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Pyla lässt einen Hoffnungsfunken glimmen

Noch immer leben Griechen und Türken auf Zypern voneinander getrennt

In einem einzigen Dorf bei Larnaka wohnen sie Haus an Haus. Über die einzigartige Koexistenz in Pyla-Pile wacht der UNO-Posten 129.

Von Wolfgang Weiss*

Der 3. Oktober ist nicht nur für die Deutschen ein wichtiges Datum. An diesem Tag sollen auch die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei beginnen. Eine der Voraussetzungen für deren erfolgreichen Abschluss ist die Anerkennung der Republik Zypern als souveräner Staat durch Ankara. Die jüngere Geschichte der geteilten Mittelmeerinsel weist Schnittstellen mit der deutschen auf.

Die wahrscheinlich größte Fahne der Welt befindet sich auf der Mittelmeerinsel Zypern. Sie ist 165 Meter lang und an die 100 Meter hoch. Jeder, der die Autobahn vom internationalen Flughafen Larnaka in Richtung Hauptstadt Nikosia benutzt, fährt an ihr vorbei. Es ist eine türkische Fahne, gemalt auf die nackten Felsen an der Demarkationslinie zwischen dem türkisch okkupierten Teil der Insel und dem griechisch-zyprischen Staat. Darunter liest man einen Ausspruch Atatürks: »Ich bin stolz, ein Türke genannt zu werden!«

Für griechische Zyprer stellt dieses Monument eine permanente Provokation dar. Immer wieder haben sie auf eine Beseitigung der »arroganten Zurschaustellung türkischer Macht«, wie es hier heißt, gedrängt. Es gab auch schon diesbezügliche Zusagen, aber dann wurde die Fahne plötzlich erneuert – mit leuchtenderen Farben als je zuvor.

Vermisste Menschen, verwaiste Häuser

In Lefkosia, wie die Inselhauptstadt von den griechischsprachigen Bewohnern genannt wird (die Türken sagen Lefkosa) prallen die Probleme des geteilten Landes und der geteilten Kapitale unmittelbar aufeinander. Seit der türkischen Besetzung von rund 37 Prozent des zyprischen Territoriums im Norden und Osten im Jahre 1974 und der anschließenden Stationierung von mehr als 30 000 türkischen Soldaten sichern UNO-Truppen die Grenze (Green Line) zwischen beiden Inselteilen. Für den Besucher aus Berlin gibt es ein beklemmendes »Déjà-vu«-Erlebnis, wenn er sich in der malerischen Altstadt Nikosias der Demarkationslinie nähert. Da endet plötzlich abrupt eine Straße an einer Mauer, auf der ein Blauhelm-Posten mit Schießscharten und Sandsäcken eingerichtet ist. Die Häuser zu beiden Seiten des UNO-Postens sind leer und dem Verfall preisgegeben. Noch trostloser ist der Anblick auf türkischer Seite. Ganze Straßenzüge sind hier offensichtlich seit Jahrzehnten verwaist, die Häuser teilweise eingefallen.

Trotz vieler Warn- und Verbotsschilder kann man sich heute in Nikosia der Grenze an vielen Stellen unbedenklich nähern. An den offiziellen Übergängen herrscht sogar ein reges Kommen und Gehen. Viele der Passanten sind allerdings Gastarbeiter aus asiatischen Ländern, die im griechischzyprischen Teil ihr Geld verdienen und im billigeren türkischen Teil leben.

Vom Shacólas-Tower inmitten der geschäftigen Innenstadt Nikosias hat man einen überwältigenden Panoramablick über die Dächer der einzigen noch geteilten Stadt Europas. Hier, im 11. Stockwerk, befindet sich die »Ledra«, eine Kombination von Museum und Aussichtsturm. Ferngläser liegen zur Ausleihe bereit, damit sich die Besucher jeden Stadtteil und jedes Gebäude in die Nähe rücken können.

Unübersehbar, auch ohne Fernrohr, sind zum Beispiel die beiden Minarette, die im türkischen Teil die Ruine der Sophien-Kathedrale flankieren. Zwischen den Türmen wehen riesige türkische und türkisch-zyprische Flaggen.

Die türkische Invasion von 1974 hat bei den rund 670 000 Inselgriechen tiefe Spuren hinterlassen, wirkt noch immer wie ein Trauma. Es gibt praktisch keine Familie, die nicht in irgendeiner Form darunter gelitten hat, sei es durch Vertreibung, Enteignung oder den Tod naher Angehöriger. Besonders tragisch ist das Schicksal der Vermissten. Noch immer werden weit über 1000 Menschen seit der Okkupation gesucht. In Nikosia, am Hauptgrenzübergang, erinnert eine Tafel mit Fotografien an sie. Auch ein »Wunschbaum« ist hier mit Bildern verschollener Angehöriger geschmückt. Bei Limassol, der zweitgrößten Stadt Zyperns, gibt es ein ganzes »Wäldchen der Vermissten«. Für jeden von ihnen wurde hier ein Baum gepflanzt.

Als mahnendes Symbol der traumatischen Ereignisse von 1974 gilt Ammochostos, besser bekannt unter dem Namen Famagusta. Diese einst blühende Hafen- und Touristenmetropole, wo schon 1300 v.u.Z. Menschen siedelten, ist heute eine Geisterstadt. In der Pufferzone am Stadtrand stehen noch immer Fahrzeuge – oder das, was davon nach 30 Jahren übrig geblieben ist – so wie sie damals in Panik verlassen wurden. Im ehemaligen Hotelviertel wuchern Gesträuch und Unkraut, blicken leere Fensterhöhlen auf verwaiste Strände. Tausende Urlauber aus dem neu entstanden Touristenzentrum Agia Napa kommen jährlich zu einer in Grenznähe entstandenen Aussichts- und Gedenkstätte, um einen Blick auf die Geisterstadt zu werfen.

»Wie lange habt ihr gewartet?«

Taxi-Fahrer Georgios Anaxagoras ist wie die meisten seiner griechischsprachigen Landsleute davon überzeugt, dass die Insel wieder vereint und er in seine Heimatstadt Famagusta zurückkehren kann. »Wie lange«, fragt er den deutschen Fahrgast herausfordernd, »habt ihr auf die Vereinigung gewartet?« Entscheidende Anstöße, so hofft er, müssten von außen kommen. Die Europäische Union, der der griechisch-zyprische Inselteil seit vergangenem Jahr angehört, müsse Druck auf die Türkei ausüben. Warum, so fragt man sich immer öfter beiderseits der Demarkationslinie, sollen Inselgriechen und Inseltürken (88 000) nicht friedlich zusammenleben, zum Beispiel in einer Föderation.

Pyla, ein kleines Dorf östlich von Larnaka, gilt manchen als Beispiel. Hier, an einem strategisch wichtigen Punkt inmitten der Pufferzone zwischen Nord und Süd, leben griechische und türkische Zyprer noch wie eh und je gut nachbarlich – nein, nicht zusammen, aber nebeneinander. Als 1974 rund 200 000 Griechen ihre Heimatdörfer im Norden verlassen mussten und 45 000 Türken vom Süden in den Norden getrieben wurden, waren die rund 300 türkischstämmigen Einwohner Pylas einfach in ihrem Heimatdorf geblieben, das sie türkisch Pile nennen. Sie kommen mit den 1000 griechischen Dorfbewohnern aus, haben eine eigene Schule, einen eigenen Interessenvertreter in der Verwaltung und können ihre eigene Moschee besuchen.

Marginalie in einer langen Geschichte?

Über diese in Zypern bisher einzigartige Koexistenz wacht auch der UNO-Posten 129, der sich auf dem Dach über einem ehemaligen Café befindet. Von der Ankunft der vorher nicht angemeldeten Journalistengruppe aufgeschreckt, greift der slowakische Soldat, der gerade Dienst hat, zum Telefon, um seine Vorgesetzten zu informieren. Wenig später erscheint eine freundliche Sergeantin aus Australien, um über den üblichen Dienstweg für Besuche der schreibenden Zunft im Grenzgebiet zu informieren.

Die alten Männer, die im griechischen Café am Marktplatz Zeitung lesen oder sich dem Brettspiel widmen, nehmen derweil kaum Notiz von den Besuchern. Ganz anders die Gäste im türkischen Café schräg gegenüber. Hier sind es vor allem Jugendliche, die in unbeholfenem Englisch auf sich aufmerksam zu machen suchen.

In Pyla-Pile spiegelt sich die mehrtausendjährige Geschichte Zyperns. Hier siedelten schon im Neolithikum vor 6000 Jahren Menschen. In der Bronzezeit wurde in der Gegend Erz abgebaut, an die Küste transportiert und in andere Landesteile verschifft. Im Mittelalter entstand hier ein trutziger Wachturm, der gerade aufwendig mit Mitteln der Europäischen Union rekonstruiert wurde. Bei einer so langen Historie, das ist den Zyprern beider Volksgruppen jedenfalls zu wünschen, bleibt auch die türkische Invasion letztlich nur eine Marginalie.

* Aus: Neues Deutschland, 1. Oktober 2005


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