derzeit einigen konnte...
Es dürfte .. nicht schwer fallen, Milosevic Machtmissbrauch und Korruption nachzuweisen und ihn dafür mit der Höchststrafe von fünf Jahren zu belegen. Doch damit ist der Gerechtigkeit keinesfalls Genüge getan. ... Denn die Hauptleidtragenden seiner Herrschaft waren nicht die Serben, sondern die Nachbarvölker, die unter seiner Führung von den Serben mit vier Kriegen überzogen wurden. Das ihnen zugefügte Leid und Unrecht kann nur an einem Ort gesühnt werden: vor dem eigens dazu geschaffenen Kriegsverbrecher-Tribunal der Vereinten Nationen.
Erst mit einer Überstellung Milosevics nach Den Haag ist die serbische Wende vollzogen. Nur wenn sich die Serben ihrer eigenen Vergangenheit stellen und daraus Konsequenzen ziehen, ist der Neuanfang glaubhaft...

Der Standard (Wien)
Sieht man sich die derzeit bekannten Anklagepunkte gegen Milosevic an, sind leise Zweifel an der Professionalität der jugoslawischen Justiz erlaubt. Die Vorwürfe des Machtmissbrauchs und der Korruption sind seltsam kontur- und inhaltslos, wirken wie in aller Eile zusammengeschustert. Dass man ihm nun den Prozess machen will, weil er diverse Rechnungsbücher gefälscht oder den Dinar in die eigene Tasche gesteckt haben soll, ist und bleibt eine Verhöhnung der Zehntausenden Opfer, die in den vier Balkankriegen, die der Despot a. D. vom Zaun brach, ihr Leben ließen.
Zoran Zivkovic, Innenminister Restjugoslawiens, machte aus seinem Herzen erst gar keine Mördergrube: Es wäre "lächerlich" anzunehmen, Belgrad lasse Milosevic aus freien Stücken verhaften. Dass die Staatsanwaltschaft dennoch den Haftbefehl unterschrieb, hat einen schlichten, rein politischen Hintergrund: Am 31. März endete ein Ultimatum, das der US-Kongress der serbischen Regierung zur Zusammenarbeit mit dem Haager Kriegsverbrechertribunal gestellt hatte.
Wäre Milosevic, auf dessen Gehaltsliste immer noch genug Figuren der Machthierarchie stehen, nach Ablauf des Ultimatums ungeschoren geblieben, hätte die US-Regierung Wirtschaftshilfen in Höhe von hundert Millionen Dollar (1,56 Milliarden Schilling) nicht an Belgrad ausbezahlt. Deswegen brannte der Hut, es musste schnell noch etwas passieren, und Slobo, der vormals Große, wanderte hinter Schloss und Riegel.
Der Westen tut nun gut daran, weiterhin auf einer Auslieferung Milosevic' an das UN-Tribunal zu bestehen. Erstens aus moralischen Gründen, weil mutmaßliche Verbrecher vor Gericht gehören. Sucht Jugoslawien Anschluss an Europa, muss es auch Vertrauen in Institutionen wie das Tribunal in Den Haag haben. Und zweitens, weil der Exdiktator immer noch Herr seiner so genannten sozialistischen Partei ist. In dieser Funktion könnte Milosevic sogar noch aus dem Gefängnis heraus für Unruhe sorgen. ...

Neue Zürcher Zeitung
... Es wäre zu einfach und zu bequem, für alles Übel Milosevic allein verantwortlich zu machen. Er wurde mehrmals mit deutlichem Vorsprung zum Präsidenten gewählt. Das kann nicht allein mit der Repression oder der Propaganda der staatlichen Medien erklärt werden, wie man das heute gerne tut. Auch ein grosser Teil der geistigen Elite hatte Milosevic auf dem Höhepunkt der von ihm selbst entfachten nationalistischen Euphorie Ende der achtziger Jahre zugejubeltund ihn als Erretter der angeblich gedemütigten serbischen Nation gefeiert. Viele Intellektuelle standen vor allem zu Beginn hinter der nationalistischen Politik Milosevics. Zahlreiche Politiker der damaligen Opposition waren den Verlockungen der Macht erlegen und hatten sich in der einen oderandern Form in den Dienst des Regimes gestellt.
Zweifel daran, dass Belgrad über Lippenbekenntnisse hinaus mit dem Uno-Kriegsverbrechertribunal zusammenarbeiten will, sind durchaus angebracht. Ob sich das nach der Verabschiedung eines entsprechenden Gesetzes durch das Parlament ändern wird, ist fraglich. Die Führung in Belgrad hat in diesen Tagen erneut klar gemacht, dass sie Milosevic, der vom Uno-Tribunal im Mai 1999 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt worden war, nicht nach Den Haag ausliefern wird. Die meisten sehen im Tribunal nach wie vor ein gegen Serbien gerichtetes politisches Instrument. Diese Haltung hat mit der in Serbien weit verbreiteten Ansicht zu tun, die Serben hätten kein Unrecht begangen, sie seien vielmehr selbst Opfer einer Verschwörung geworden. Jene, die sich vorbehaltlos für eine Auslieferung der wegen Kriegsverbrechen gesuchten jugoslawischen Staatsbürger aussprechen, sind in der Minderheit.
... Man kann ein gewisses Verständnis für die Haltung der Regierung in Belgrad aufbringen, dass Milosevic für das, was er den Serben angetan hat, in Serbien vor Gericht gestellt werden muss. Auch wenn der amerikanische Präsident Bush zum Schluss kommt, Belgrad habe mit der Verhaftung Milosevics den Forderungen Washingtons Genüge getan und der Auszahlung der Finanzhilfe, auf die Serbien dringend angewiesen ist, stehe nichts mehr im Wege - eines ist gewiss: Ein Verfahren in Serbien vor einem serbischen Gericht allein kann und darf nicht genügen. Milosevic hat nicht nur Serbien zugrunde gerichtet. Sein Regime trägt auch die Hauptverantwortung für die Kriege auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien, für die vielen Opfer und die gewaltigen Zerstörungen. ...

The Sunday Times
Wenn man Milosevic nun einsperren würde, weil er die Bücher gefälscht hat, dann käme er zu leicht davon. Dies wäre eine Beleidigung der Zehntausenden, die in den von ihm angeheizten Balkankriegen ermordet wurden. Al Capone wurde wegen Steuerhinterziehung eingesperrt, nachdem seine Henker jeden umgebracht hatten, der ihnen im Wege stand. Milosevics Verbrechen sind von einer anderen Größenordnung. Er muss sich in einem internationalen Gerichtshof verantworten.
(01.04.2001)

Le Monde
... Die neue Regierung in Belgrad unter Präsident Vojislav Kostunica möchte Milosevic in Serbien vor Gericht stellen. Dort wird ihm lediglich Korruption vorgeworfen. Die patriotische Überzeugung des neuen Präsidenten hält ihn davon ab, Milosevic dem internationalen Gerichtshof auszuliefern. Doch die Behörden in Belgrad müssen in den nächsten Tagen keine juristischen, sondern politische Entscheidungen treffen. Die Einwände gegen eine Auslieferung Milosevics an die internationale Justiz sind fadenscheinig, denn die Wahrheit ist von brutaler Einfachheit. Wenn das neue, demokratische Jugoslawien den internationalen Institutionen vertraut, denen es sich anschließen will, muss es die Auslieferung bejahen, auch wenn es schwerfällt...
(01.04.2001)

Corriere della Sera
... Die ganze Angelegenheit legt zunächst einmal zwei Gedanken nahe. Wie schwierig und gefährlich es auch immer sein mag, diese Phase ist entscheidend für die Zukunft der jugoslawischen Demokratie. Das Problem ist nicht moralischer Natur (einen besiegten Diktatoren zu bestrafen), sondern politisch: Solange Milosevic die Sozialistische Partei kontrolliert und auf die Unterstützung von Freunden und Anhängern zählen kann, wird die Regierung in Belgrad weder in der Lage sein, den Staatsapparat zu reformieren noch Ordnung in die maroden öffentlichen Finanzen zu bringen.
Ein Prozess oder die Auslieferung sind notwendige Etappen auf dem Wege der politischen Heilung des Landes. ... Aber nach so vielen Fehlern, die der Westen im Jugoslawien-Konflikt in den vergangenen Jahren begangen hat, kommt es jetzt darauf an, den Serben zu helfen, sich von Milosevic zu befreien. Jedoch ohne dabei den Eindruck zu vermitteln, dass dies nur geschieht, weil irgendwer in einer westlichen Hauptstadt ein Ultimatum unterschrieben hat. ...
(01.04.2001)

die tageszeitung - taz
Man muss der serbischen Regierung und dem jugoslawischen Präsidenten zur Festnahme Slobodan Milosevicgratulieren. Zu solch einer Verhaftung gehört schon eine Portion Mut. Indem sie den früheren Diktator ausschaltet, gewinnt die neue Führung nicht nur an Autorität im Volk - sie beseitigt auch einen ständigen innenpolitischen Störfaktor, dessen Einfluss noch weit in den Apparat des Staats und der Armee hineinreicht...
Auch international sammelt die neue Führung Punkte. Der Zeitpunkt der Festnahme verrät, dass sich Präsident Kostunica und der serbische Premier Djindjic dem internationalen Druck gebeugt haben. Die USA hatten für die Festnahme eine Frist bis zum 31. März gesetzt. Wer mit Wirtschaftshilfe rechnen und in die internationalen Finanzinstitutionen zurückkehren möchte, der muss an Milosevic ran - das war die klare Botschaft an die Adresse Belgrads, die noch von der alten US-Administration unter Clinton ausgegeben worden ist. Dass die Europäer wieder einmal gezögert haben und von einem Junktim zwischen beiden Fragen nichts wissen wollten, zeigt erneut die Führungsschwäche innerhalb der EU auf. ...
Offen bleibt allerdings, ob die weiter gehende Forderung nach Auslieferung des mutmaßlichen Kriegsverbrechers an das Tribunal in Den Haag mit der gleichen Konsequenz verfolgt wird. Wer jetzt wie die Bush-Administration andeutet, die Verhaftung Milosevic sei schon ausreichend, um die wirtschaftlichen Beziehungen auf eine neue Grundlage zu stellen, begibt sich auf politisch ungewisses Terrain. Ließe man von der Forderung ab, den Diktator vors Kriegsverbrechertribunal zu stellen, brächte man sich selbst um die Früchte einer seit Dayton 1995 verfolgten Politik. Der internationalen Gemeinschaft gelang es, wenn auch unter großen Risiken - siehe den Kosovokrieg -, eine konsistente Strategie für die Etablierung demokratischer Regierungen und für die wirtschaftliche Integration des gesamten Balkans zu entwickeln.
... Den Haag ist der Platz für den Prozess gegen Milosevic. Dabei reicht es nicht, ihn wegen der Verbrechen im Kosovo anzuklagen - auch die Verbrechen in Bosnien und Kroatien müssen endlich gesühnt werden. In dieser Frage darf es keinen Kuhhandel geben.

junge welt
... Mit der Verhaftung von Milosevic ist dessen Flugticket nach Den Haag so gut wie gelöst. Um den letzten Anschein von staatlicher Souveränität zu wahren, haben die Belgrader Behörden das am Sonnabend abgelaufene amerikanische Ultimatum verstreichen lassen und den Angeklagten nicht direkt zum Flughafen gebracht. Es ist die Schamfrist, die sie sich ausgebeten haben, bevor sie das Kopfgeld von einer Milliarde Dollar kassieren.
Die Korruption in den internationalen Beziehungen, die Verwilderung der Sitten könnte augenscheinlicher nicht sein. Die Substanz des westlichen Wertesystem läßt sich am besten in Dollar bemessen. Für eine Milliarde Dollar mehr ist Belgrad bereit, die jugoslawienfeindliche Siegerjustiz zu akzeptieren und Kriegsverbrecher über Kriegsverbrechen urteilen zu lassen. Am Sonnabend präsentierte das serbische Fernsehen einen »neutralen Bericht« über serbische Kriegsverbrechen in Kroatien und Bosnien, was wohl als psychologische Vorbereitung auf ein Arrangement mit Den Haag gedacht war. Diese Neuschreibung der Opfer-Täter-Geschichte Serbiens erinnert an die Versuche der russischen Sieger über den Kommunismus, alles Übel der Welt dem sowjetischen Totalitarismus anzulasten und dabei auch noch den antifaschistischen Krieg der Völker der UdSSR aus dem Gedächtnis zu tilgen. Wird Milosevic ausgeliefert, steht er als einziger politischer Repräsentant der Balkan-Bürgerkriegsparteien vor Gericht. Serbien wäre damit das einzige Land, dessen politische Schuld zur Verhandlung stünde und nicht, wie bei Muslimen und Kroaten, die individuelle Schuld von Kriegsteilnehmern. Ein solches Schuldeingeständnis aus Belgrad benötigt die NATO, um ihren Aggressionskrieg zum siegreichen Ende zu bringen: der totalen, auch moralischen Unterwerfung Jugoslawiens.

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