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Wendezeit in Jugoslawien

Von Diana Johnstone

Die "Oktober-Überraschung", die uns einen Machtwechsel in Belgrad bescherte, bestand in Wirklichkeit aus zwei Ereignissen, die sich überlagerten. Das eine war eine demokratische Wahl, "made" in Serbien. Das andere Ereignis war ein völlig undemokratischer Putsch, "made" in der "internationalen Staatengemeinschaft", auch bekannt unter dem Namen NATO.

Die demokratische Wahl würde ausgereicht haben, Slobodan Milosevic zur Abdankung als jugoslawischer Präsident zu zwingen. Die Mehrheit der jugoslawischen Wähler hatte sich schon lange einen Wechsel in der Führung gewünscht und Vojislaw Kostunica stellte sich als eine annehmbare Alternative heraus.

Doch die von der NATO unterstützten Putschisten wollten mehr. Sie wollten zwei Dinge, welche die legalen Wahlen nicht liefern konnten: ein dramatisches Medienspektakel, das zur Wende gen Westen passen würde, und eine Machtübernahme, die über die beschränkten Befugnisse der jugoslawischen Präsidentschaft hinaus reicht.

Eine demokratische Wahl

Die Wahlen in Jugoslawien waren von Milosevic selbst angesetzt worden. Nach seiner Wahl als Präsident von Serbien in der ersten Mehrparteienwahl im Jahr 1990, befolgte der "Diktator" die konstitutionellen Regeln und verabschiedete sich von der serbischen Präsidentschaft am Ende seiner zweiten Amtszeit, worauf er vom jugoslawischen Parlament in das im Wesentlichen symbolische Amt des jugoslawischen Präsidenten gewählt wurde. Monate bevor die Wahlperiode für dieses Amt Mitte 2001 zu Ende gegangen wäre, setzte er einde Verfassungsänderung durch, die es ihm erlaubte wiedergewählt zu werden, allerdings in einer allgemeinen Wahl durch das Volk.

Milosevic war zu diesem Schritt verleitet worden durch Berater, die auf trügerische Meinungsumfragen verwiesen, wonach er im Herbst 2000 mit einer Mehrheit von 150.000 Stimmen rechnen könnte, d.h. bevor die Wähler wegen der zu erwartenden Not des Winters sich von ihm abwenden würden. Das ist vergleichbar mit dem Streich, der dem französischen Staatspräsidenten Jaques Chirac gespielt worden war. Chirac hatte ebenfalls in Erwartung eines Wahlsiegs vorgezogene Wahlen anberaumt, die dann aber seinen linken Widersachern unter Führung von Lionel Jospin zur Macht verhalf. In Paris geht sogar das Gerücht, dass es ein französischer Berater war, der Milosevic zu seinem fatalen Fehler drängte.

Kurz gesagt: Milosevic war kein "Diktator", sondern ein berechnender Politiker, der in einem Mehrparteiensystem, das er zum größten Teil selbst eingeführt hatte, im Amt bleiben wollte. Da ihm klar war, dass sich seine Popularitätskurve schon seit langem nach unten neigte, setzte er auf verschiedene Faktoren, die ihm helfen sollten, die zur Wiederwahl notwendigen 50 Prozent der Stimmen zu erhalten. Dies waren:
  • die chronischen Streitigkeiten der so genannten "demokratischen" (das heißt bürgerlichen) Opposition und die öffentliche Ablehnung ihrer wichtigsten Repräsentanten (insbesondere des Führers der Demokratischen Partei, Zoran Djindjic);
  • die Tatsache, dass der Präsident von Montenegro, Milo Djukanovic, auf jeden Fall zum Boykott der Wahlen aufrufen würde; dies gehörte zu seiner Sezessionsstrategie; ein solcher Boykott hätte aber zur Folge, dass nur Pro-Milosevic-Wähler überhaupt bereit wären zu den improvisierten Abstimmungslokalen zu gehen;
  • die Aussicht auf ein paar Hunderttausend sichere Stimmen von Wählern aus dem Kosovo (wo ethnische Albaner gewohnheitsmäßig die Wahlen boykottieren) und von den Streitkräften.
Da sie um ihre Schwäche wusste, behauptete die Opposition, nachdem sie zunächst lautstark baldige Wahlen gefordert und dann mit einem Wahlboykott gedroht hatte, Milosevic würde die Wahlen manipulieren. Das NATOland stimmte in den Chor ein und verkündte, die Wahlen in Jugoslawien würden weder fair noch frei sein und es sei sicher, dass Milosevic betrügen würde.

Doch dank eines normalen demokratischen Systems von Wahlbeobachtern aus mehreren Parteien, war ein Wahlbetrug in Wirklichkeit in Serbien selbst so gut wie unmöglich, ausgenommen höchstens unter den etwa hunderttausend Soldaten, die in den Kasernen wählen würden. Kosovo und Montenegro dagegen boten gewisse Betrugsmöglichkeiten, und zwar wegen der Obstruktionspolitik der Separatisten. Am Ende fehlten Milosevic immerhin 700.000 Stimmen. Das offizielle Resultat gab Kostunica über 48 Prozent der Stimmen in einem Rennen von fünf Kandidaten. Das lag nur geringfügig unter den 50 Prozent, die zum Sieg ausgereicht hätten, wies aber auf einen fast sicheren Erdrutschsieg in der Stichwahl gegen Milosevic hin, der um etwa 10 Prozentpunkte zurücklag. (Das jugoslawische Wahlgesetz sieht eine zweite Runde vor, wenn kein Kandidat in der ersten Wahl eine absolute Mehrheit erhält.)

Die Chance für die Putschisten

Das ist der Punkt, an dem beide Seiten zu einer Verwirrung beitrugen, die den Putschisten die Chance bot, die Wahl zu annulieren. Augenscheinlich geschockt gab die Regierung die Wahlergebnisse nur zögernd und ohne vollständige Einzelheiten bekannt. Die "Demokratische Opposition in Serbien (DOS), die Kostunica unterstützte, verlangte die Anerkennung des von ihr beanspruchten Sieges in der ersten Wahlrunde und kündigte den Boykott der Stichwahl an. Dies erhöhte die Gefahr, dass Milosevic wegen Nichterscheinen des Gegners in der Stichwahl siegen würde. Die Aussicht auf zwei Wahlsieger - einer in der ersten, der andere in der zweiten Runde - hätte eine gefährliche Bürgerkriegssituation heraufbeschwören können, die ein Eingreifen der NATO begünstigt hätte. Kostunicas Berater argumentierten, dass Milosevic, nachdem er in der ersten Runde betrogen hatte, auch in der Stichwahl betrügen würde. Dies war zwar wenig plausibel, wurde aber in dem Maße in breiten Kreisen geglaubt, als die Dämonisierung des früheren Führers und künftigen Sündenbocks an Schwung gewann.

Die DOS verlagerte deshalb den Kampf vom Wahllokal auf die Straße, wo "das Volk" nun die Anerkennung von Kostunicas Wahl verlangen sollte. Dies bereitete den Weg zu Macht - und zu Besitz. Inmitten von allgemeiner Konfusion und Gewalt sollten nun die Inhaber der Macht ausgetauscht werden.

Weder die Polzei noch die Armee war gewillt Milosevic gegen einen patriotischen Serben wie Kostunica zu unterstützen, hatte der doch die Unterstützung der Öffentlichkeit in einer legalen Wahl gewonnen. Ihre Neutralität schien sichergestellt zu sein durch den Einfluss von zwei Schlüsselfiguren, die Milosevic zwei Jahre zuvor ihrer Ämter enthoben hatte: der frühere Geheimdienstchef Jovica Stanisic und der frühere Generalstabschef Momcilo Perisic. Beide hatten ihre Freunde und Einfluss in der Polizei bzw. den Streitkräften behalten. Der Frontwechsel anderer Figuren, die zu Milosevics Machtzentrum gehört hatten, wurde beschleunigt durch Kostunicas wiederholte Versicherungen keine Rache ausüben zu wollen. Ehemalige Milosevic-Anhänger begannen sich haufenweise um Kostunica herum zu scharen. Sie suchten Schutz vor dessen kurzfristigem Wahlhelfer und langfristigem Rivalen Zoran Djindjic, von dem man weiß, dass er Deutschlands Mann in Serbien ist.

So gewann Kostunica die jugoslawische Präsidentschaft, weil er weder Milosevic noch Djindjic war. Aber Djindjic war auffallend aktiv darin, an den Grundlagen des Sieges des erfolgreichen Kandidaten der DOS zu rütteln.

Eine mediengerechte Inszenierung

Es ist durchaus möglich, dass Kostunica, der als ehrenwertester politischer Führer gilt, die Präsidentenwahl auch dann genauso glatt (manche Berater behaupten: noch glatter), gewonnen hätte, wenn es die Vereinigten Staten und ihre NATO-Verbündeten unterlassen hätten, Millionen von Dollars und "Deutschmark" in das Land zu pumpen, um die von ihnen so genannte "demokratische Opposition" zu unterstützen. Weit weniger wahrscheinlich ist es aber, dass wir ohne diesen Geldsegen auch Zeuge jenes Schauspiels der "demokratischen Revolution" vom 5. Oktober geworden wären, als eine große Menschenmenge die ehrwürdige Skupstina stürmte, das Parlamentsgebäude im Belgrader Stadtzentrum. Dieses Ereignis, der Weltöffentlichkeit als ein durch und durch spontaner Akt der Selbstbefreiung präsentiert, war von allen Ereignissen wahrscheinlich die am besten geplante Aktion. Sie wurde für die TV-Kameras inszeniert, welche die Szenen filmten und dieselben Szenen dann immer wieder übertrugen: Jugendliche, die durch Fenster einstiegen, wehende Fahnen, empor lodernde Flammen, Rauchwolken, die das verhüllten, was einige Zeitungen als "das Symbol von Milosevics Regime" beschrieben. glühende antikommunistische Das war totaler Blödsinn. Genauso gut könnte man Big Ben das "Symbol des Blair-Regimes" oder das Capitol das "Symbol von Clintons Regime" nennen. Doch die westlichen Geschichtenerzähler brauchten Symbole und Dramen für die letzte Episode der TV-Top-Serie über die 90er Jahre mit dem Hauptdarsteller Slobodan Milosevic, dem "völkermordenden Diktator". Es reichte nicht aus, dass der "letzte kommunistische Diktator Europas" einfach eine demokratische Wahl verlor. Es musste eine Steigerung geben. Also versuchte man, ein zehn Jahre zurück liegendes Erfolgsdrama wiederzubeleben: den Sturz Ceaucescus, der ebenfalls arrangiert und inszeniert worden war. Wenn Milosevic und seine Frau dasselbe Schicksal ereilen würde wie das regierende Paar in Rumänien, so wäre das für die Medien ein hinreichender "Beweis" dafür, dass sie ein ebenbürtiges Pendant zum Diktatorenpaar von Bukarest sind.

Sie waren es aber nicht und glücklicherweise wiederholten sich auch nicht die Eregnisse von damals. In Belgrad gab es nichts mit der Securitate (Rumäniens Geheimpolizei) Vergleichbares, um ein solches Drama zu inszenieren. Hier gab es nur eine Schlägertruppe, die mit Bussen aus Cacak herangekarrt wurde (so prahlte der Bürgermeister der Stadt später gegenübr den westlichen Medien), die den Mob die Stufen zur Skupstina hinauf führte und ungehindert in das kaum bewachte Gebäude eindringen konnte. Das Parlamentsgebäude wurde systematisch verwüstet und in Brand gesteckt, was beträchtlichen Schaden an öffentlichem Eigentum anrichtete. Danach machten sich die Befreier daran, Schaufensterscheiben einzuwerfen und Eigentum in den nahegelegenen Einkaufsstraßen zu rauben. Obwohl die Vandalen ihr Bestes gaben, führte dies nicht zu dem provozierten Blutvergißen, das die TV-Show zweifellos verbessert hätte.

Der Bürgermeister von Cacak, Velimir Ilic, ein glühender Antikommunist, erzählte der französischen Nachrichtenagentur AFP, dass sein bewaffnetes "Kommando" von 2.000 Mann ganz gezielt am 5. Oktober zusammengestellt worden sei, um "die Kontrolle über die zentralen Institutionen des Regimes zu gewinnen, einschließlich Parlament und Fernsehen".Weiter sagte er zu AFP: "Unsere Aktion wurde von langer Hand vorbereitet. Unter meinen Männern befanden sich ehemalige Fallschirmspringer, frühere Armee- und Polizeioffiziere sowie Männer, die in Spezialeinheiten gekämpft hatten." "Einige trugen kugelsichere Westen und trugen Waffen", fügte er stolz hinzu. Ilic sagte, der Kontakt während der ganzen Aktion sei aufrecht erhalten worden durch hohe Polizeibeamte und Beamte des Innenministeriums, dass aber Kostunica nicht gewusst habe, was vor sich ging. "Wir hatten Angst, dass er etwas dagegen hätte", sagte Ilic. Und tatsächlich, wäre etwas von dem an sein Ohr gedrungen, was sich hier abspielte, hätte Kostunica - nach allem, was man hört - alle Kommandos verhindert, die darauf hinausliefen, Jagd auf Milosevic zu machen und dem Schauspiel in blutiges Finale anzufügen. In einigen dieser ehemaligen "Spezialeinheiten"-Kommandos fanden sich Veteranen der Bürgerkriege in Kroatien und Bosnien zusammen. Der Gipfel der Ironie liegt in der Tatsache, dass solche Paramilitärs, die früher verantwortlich für den (ungerechtfertigten) schlechten Ruf der Serben als "ethnische Säuberer" und Kriegsverbrecher waren, nun von den westlichen Medien umstandslos zu Helden einer begeisternden "demokratischen Revolution" befördert wurden. Doch darin liegt eine Logik: Ein und dieselbe kleine Gruppe von Männern kann für die Weltmedien eine übersteigerte Karikatur "des Serben" abgeben, das eine Mal als Verbrecher, das andere Mal als Helden.

Die Durchschnittsbürger Belgrads missbilligten die Gewalt vom 5. Oktober genauso wie sie die Gewalt der Bürgerkriege missbilligten. Und die großen Menschenmassen, die sich auf Belgrads Plätzen versammelten, um ihren Kandidaten, Kostunica, zu unterstützen, waren herrlich ahnungslos, wie sie als Beigaben in einer internationalen TV-Produktion benutzt wurden.

Gewalt gegen Stimmen

Den gesetzestreuen Bürgern Belgrads war auch verborgen geblieben, dass die Euphorie in den Straßen einen Schutz bildete für die fortdauernde Kampagne der Gewalt und Einschüchterung, die darauf abzielte, die ganzen Machtstrukturen in Serbien zu verändern - außerhalb jedes demokratischen oder legalen Prozesses. Die Skupstina, die das Ziel für den Vandalismus abgab, war keineswegs "das Symbol des Milosevic-Regimes", sondern ein Parlament, in dem die Sozialistische Partei und ihre Koalitionspartner immer noch über eine ordnungsgemäß gewählte Mehrheit verfügte. Die "demokratische Revolution" in den Straßen griff keine "Bastille" an um Dissidenten zu befreien, sondern den Sitz der demokratisch gewählten Volksvertreter. Der Mob plünderte und brandschatzte auch in den Büros der Bundeswahlkommission im Parlamentsgebäude. Berichten zufolge verbrannten dabei auch Stimmzettel, die hier aufgehoben wurden, sodass es sehr unwahrscheinlich ist, dass das Ergebnis der umstrittenen ersten Wahlrunde jemals befriedigend aufgeklärt werden kann.

Das Schauspiel gab den Rädelsführern der Gewalt in den Straßen die Möglichkeit, die "demokratische Revolution" als ihr Eigentum auszugeben. Gleichzeitig begannen die offenen Versuche, Kostunica zu einer reinen Galionsfigur zu degradieren.

Seitdem wurden überall im Land Büros der Sozialistischen Partei überfallen und demoliert, Funktionäre wurden von Banden der "Demokraten" geschlagen und aus ihren Funktionen verjagt. Die lukrativsten Unternehmen wurden übernommen. Ohne jedes demokratische Mandat wurden seltsame Nebenregierungen eingerichtet, die sich "Krisenstäbe" nannten und Besitz und Ämter neu verteilten. Die "Revolutionäre" können sicher sein, dass die NATO-Wohltäter von der serbischen Demokratie ihr Geld so lange nicht zurück fordern werden, als siedie Linke im Visier behalten, die nur mit dem "Milosevic-Regime" identifiziert wird. Die Lektion ist klar: "Demokratie" definiert sich nicht aus Wahlen, sondern aus der Zustimmung der NATO. Die Methoden spielen keine Rolle. Der Zweck heiligt die Mittel.

Deutsch-französische Rivalitäten

Während des ganzen jugoslawischen Dramas des letzten Jahrzehnts, ganz zu schweigen vom letzten Jahrhundert, spiegelten sich in den internen Konflikten externe Rivalitäten zwischen den großen Mächten wider. Dies setzt sich heute fort.

Unter den rivalisierenden Mächten spielt Russland kaum noch eine Rolle. Die Russen haben durch das Aufsaugen Serbiens durch den Westen mehr zu verlieren, als die Serben von den Russen zu gewinnen haben. Russland ist zu geschwächt, um irgend etwas gegen die stetige Erosion seines Einflusses auf dem Balkan unternehmen zu können. Ein Beobachter drückte es so aus: "Die Serben haben den Eindruck, dass die Russen nur ihre Armut teilen wollen, während die Serben lieber Amerikas Wohlstand teilen würden."

Heute kommen die rivalisierenden Mächte alle aus dem Westen. Vor wenigen Jahren versuchte Paris Vuk Draskovic zu unterstützen, und zwar sowohl gegen Milosevic auf der einen, als auch gegen die Deutsche Partei (vertreten durch Djindjic) auf der anderen Seite. Draskovic erwies sich allerdings als zu unzuverlässig. Heute besteht die eigentliche Rivalität zwischen Kostunica, der von Frankreich, und Djindjic, der von Deutschland unterstützt wird.

Diese Spaltung ist gleichermaßen eine Frage des politischen Prinzips wie der Persönlichkeit und beruht auf gegensätzlichen Vorstellungen Frankreichs und Deutschlands über die Zukunft Europas. Kostunica, so wird ständig wiederholt, ist ein "Nationalist" oder vielleicht ließe sich sagen: ein Patriot, der seinen Nationalstaat erhalten möchte, indem er ihm eine neue, moderne demokratische Verfassung verleiht. Als ein Zögling des amerikanischen Föderalismus würde er sich für die politische Ordnung des künftigen Jugoslawien am Modell Amerikas des 18. Jahrhunderts orientieren.

Für Djindjic ist das alles altmodischer Kram, gut höchstens für den Moment des Übergangs zur Auflösung aller Balkanstaaten und ihrem Aufgehen in einer modernen Europäischen Union, in der die Politik nur eine zweite Geige hinter der Wirtschaft spielen wird. Djindjic, der in Deutschland studierte, glaubt an die "Zivilgesellschaft", in der die Privatsphäre mehr Gewicht hat als die "res publica" und in der das öffentliche politische Leben nur noch auf Symbolik reduziert wird. Der Konflikt zwischen Kostunica und Djindjic läßt sich so zusammenfassen: Geschäft oder Politik. Kostunica hat vor, nur ein Jahr im Amt zu bleiben, gerade die Zeit, die er braucht um seine Verfassungsreform zu verwirklichen. Von da an hofft Djindjic, der diese Wahl nie gewonnen hätte, auf eine Übernahme der Macht.

Die Donau und die deutsche Wirtschaft

Viele Jahre galt die Deutschmark als die heimliche Zweitwährung in Serbien. Sie wurde an jeder Straßenecke von "Devisen, Devisen" flüsternden Männern gehandelt. In den Wochen vor dem Sturz Milosevics, flossen so viele D-Mark in das Land, dass die heiß geliebte Währung bis vor kurzem sogar die Hälfte ihres Werts verlor. Jeder glaubt, dass das meiste Geld über Djindjic herein kam. Es scheint so, als sei damit weniger der Wahlkampf finanziert worden (jugoslawische Wahlkämpfe sind längst nicht so kostspielig wie in den USA) als vielmehrdie Vorbereitung des auf ihn folgenden Putsches: die entschlossene Übernahme von Medien durch "unabhängige" (d.h. der NATO genehme) Journalisten und von wichtigen Unternehmen und Ämtern - ein Prozess, der seit der Brandstiftung in der Skupstina am 5. Oktober anhält.

Die Europoäische Union reagierte rasch und hob einige Wirtschaftssanktionen gegen Serbien auf. Auch Madeleine Albright verkündete, dass es notwendig sei, dem serbischen Volk "einige Dividenden aus der Demokratie" zukommen zu lassen und Präsident Kostunica zu helfen. "Wir möchten ihm helfen", erklärte sie, "wir wollen ihm Beistand leisten. Ich habe mit unseren europäischen Partnern gesprochen. Wir werden einige Wirtschaftssanktionen aufheben um sicherzustellen, dass das Volk sich erholt und die Donau wieder frei wird."

Das Schlüsselwort ist die "Donau". Die NATO-Bombardierungen zerstörten serbische Brücken und blockierten die Donau für die europäische Schiffahrt, die vorwiegend von Deutschland betrieben wird. Die Öffnung der Donau hat für Deutschland Priorität und zu diesem Zweck werden bedeutende Gelder bereit gestellt. Um genau zu sein: Die Gelder werden verliehen: Westliche Großzügigkeit mündet auch hier in die gewohnte Form der "Schuldenfalle". Die öffentlichen Dienste in Jugoslawien werden auf Jahre gekürzt werden müssen, um den Westmächten den Wiederaufbau der Verkehrs- und Transportinfrastruktur bezahlen zu können, die sie selbst zerstört hatten. Die wieder hergestellte Verkehrsinfrastruktur wird gebraucht, um anderer Leute Waren durch das Land in anderer Leute Märkte zu transportieren. Die "demokratische Dividende" wird somit vor allem der deutschen Wirtschaft nützen.

Alte Probleme - neue Probleme

Doch im Augenblick wollen sich die serbischen Wähler die Laune dadurch nicht verderben lassen. Sie wurden bombardiert, isoliert, mit Sanktionen belegt, durften nicht ins Ausland reisen, wurden in die Armut zurück geworfen und als Parias behandelt. Ihr größtes "Verbrechen" bestand darin, dass sie ein multiethnisches Jugoslawien aufrechterhalten wollten und sich weigerten, die Vorteile und den Nutzen der sozialistischen Selbstverwaltung gegen die Schocktherapie einzutauschen, welche die Menschen in Russland und im benachbarten Bulgarien verarmen ließ. Da Jugoslawien nicht zum sowjetischen Block gehörte, merkte die Bevölkerung erst allmählich, dass die Niederlage des Ostblocks auch für sie bedeutete, nun nach der Pfeife des Westens zu tanzen. Jetzt können sie davon träumen, wieder "normale" Europäer zu sein. Für eine kleine Minderheit wird sich der Traum vom Wohlstand zweifellos erfüllen. Die anderen werden einige unangenehme Überraschungen erleben. Im Moment spielt das aber keine Rolle. Die Menschen hatten genug davon, dass man ihnen monatelang die Gehälter nicht zahlte, dass sie nur einen Raum in ihrer Wohnung heizen konnten, sie waren der Entbehrungen und der Reisebeschränkungen überdrüssig. Vor allem junge Leute wollen so leben wie andere Europäer ihrer Generation.

"Die Menschen in Serbien wollen die Wahrheit nicht hören", meint der serbische Schriftsteller Milan Ratkovic, der in Paris lebt. "Sie wollen tröstliche Lügen hören." Nachdem sie lange als Ungeheuer hingestellt wurden, werden sie in den Westmedien plötzlich als Helden gefeiert. Sie können westliche Fernsehkanäle einschalten und heroische Bilder von sich selbst anschauen. "Sehen Sie", sagt Ratkovic, "wir hielten länger durch als alle anderen in Osteuropa. Der Westen hat all seine Waffen und Tricks gegen uns eingesetzt." - Manchmal besteht der einzige Weg Probleme zu lösen, darin, sie gegen andere Probleme auszutauschen.
(Aus dem Englischen übersetzt und mit Überschriften versehen von Peter Strutynski)

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