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Feuer und Wasser

Vom mühsamen Weg zur Selbstbestimmung, oder: Bewaffneter Kampf – ja oder nein? Zu Besuch bei der Polisario in den befreiten Gebieten der Westsahara

Von Gerd Schumann *

Der Tag neigte sich auf Mitternacht, als ich zurückkehrte in das Zelt, das mir und einigen anderen als Unterkunft diente. In Tifariti, Wüstenort mit Krankenhaus und Schule in den befreiten Gebieten der Westsahara, näherte sich die Temperatur dem Gefrierpunkt. Der Mann, der auf dem mit Teppichen ausgelegten Holzboden wartete, trug auch drinnen einen dicken Mantel und legte den »Lietam«, wie das traditionelle Kopftuch der Sahrauis in ihrer Sprache Hassaniye genannt wird, nicht ab.

Höflich – vielleicht klang auch etwas Besorgnis durch – fragte er mich nach meinen Eindrücken vom Kongreß der »Frente Polisario«, und ich zeigte mich, ebenso höflich, beeindruckt. Nicht unbedingt nur vom Verlauf des langen ersten Sitzungstages, den die »Volksbefreiungsfront von Saghia al Hamra y Rio de Oro« an diesem Freitag in der Mitte des Dezembers gerade hinter sich gebracht hatte; das auch. Vor allem jedoch von der logistischen Leistung, an diesem unwirtlichen Platz mitten in der Wüste überhaupt ein Ereignis dieser Art auf die Beine zu stellen: 1700 Delegierte, über 200 Gäste aus aller Welt versammeln sich irgendwo zwischen Algerien und Mauretanien – und der von Marokko über 2000 Kilometer quer durch die Sahara gezogenen »Schandmauer«.

In den achtziger Jahren errichtet, sollten daran die Angriffe der Polisario-Guerilla abprallen. Ein gigantisches Bauwerk, das seinesgleichen sucht und – en miniature – in Palästina findet. Die Lage hier wie dort ähnelt sich insofern, als daß weder Israel noch Marokko die von ihnen besetzten Gebiete räumen wollen und also den dort lebenden Menschen das Selbstbestimmungsrecht verweigern – trotz Dutzender, ja Hunderter UN-Beschlüsse, der jüngste in Sachen Westsahara vom 19. Dezember.

Die Geduld von Papier ist unendlich, die der Betroffenen nicht. Nun überlegte die Polisario, wie sie aus eigener Kraft ihre mißliche Lage überwinden könnte. Bereits 1991 hatte unter Kontrolle der Vereinten Nationen ein Referendum über den zukünftigen Status des Gebiets laufen sollen. Es fiel ebenso aus wie vier weitere Versuche, gescheitert am Unwillen des Königreichs Marokko, sich dem Risiko von Abstimmungen auszusetzen. 16 Jahre lang führte Rabat eine Camou¬flage auf, die Verhandlungsbereitschaft vorgaukelte. Die Polisario setzte dem Geduld und Argumente entgegen. Vergeblich. Das Schicksal der etwa 300000 Sahrauis geriet in Vergessenheit.

Müssen wir etwa wieder zu den Waffen greifen? lautete folglich die Schlüsselfrage, die sich mit Macht aufdrängte. Wegen der internationalen Sturheit und Ignoranz gegenüber den kaum erträglichen Überlebensbedingungen. 165000 Flüchtlinge seit über drei Jahrzehnten in drei Lagern auf algerischem Territorium, angewiesen auf Almosen von World Food Programme und UN-Flüchtlingshilfswerk. Und obwohl diese ihre Lieferungen jüngst um 43 Prozent gesenkt hatten, ließ sich die Befreiungsorganisation nicht unterkriegen. Auch nicht von den Regenfluten, die 2006 die Camps heimsuchten.

Wie aber mehr Druck machen und das große Schweigen durchbrechen? Mein nächtlicher Besucher warnte. Das Risiko, den »Lucha armada« wieder zu eröffnen, sei groß. Heutzutage werde man schnell als »terroristisch« abgestempelt, und mit den USA als erklärtem Steigbügelhalter des marokkanischen Königs Mohammed VI. sei schließlich nicht zu spaßen. Ebensowenig mit den Exkolonialmächten Spanien und Frankreich. Also sich weiter in Geduld üben? Darüber wurde im Vorfeld des Kongresses gestritten. Auf Basisversammlungen allerorten seien die Fetzen geflogen. Doch sei zu bedenken: Die meist jungen Propagandisten eines neuerlichen Waffengangs haben das Leid des Krieges nicht erlebt, damals in den Siebzigern und Achtzigern, mit den Tausenden von »Märtyrern«, die ihr Leben gegeben hatten für die Freiheit.

Ich verstehe. Und doch, es war die ureigene Entscheidung der Frente, nach Tifariti zu gehen, um in dieser »kritischen Phase« einen vielleicht historischen Beschluß zu fassen. Der Beduinenort war im August 1991, als alle auf das beschlossene UN-Referendum über ihre Unabhängigkeit warteten, von 16 Jagdflugzeugen der marokkanischen Luftwaffe dem Erdboden gleichgemacht worden. Eine »Säuberungsaktion«, wie der damalige König Hassan II. erklären ließ, eine fürchterliche Demonstration seines Willens, die an Phosphor, Uran und wohl auch Öl reiche Westsahara niemals an deren Bewohner herauszugeben. Und nun protestierte Rabat lauthals gegen die Versammlung in Tifariti. Schließlich handele es sich um »marokkanisches Land«.

»Schnellstens nach Hause«

Um in die befreiten Gebiete zu gelangen, gibt es zwei Wege. Über Mauretanien oder über Algerien. Polisario empfahl die zweite Variante, und ich erhielt, aus Madrid kommend, nach der Landung im südwestalgerischen Tindouf zunächst einen ersten Eindruck vom sahrauischen Lagerleben. 30 Kilometer entfernt vom früheren französischen Kolonialstützpunkt leben die 1976 mit Napalm- und Phosphorbomben Vertriebenen sowie deren Nachkommen an drei Plätzen, die die Namen der wichtigsten Städten ihrer Heimat tragen: El Aiun, Ausert und Smara.

Familie de Yakouta aus dem Barrio 4 des »Campemento 27 Febrero« – benannt nach dem Gründungsdatum des eigenen Staats, der Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS) 1976 – hat sich ein wohnliches Heim aus Stein und Mörtel gebaut und möchte trotzdem »schnellstens nach Haus«. Tee wird in der guten Stube zubereitet, eine Prozedur: Kessel auf Holzkohleöfchen, Konzentrat hergestellt und mehrfach durch geschicktes Umschütten mit Wasser und Zucker gemixt, dann auf silberglänzendem Tablett gereicht. Drei Portionen gibt es traditionell – und noch ungezählte werden im Lauf der Reise folgen: »Das erste Glas bitter wie das Leben, das zweite süß wie die Liebe, das dritte sanft wie der Tod.«

Angst und bange kann einem in dem »Landcruiser« werden, den Abaa Madi steuert, ein Schnauzbärtiger, der unter anderen Umständen auch als Pilot bei der Rallye Paris–Dakar hätte zu Ruhm und Ehren kommen können. Insgesamt wohl 20 Jeeps, allesamt mit ausländischen Gästen zum Polisario-Kongreß belegt, liefern sich auf sandigem Boden eine von dem Ehrgeiz getriebene Wettfahrt, möglichst niemals zuvor befahrenen Boden zu nutzen und auf keinen Fall in die Staubfontänen der Mitkonkurrenten zu geraten. Eine Art Kamelrennen auf modern. Mit 80 Sachen durch die Wüste, zwei Stunden nach dem Start am algerisch-sahrauischen Grenzposten vorbei. Der winkt freundlich. Dann weiter. Sieben Stunden liegen noch vor uns.

Für Exkursionen in die Welt der Reptilien und Insekten bleibt keine Zeit. Nur einmal, während eines kurzen Picknicks an einem der wenigen Bäume, reicht sie doch, um einige zu Stein gewordene Muscheln aus prähistorischen Jahrtausenden zu sammeln. Alles Leben kommt aus dem Meer, heißt es. Zwei Tage später wird es hier Bindfäden regnen. Für die Bildung eines neuen Ozeans reicht der Niederschlag nicht, doch für eine Fata Morgana: eine blau-glitzernde Wasserfläche am Horizont, dort, wo der Himmel auf die Erde trifft.

Al Qualis Vermächtnis

Es dunkelt, und die Schüttelstrecke kann nur noch langsam genommen werden. Bleibt zu hoffen, daß Abaas Augen im Scheinwerferlicht die Senken und Felsbrocken rechtzeitig erspähen. Ein Landrover mußte bereits zurückgelassen und dessen Insassen auf andere Fahrzeuge verteilt werden. Auch wird sich nach Ankunft in Tifariti herausstellen, daß ein Jeep fehlt, was eine – letztlich erfolgreiche – Suchaktion in der Finsternis zur Folge hatte. Deutlich wurde so: Neben ihrer moralischen Unterlegenheit gab es ein weiteres, kaum überwindbares Handicap für die Okkupanten im Kampf gegen die Befreiungsarmee. Die mangelnde Ortskenntnis erwies sich als Manko für die Zehntausenden aus Marokko entsandten Soldaten, damals, als der legendäre Polisario-Gründer Al Quali in der ersten Reihe stand.

Ein 25jähriger Mann, wie ihn jede Freiheitsbewegung braucht, selbstlos und klug, wurde er am 20. Mai 1973 noch vor der ersten bewaffneten Aktion verhaftet, doch zum Glück umgehend wieder befreit. Ein Dutzend Kämpfer nahm der von der Attacke überraschten Kolonialpolizei »Tropas Nomadas« ihre Waffen ab. Der Zulauf zur Polisario setzte ein, und die Kämpfer brachten es in den folgenden Jahren auf etwa zwei Dutzend Angriffe jährlich. 1975 gelang es dem aus ärmsten Verhältnissen stammenden, an Marx und Mao geschulten Hochschulabsolventen Al Quali, auch das Vertrauen der wichtigsten Clans der Beduinen zu erringen. Eine breite Volksbewegung war innerhalb von nur 24 Monaten entstanden.

Daß Ende desselben Jahres trotzdem andere Mächte die Besatzerfunktion der abziehenden spanischen Truppen übernahmen, war dem Zusammenspiel Madrids mit dem bis 1960 von Paris beherrschten Mauretanien sowie dem seit 1956 unabhängigen Marokko geschuldet. 1976 nahm der südliche Nachbar der Westsahara ein Drittel der angrenzenden Gebiete des ehemaligen »Spanisch-Sahara« in Besitz, Marokko den Rest des Territoriums, das in etwa so groß ist wie das heutige Deutschland. Die Mauretanier hielten allerdings dem Ansturm der Polisario nicht lange stand, mußten sich 1979 endgültig zurückziehen und der Befreiungsbewegung das Feld überlassen. Ihr Generalsekretär Al Quali Mustapha Sayed allerdings war vorher gefallen: Bei einer verwegenen Attacke auf die mauretanische Hauptstadt Nouakchott traf ihn eine Kugel im Gefecht um den Präsidentenpalast. Seine Funktion übernahm Mohamed Abdelaziz, ein besonnener Mann, Mitgründer der Organisation.

Nun steht Abdelaziz vorn auf der Kongreßbühne und zieht Bilanz. Als recht stabil stellt er die Situation in den Flüchtlingslagern dar. Doch spart sein Rechenschaftsbericht, ein Kollektivwerk des Nationalen Sekretariats, nicht mit kritischen Bemerkungen über wachsende Probleme. Sie handeln von den Mühen der Ebene, in diesem Fall der Organisierung einer Gesellschaft außerhalb ihres angestammten Territoriums über einen langen Zeitraum.

Ermüdungserscheinungen blieben nicht aus, scheinbar verlassen von aller Welt, ausgeblendet von der westlichen Mediengewalt, politisch links liegengelassen. In dieser Lage müsse »unzweifelhaft als Erfolg« gewertet werden, so Abdelaziz, ernsthafte Krisenerscheinungen abgewendet zu haben. Und doch: Die moralischen Werte veränderten sich, immer weniger junge Leute wollten heiraten und Kinder zeugen, die Auswanderungsrate steige – das könnte »ernsthafte Auswirkungen auf die Existenz unseres Volkes haben«. Meint der Generalsekretär und benennt eine Reihe weiterer Schwierigkeiten. Agonie, Bürokratie, Desinteresse, mangelnde Qualifikation in Bildung und Gesundheitswesen.

Beifall erhält er immer dann, wenn er vom Kampf spricht, vom »friedlichen Widerstand« in den besetzten Gebieten und in Marokko ebenso wie von der Möglichkeit eines neuerlichen Waffengangs. Die Entkolonisierung Afrikas wird solange nicht bewältigt sein, bis auch die Westsahara befreit ist, sagt Abdelaziz. Er soll zum Ende des Kongresses wiedergewählt werden – ein Mann des Ausgleichs, wie mir einer seiner Vertrauten sagt. »Eine Art Arafat der Sahara«. Und ich wünsche, daß es seiner Politik nicht so ergehen möge wie der des Palästinensers. Könnte sein, daß es nicht immer sinnvoll ist, über die wundersame Gabe zu verfügen, »Feuer und Wasser in einem Topf zu bereiten«.

Das Leid der Unterdrückten

So oder so müsse sich etwas tun, sagt Hamad Ali Sid. Ich treffe den 50 Jahre alten Mann inmitten des Meers aus Zelten. Hamad erzählt mir davon, wie er als 18jähriger aus der atlantiknahen sahrauischen Hauptstadt Al Aiun fliehen mußte und nun voller Hoffnung verfolgt, wie sich der Widerstand in den besetzten Gebieten entwickelt, wo eine Art Ausnahmezustand herrsche. Trotzdem hätten fünf oder sechs Delegierte von dort den Weg nach Tifariti in die »freie Zone« gewagt und gefunden. Konspirativ. Würden sie erwischt, es hätte fatale Folgen für sie. »Große Besorgnis« konstatierte zuletzt im Mai 2006 eine UN-Menschenrechtsdelegation. Von Hunderten Verhafteten und Verschwundenen ist die Rede. Und als eine von marokkanischer Polizeigewalt betroffene Demonstrantin dem Kongreß über Satellitentelefon berichtet, wie sie ihr Augenlicht verlor, hätte man hören können, wie die sprichwörtliche Stecknadel zu Boden fällt.

Der afrikanische Kontinent kennt das Leid der Unterdrückten. Auf dem Polisario-Kongreß sind sie alle vertreten, die Befreier ihrer Länder und bekunden ihre Solidarität. Ich treffe Dumisani Job Sithole vom südafrikanischen ANC, seine Freunde von der Frelimo im Nachbarland Moçambique und den Vertreter von Angolas MPLA. Aber auch die Revolutionäre von Übersee, die Kubaner, Venezolaner, Urugayer, Bolivianer. Sie haben die Sahara-Republik längst anerkannt, fühlen sich aus ihrer eigenen Geschichte heraus mit der Polisario verbunden. Und ich erlebe, wie die Mauretanier, aber vor allem die Vertreter der algerischen FLN (Frente National de Liberacion) von den Sahrauis gefeiert werden – und mit ihnen das Gastland Algerien, das den Flüchtlingen auch weiterhin Unterstützung zusagt.

Und Europa? Jao Oliveira, 29 Jahre, Parlamentsabgeordneter der Kommunistischen Partei Portugals, erzählt mir – noch immer empört – davon, daß auf dem EU-Afrika-Gipfel in Lissabon vor zwei Wochen zwar Marokko vertreten gewesen sei. Aber nicht die DARS. Frau Merkel, die sich dabei als großartige Kämpferin für Menschenrechte in Afrika in Positur warf, fand für die Repression in der Westsahara kein Wort. Also organisierten die Portugiesen einen »Gegengipfel – natürlich mit der Polisario«, so Oliveira. Auch das Engagement anderer Europäer beeindruckt, vor allem der in Spanien lebenden Völker, der Basken, Katalanen, Galicier. Ein Beispiel von vielen: Das Krankenhaus Tifaritis wurde mit Spendengeldern aus Navarra errichtet. Und Deutschland? Zwei Mitarbeiter der SPD und der Linken hatten den Weg in die Wüste gefunden, der Grüne Trittin habe seinen Reiseplan aufgegeben, aus Termingründen, sagt mir ein Polisario-Vertreter. Den Kongreß, der nunmehr hinter verschlossenen Türen tagt, interessiert dies wenig. In Sachen bewaffneter Kampf soll es kontrovers zugehen, berichten Delegierte. Eine Diskussion mit Hunderten Wortmeldungen. Ende offen – selbst dann noch, als am 19. Dezember das islamische Opferfest Eid Al-Adha beginnt. Tags darauf wird beschlossen, die Schicksalsentscheidung zu verschieben. Sie soll nun im Juni oder Juli 2008 gefällt werden.

Die Jeeps für die Rückreise durch die Wüste stehen bereit. Es hat aufgehört zu regnen, die Temperaturen steigen auf 30 Grad. Man sagt, die Sahara sei ein kaltes Land, in dem die Sonne heiß scheint.

* Aus: junge Welt, 22. Dezember 2007


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