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"Die da drüben sind illegal"

Das geteilte Zypern steht im Spannungsfeld zwischen Unnachgiebigkeit und Vergebung

Von Christiane Sternberg, Nikosia *

Sie wissen nicht: Sollen sie einen Neuanfang wagen? Oder die alten Wunden rächen? Zyperns Bewohner sind nach 40 Jahren Besetzung auch innerlich ein geteiltes Volk.

Laut hupend bahnt sich ein Motorradkonvoi den Weg durch den samstäglichen Einkaufsverkehr in Süd-Nikosia. An der Kreuzung sorgt eine Polizeieskorte für Vorfahrt und die zwei Dutzend Motorräder biegen in die große Allee ein. An den schweren Maschinen flattern zyprische und griechische Flaggen im Fahrtwind.

Die motorisierte Prozession erinnert an zwei junge Männer, die vor achtzehn Jahren bei einer Protestaktion gegen die türkische Besatzung ums Leben kamen: Tassos Isaak wurde nach seinem Eindringen in die Pufferzone von türkischen Nationalisten erschlagen. Sein Cousin Solomos Solomou erstieg den Fahnenmast eines türkischen Postens, um die Flagge niederzureißen – er wurde dabei erschossen. In der Republik Zypern gelten die beiden als Nationalhelden. Jedes Jahr im August führt die Gedenkfahrt quer durch den Süden der Insel. An der Ampel zwischen den wartenden Fußgängern klatschen zwei junge Männer Beifall und rufen: »I Kypros ine elliniki!«, Zypern ist griechisch. Der alte Mann neben ihnen schüttelt unwillig den Kopf. »Lasst die Toten ruhen«, murmelt er.

Unnachgiebigkeit oder Vergebung, in diesem Spannungsfeld befinden sich alle Zyprer, wenn es um das Schicksal ihrer Heimat geht. Seit vierzig Jahren ist die Insel geteilt. Im Laufe der Jahrzehnte wurde die verfahrene Situation einschließlich ihrer Ursachen auf die handliche Formel »Zypern-Problem« gestutzt. Doch sie ist ein Knäuel aus emotionalen, völkerrechtlichen, juristischen und politischen Fäden, die kaum zu entwirren sind. Durch fast jede Familie verläuft ein Graben zwischen denjenigen, die der anderen Seite nicht über den Weg trauen, und denen, die bereit sind für einen Neuanfang. Die junge Generation ist mit der Trennung des Landes aufgewachsen. In der Schule wurden die Gräueltaten der anderen Volksgruppe gelehrt und in der Armee werden die Rekruten mit markigen Kampfparolen ausgestattet. Die jungen Soldaten, die sich an der Greenline zum Teil nur wenige Meter entfernt gegenüberstehen, brauchen schließlich ein Feindbild. Da fällt es schwer, sich vorzustellen, plötzlich in einem gemeinsamen Staat leben zu müssen.

Der ist ohnehin nicht zum Greifen nah. Die Verhandlungen um eine Wiedervereinigung, die im Februar dieses Jahres in eine neue, hoffnungsvolle Runde gegangen sind, stecken fest. Nicht einmal über den kleinsten gemeinsamen Nenner können sich die Gesprächsparteien einigen: Was ist eigentlich eine bizonale, bikommunale Föderation, die die Staatsform der angestrebten Vereinigten Republik Zypern werden soll?

Bei der griechisch-zyprischen Bevölkerung erregt vor allem die Frage nach der Rückgabe verlorenen Besitztums die Gemüter. Tausende mussten beim Einmarsch der türkischen Armee 1974 alles zurücklassen. »Ich will das Haus meiner Eltern zurückhaben«, sagt Panikos Vassiliou, »da gibt es gar keine Diskussion.« Der Ingenieur sitzt mit Freunden bei einer Tasse Kaffee in der Ledrastraße im Herzen der Hauptstadt Nikosia. Nur fünfzig Meter vom Café entfernt teilt ein Checkpoint die Flaniermeile und markiert den Übergang von der Republik Zypern in die völkerrechtlich nicht anerkannte Türkische Republik Nordzypern. Eine lange Schlange von Besuchern, die im Norden bummeln und preiswert shoppen wollen, drängt sich an dem Visumshäuschen der türkisch-zyprischen Seite. Von Süden her besteht sozusagen freier Eintritt ohne Ausreisekontrollen, denn diese Greenline, die beide Teile der Insel trennt, wird von den Zyperngriechen nicht als Grenze anerkannt. »Das ist eine Demarkationslinie«, erklärt Panikos. »Dort drüben ist besetztes Gebiet und die illegale Polizei hat gar kein Recht, unsere Pässe zu kontrollieren.« Der Mittfünfziger redet sich in Rage, angespornt von seinen umsitzenden Freunden. Alle vier waren noch nie im Norden, obwohl seit 2003 schon sieben Übergänge zwischen beiden Landesteilen existieren. »Ich zeige doch in meinem eigenen Land nicht meinen Pass vor!«, entrüstet sich Panikos.

Laut Umfragen war ein Drittel der Zyperngriechen noch nie auf der anderen Seite. Die türkisch-zyprischen Bewohner der Insel machen von der Freizügigkeit mehr Gebrauch. Etwa vierzig Prozent kommen regelmäßig in den Süden, um einzukaufen oder Ämter aufzusuchen. Denn sie sind nach wie vor auch Bürger der Republik Zypern und haben unter anderem Anspruch auf einen Ausweis, der sie zum EU-Bürger macht. Damit reist es sich einfacher als mit einer Identitätskarte eines nicht anerkannten Staates.

Aber die Wirtschaftskrise, die im März 2013 die Republik Zypern mit voller Wucht traf, hat auch Auswirkungen auf die Normalität im Umgang von Zyperngriechen und Zyperntürken. Letztere haben neuerdings keinen Anspruch mehr auf kostenlose medizinische Betreuung. »Bisher haben wir für Gesundheits-Checks meiner Eltern immer eine Klinik im Süden aufgesucht«, erzählt Gülden Gürdür. »Aber auf einmal sollen wir dafür zahlen.« Die junge Frau steht ratlos vor dem griechisch-zyprischen Gesundheitsministerium. Eine Beamtin habe ihr eben erklärt, dass freie Fürsorge nur noch nach strengen Kontrollen des Familieneinkommens gewährt wird. Und da die nötigen Auskünfte vom »illegalen Regime« im Norden nicht bezogen werden könnten, werden diese Vergünstigungen für alle türkischen Zyprer gestrichen.

Seit es der Republik Zypern finanziell schlecht geht, fallen solche politisch motivierten Großzügigkeiten für die Zyperntürken weg. Die Vorgaben für Einsparungen im Staatshaushalt kommen von der Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds, die kontrolliert, ob der EU-Mitgliedsstaat die Bedingungen für den Zehn-Milliarden-Euro-Kredit aus dem EU-Rettungsschirm einhält. Die Arbeitslosigkeit hat sich in den letzten drei Jahren verdoppelt und liegt im Sommer 2014 bei 15,3 Prozent. Es gibt eine neue Armut, die 48 000 Bedürftige von Suppenküchen und anderen Wohlfahrtseinrichtungen abhängig macht. Insgesamt 45 Prozent aller laufenden Kredite können nicht bedient werden und das drohende Gesetz über die Pfändung von Häusern bei Zahlungsunfähigkeit schürt die Existenzängste. Aktuelle Umfragen zeigen, dass sieben von zehn Zyperngriechen sich mehr Sorgen um ihre ökonomische Situation machen als um das Zypernproblem.

Es gibt derzeit viele wirtschaftliche Argumente, mit denen sich Zyprer aus Nord und Süd gegen eine Wiedervereinigung aussprechen. Die einen fürchten einen Zulauf zusätzlicher Arbeitskräfte, die ihnen die ohnehin schon wenigen Stellen streitig machen. Die anderen wollen sich nicht mit in den Abgrund reißen lassen. »Warum sollten wir uns mit diesem Pleitestaat vereinigen?«, fragt Hasan Davotoglu, der in Famagusta eine florierende Druckerei betreibt. »Wir bekommen finanzielle Spritzen von der Türkei und müssen dafür keine Auflagen erfüllen.« Die Sehnsucht nach Einheit ist bei vielen Zyperntürken geschrumpft.

Doch als Gegengewicht zu den negativen und resignierten Stimmen auf der Insel machen sich vermehrt bikommunale Initiativen stark. Nicht mehr nur Chöre und friedensbewegte Künstler schließen sich zu gemeinsamen Aktionen zusammen. Bürger aus beiden Teilen des Landes feiern erstmals wieder gemeinsame Feste, wie im Juni den Kataklysmos in Famagusta. Vereine bieten kostenlose Sprachkurse für Griechisch und Türkisch an und selbst die Fußballverbände der beiden Landesteile wollen künftig unter einem gemeinsamen Dach fungieren. Neu ist, dass auch Wirtschaftsgremien einen Schulterschluss vollziehen. Die Handelskammern von Nord- und Südzypern, Griechenland und der Türkei beschlossen im Juni die Gründung eines gemeinsamen »Nikosia Wirtschaftsforums«. Wichtiger Hintergrund für das Engagement der Wirtschaft sind die Öl- und Gasreserven vor der Küste Zyperns, die langfristig via Pipeline durch die Türkei nach Europa transportiert werden könnten. Grundvoraussetzung dafür ist allerdings die Lösung des Zypernproblems. Vielleicht schafft ja das Geld, was die Vernunft seit vierzig Jahren nicht zuwege bringt.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch 13. August 2014


Zyperns Weg in die Teilung

Am 14. August jährt sich die Besetzung Zyperns zum 40. Mal

Von Christiane Sternberg, Nikosia **


Zypern wurde nicht über Nacht geteilt – der Besetzung ging ein Kampf der Zyprer um Unabhängigkeit und Selbstbestimmung voraus.

Nach dem Zweiten Weltkrieg forderten die griechischen Zyprer ein Ende der britischen Kolonialherrschaft und Anschluss an Griechenland. Für die türkischen Zyprer, die etwa 18 Prozent der Bevölkerung ausmachten, war das völlig inakzeptabel. Als London Zypern die Unabhängigkeit verwehrte, kam es zur Rebellion gegen die Kolonialmacht. Und auch zwischen den Bevölkerungsgruppen eskalierte die Gewalt. Die griechisch-zyprische Geheimorganisation EOKA, die gegen die Briten kämpfte, trat für den Anschluss an Griechenland ein. Auf der türkisch-zyprischen Seite machte sich die paramilitärische Organisation TMT für eine Teilung der Insel stark. Die nationalistischen Kräfte unterminierten die Gesellschaft, beide Volksgruppen befehdeten sich heftig.

Am 16. August 1960 entließ Großbritannien die Insel in die Unabhängigkeit. Am 1. Oktober desselben Jahres wurde die Republik Zypern proklamiert. Griechenland, Großbritannien und die Türkei fungierten als Garantiemächte, die über die Einhaltung der Verfassung wachen sollten. Diese bestimmte beide Volksgruppen als gleichberechtigte Regierungspartner, unabhängig von ihrem prozentualen Anteil in der Gesellschaft. Präsident Makarios legte drei Jahre später einen Plan vor, der die türkischen Zyprer wieder auf ihre Rolle als Minderheit reduziert hätte. Im Dezember 1963 kam es daraufhin zu Gewalt zwischen beiden Volksgruppen, die 1964 zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führte. Die Vereinten Nationen schickten ein Kontingent nach Zypern, um die Situation zu befrieden. Die Zyperntürken zogen sich zu ihrem eigenen Schutz in Enklaven zurück, die von den griechischen Zyprern über Jahre mit einem Wirtschaftsembargo belegt wurden.

Als 1974 griechisches Militär gegen den zyprischen Präsidenten Makarios putschte, nahm die Regierung in Ankara diesen Bruch der Verfassung zum Anlass für ein militärisches Eingreifen. Der britische Garantiepartner lehnte eine Beteiligung ab. Im Morgengrauen des 20. Juli 1974 begann die Landung der türkischen Armee, die zum Ziel hatte, die türkisch-zyprischen Enklaven zu sichern. Doch aus der Intervention wurde beim zweiten Vorstoß am 14. August 1974 eine Invasion, bei der die türkische Armee 37 Prozent des Territoriums besetzte und die faktische Teilung der Insel herbeiführte. Die türkischen Streitkräfte wurden nicht wieder abgezogen. Bis heute sind rund 40 000 Soldaten in Nordzypern stationiert.

Ein Jahr später, 1975, erfolgte ein Bevölkerungsaustausch – der Norden blieb den Zyperntürken, der Süden den Zyperngriechen. Am 15. November 1983 wurde die Türkische Republik Nordzypern gegründet, die völkerrechtlich nur von der Türkei anerkannt wird.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch 13. August 2014


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