Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Der endlose Aufstand

Kampf um Befreiung der Westsahara: Vor 40 Jahren wurde die Frente Polisario gegründet. Sie ist eine übriggebliebene Hoffnungsträgerin

Von Gerd Schumann *

Die Frente Polisario wirkt wie übriggeblieben aus längst vergangener Zeit. Eine Organisation, die damals, als die Uhr der kolonialistischen Fremdherrschaft auf dem afrikanischen Kontinent endgültig abzulaufen schien, den Aufstand gewagt hatte, um die Unterdrückung zu beseitigen. Eine Organisation, die sich wehrte und irgendwie auf Strecke blieb, nicht geschlagen, aber nahezu vergessen, an den Schmuddelrand des Weltgeschehens gedrängt.

Am 10. Mai 1973 propagierte die westsahrauische »Volksfront zur Befreiung von Saguia el Hamra und Rio de Oro« in den schier endlos weiten und bodenschatzträchtigen Wüstengebieten zwischen Atlantik, Algerien und Mauretanien, daß »die Freiheit aus den Gewehrläufen« kommt und griff den »Imperialismus und das faschistische Spanien« an. Es ging um die Befreiung der Westsahara von der damals spanischen Kolonialherrschaft. Zehn Tage später überrannten verwegen anmutende, in wehende Gewänder gehüllte Gestalten auf Kamelen eine von den Tropas Nomadas, den Hilfstruppen der Spanier, bewachte Poststation, erbeuteten Gewehre. Es war der Auftakt des bewaffneten Kampfes: Die Frente Polisario brachte es danach unter Führung ihres 1976 gefallenen Gründers Al-Quali Mustafa Sayed, einem an Marx und Mao geschulten Hochschulabsolventen, auf etwa zwei Dutzend militärische Aktionen jährlich. Die Wirkung: Innerhalb von 24 Monaten entstand eine breite Volksbewegung.

Hilfe und Solidarität erfuhren die Söhne und Töchter der Wüste aus Algerien und von anderen »jungen Nationalstaaten«, wie befreite Exkolonien genannt wurden. 1975 entließ Madrid die Westsahara aus seiner Herrschaft – doch Marokko bemächtigte sich umgehend des Landes an seiner Südgrenze. Hunderttausende Sahrauis mußten vor den Düsenjets und Phosphorbomben des Königreichs in Richtung Osten fliehen. Sie fanden Schutz in Lagern nahe der westalgerischen Siedlung Tindouf und wurden dort quasi seßhaft auf Abruf. Zwischen 150000 und 200000 Menschen hoffen auf die Rückkehr in ihre Heimat. Angewiesen auf internationale Hilfe harren sie nun schon über drei Generationen dort aus, in elenden Zuständen. Von den Mächten des Nordens werden sie ebenso weitgehend ignoriert wie ihr Staat im Exil, die 1976 proklamierte Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS), die zwischenzeitlich von über 80 Staaten anerkannt war.

Die Befreiungsbewegung schaffte es bis weit in die 80er Jahre hinein, den militärischen und politischen Druck auf die Besatzungsmacht Marokko ständig zu erhöhen. Das Königreich versuchte unter Hassan II. (1961–1999), die ortskundigen Guerilleros durch ein monströses minenbewehrtes Bauwerk aus Sand, Beton und Stacheldraht in Schach zu halten. Rund 2700 Kilometer lang ist die durch das Land gezogene, bis zu sechs Meter hohe »Mauer der Schande«. Als solche bezeichnen sie die Wüstenbewohner auf beiden Seiten des Bauwerks, in den befreiten Gebieten ebenso wie in den »Provinzen des Südens«, wie Rabat die völkerrechtswidrig unter seiner Kontrolle gehaltene Region nennt.

Mit dem Ende der globalen Bipolarität fand ein Richtungswechsel in der internationalen Politik statt, zu deren Opfer auch die Frente Polisario gehört, obwohl sie im Unterschied zu anderen nationalen Befreiungsbewegungen nicht als eine Freundin der Sowjetunion galt. Doch mit dem Niedergang und Ende des europäischen Realsozialismus verschwanden die politischen Spielräume, die die Systemkonkurrenz vor allem in Afrika mit sich gebracht hatte.

Namibia gelang es 1989 als vorerst letzter Kolonie des Kontinents, sich zu befreien. Wer danach nicht in das Schema imperialistischer Geostrategie paßte – oder sich diesem anpaßte –, bekam es zu spüren. Seit 1991 wartet die Polisario auf das im UN-Friedensplan von 1990 vorgesehene Referendum zur Unabhängigkeit. Marokko blockt ausdauernd, trickste mit immer neuen Forderungen zum Zensus, zur Volkszählung, zu Abstimmungskonditionen. Die Sahrauis, ob in den Flüchtlingslagern, im europäischen Exil oder in ihrer okkupierten Heimat, wurden hingehalten – auch von der UNO, deren Sondergesandter James Baker (1997–2004), der 1989 bis 1992 unter George Bush US-Verteidigungsminister gewesen war, schließlich gar eine »begrenzte Autonomie« ins Gespräch brachte.

Sämtliche informelle Treffen der vergangenen Jahre unter Moderation des gegenwärtigen UN-Sondergesandten Christopher Ross blieben ergebnislos. Dessen jüngster Versuch, die Kompetenzen der 200köpfigen Blauhelmtruppe MINURSO um die Beobachtung von Menschenrechtsverletzungen in der Westsahara zu erweitern, war zunächst von den USA unterstützt worden. Erstmals hatte Washington damit auf der Suche nach Befriedungskonzepten für die ständig instabiler werdende Lage in der Sahelzone Flexibilität signalisiert. Ende April scheiterte die Initiative jedoch an Frankreich und Spanien, den engsten Verbündeten von Marokkos Monarchen Mohammed VI.

Natürlich wächst nach Jahrzehnten des Ausharrens die Ungeduld in den Lagern. In den okkupierten Gebieten wimmelt es von Besatzern in Uniform und Zivil. Auf jeden Soldaten kommen zehn Spitzel. Trotzdem zeugten die im Oktober 2010 von marokkanischen Soldaten gewaltsam zerstörten »Camps der Würde« vom anhaltenden Widerstandswillen der Sahrauis und ihrer Organisation. Jenseits der Mauer der Schande, in den befreiten Gebieten, bleibt die Frente Polisario militärisch vorbereitet. Und während andernorts sogenannte Rebellen, religiös fanatisch und von hyperreichen Scheichs am Golf ausgestattet, das Geschäft des Nordens erledigen, hält die Frente Polisario unbeirrt an ihrem antikolonialen Kurs fest. Eine übriggebliebene Hoffnungsträgerin für Befreiung.

* Aus: junge Welt, Freitag, 10. Mai 2013


Zurück zur Westsahara-Seite

Zur Marokko-Seite

Zurück zur Homepage