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Frieden hintertrieben

Die Genfer Indochinakonferenz vor 60 Jahren beendete die französische Kolonialherrschaft und garantierte die staatliche Unabhängigkeit von Laos, Kambodscha und Vietnam. Doch die USA wollten sich mit dem Ergebnis nicht abfinden

Von Hellmut Kapfenberger *

Der 1945/46 gestartete französische Feldzug zur kolonialen Rückeroberung Indochinas war Anfang 1954 auf Initiative der Sowjetunion zum Thema internationaler Verhandlungen geworden. Am 25. Januar waren in Berlin die Außenminister der vier Weltkriegssiegermächte – Wjatscheslaw Molotow (UdSSR), John Foster Dulles (USA), Anthony Eden (Großbritannien) und Georges Bidault (Frankreich) – im Rahmen ihrer Nachkriegsberatungen wieder zur Erörterung der deutschen Frage und europäischer Probleme zusammengekommen. In der Diskussion zur Tagesordnung setzte Molotow durch, daß auch über eine Außenministerkonferenz zur Lösung weiterer strittiger Fragen beraten werden möge, zu der China mit einzuladen sei. So kam auf der am 18. Februar beendeten Berliner Zusammenkunft trotz Widerstands der westlichen Partner dank sowjetischer Beharrlichkeit der Beschluß zustande, eine »Genfer Konferenz der fünf Großmächte zur friedlichen Regelung der Korea-Frage und zur Wiederherstellung des Friedens in Indochina« einzuberufen. Auch andere Länder sollten eingeladen werden.

Freilich war nicht anzunehmen, daß auf einer solchen Indochinakonferenz von Frankreich oder seinen beiden Verbündeten Großbritannien und USA eine Lösung angeboten werden würde, die den vom Völkerrecht gestützten Vorstellungen insbesondere der 1945 gegründeten Demokratischen Republik Vietnam (DRV) zur Wahrung ihrer Unabhängigkeit und Souveränität entsprochen hätte. Zu erwarten war ein gnadenloser Verhandlungspoker. Am 1. April kam es in Moskau – auf wessen Initiative hin, ist nicht belegt – zu einem Treffen von DRV-Präsident Ho Chi Minh und Außenminister Pham Van Dong sowie Chinas Regierungschef und Außenminister Zhou Enlai mit dem Ersten Sekretär des ZK der KPdSU, Nikita Chruschtschow. Über dem Inhalt der Unterredung wurde nichts bekannt. Anzunehmen ist, daß Chruschtschow die Verhandlungsposition der Sowjetunion verdeutlichte, über die auch später nichts verlautete, und er von den vietnamesischen Gesprächspartnern um Beistand gebeten wurde. Ob sich bei dem Treffen schon die äußerst zweifelhafte Rolle abzeichnete, die das von Zhou Enlai vertretene China auf der Konferenz in Genf spielen würde, bleibt Spekulation.

Waffenruhe und Wahlen

Nachdem die am 26. April aufgenommenen Beratungen in Genf zu Korea ergebnislos verlaufen waren, traten am 8. Mai Vertreter der fünf Mächte, der DRV, der von den französischen Okkupanten in der alten vietnamesischen Hauptsatdt Hue installierten Marionettenverwaltung unter Exkaiser Bao Dai sowie der Königreiche Laos und Kambodscha im Genfer Palais des Nations zu den Indochina-Beratungen zusammen. Das war ein Tag nach dem Ende der Schlacht von Dien Bien Phu, bei der den französischen Kolonialtruppen eine vernichtende Niederlage durch die Viet Minh beigebracht wurde. Die USA, die Frankreichs Feldzug nach Kräften materiell unterstützt und zuletzt fast allein finanziert hatten, gingen in diese zweite Konferenzphase mit der unverkennbaren Absicht, die Verhandlungen zu hintertreiben. Sie schickten nach wenigen Tagen Dulles-Stellvertreter Walter Bedell Smith als ihren Unterhändler und erklärten sich zum »Beobachter«. Frankreich und China betrieben in den folgenden Wochen hinter den Kulissen ein von eigenen Macht- und Sicherheitsinteressen diktiertes Intrigenspiel auf Kosten der indochinesischen Länder. Um das Blutvergießen auf der Halbinsel zu beenden, kam die sowjetische Seite offenkundig nicht umhin, dem der DRV abverlangten bitteren Kompromissen zuzustimmen.

Die Indochinakonferenz endete am 21. Juli nach zweitägiger Abstimmungsprozedur und letzten Verhandlungsscharmützeln mit der Verabschiedung von zehn Dokumenten. Sie mar-kierten das Ende nicht nur des Krieges, sondern definitiv auch der französischen kolonialen Herrschaftsansprüche in Indochina. Partner von Abkommen über die Einstellung der Kampfhandlungen in Vietnam, Laos und Kambodscha waren auf der einen Seite jeweils das Oberkommando der Volksarmee Vietnams, auf der anderen ein Französisch-Vietnamesisches Kommando, ein Französisch-Laotisches Kommando und ein Kommando der Königlichen Armee von Kambodscha. Zu den Konferenzdokumenten gehörten auch Erklärungen der Königlichen Regierungen von Laos und Kambodscha sowie der inzwischen von Mendès France als Premierminister geführten Regierung der Französischen Republik. Die gemeinsame Position der Teilnehmer außer den USA war in einer Schlußdeklaration zur Frage der Wiederherstellung des Friedens in Indochina fixiert. Für die Abordnung Washingtons legte dessen Vertreter eine »Sondererklärung« vor, die auf einen von den USA angepeilten eigenen Weg schließen ließ und von der Konferenz zur Kenntnis genommen wurde. Ein schriftlicher Protest der Abgesandten aus Hue wurde auch von den Delegationen der Westmächte nicht als Konferenzdokument anerkannt.

Die drei Abkommen zur Waffenruhe sahen vor, die Beendigung der Kampfhandlungen, wie in der Schlußdeklaration vermerkt wurde, »unter internationale Kontrolle und Überwachung« zu stellen. Die französische Seite sicherte zu, ihre Truppen auf Ersuchen der Regierungen innerhalb bilateral vereinbarter Fristen aus den drei Ländern abzuziehen. Verboten wurde, künftig ausländische Truppen und anderes Militärpersonal, Waffen und Munition nach Indochina zu entsenden oder diese Länder in Militärbündnisse einzubeziehen. In dem Schlußdokument wurde auch die Überzeugung formuliert, daß die Verwirklichung der Beschlüsse den drei Staaten »die Möglichkeit geben wird, von nun an in der friedlichen Gemeinschaft der Nationen ihre Rolle völlig unabhängig und souverän zu spielen«. In seinen Beziehungen zu jedem der drei Länder verpflichtete sich jeder Konferenzteilnehmer, »die Souveränität, Unabhängigkeit, Einheit und territoriale Integrität der genannten Staaten zu achten und jedwede Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten zu unterlassen«.

Im Abkommen zur Waffenruhe für Vietnam war festgelegt, die Streitkräfte der beiden kriegführenden Seiten voneinander zu separieren und dafür zwei als »Umgruppierungszonen« deklarierte Landesteile zu bestimmen. »Es wird eine zeitweilige militärische Demarkationslinie gezogen. Nach ihrem Abzug (aus dem Landessüden, H.K.) werden die Kräfte der Volksarmee Vietnams nördlich und die Kräfte der Französischen Union (Expeditionskorps und Bao-Dai-Truppen, H.K.) südlich dieser Linie stationiert. Die zeitweilige militärische Demarkationslinie verläuft etwas südlich vom 17. Breitengrad.« Beiderseits der Linie war eine »entmilitarisierte Zone als Pufferzone zur Verhütung jeglicher Zwischenfälle« einzurichten. Die Umgruppierung der Truppen sollte binnen 300 Tagen vollzogen sein.

Zur weiteren Entwicklung in Vietnam hieß es im Schlußdokument, »eine auf der Achtung der Prinzipien der Unabhängigkeit, Einheit und territorialen Integrität fußende Regelung der politischen Probleme« müsse dem vietnamesischen Volk ermöglichen, »von den Grundfreiheiten Gebrauch zu machen«, die »von demokratischen Einrichtungen, zustande gekommen durch allgemeine, in geheimer Abstimmung durchgeführte Wahlen«, zu gewährleisten seien. »Um zu erreichen, daß es mit der Herstellung des Friedens schnell genug vorangeht und daß alle notwendigen Bedingungen für eine freie nationale Willensäußerung geschaffen werden, sollen im Laufe des Juli 1956 allgemeine Wahlen unter Kontrolle einer internationalen Kommission durchgeführt werden. (…) Hierüber werden die zuständigen repräsentativen Behörden der beiden Zonen ab 20. Juli 1955 beraten.«

Nicht Spaltung, sondern Neubeginn

Grundsätzlich positives Konferenzergebnis für Indochina war neben der Aufhebung der Kolonialherrschaft die Anerkennung der eigenstaatlichen Existenz der drei Länder. Zum ersten Mal seit rund 100 Jahren sollte die Halbinsel frei von ausländischen Truppen sein. Frankreich zog seine Truppen auch fristgemäß ab. Die widerstrebenden Kräfte am Konferenztisch konnten nicht umhin, die DRV als einzig legitimen Staat auf vietnamesischem Territorium zu akzeptieren. Deren Außenminister Pham Van Dong sprach in Genf im Namen Vietnams und signierte für das Land die Schlußdeklaration. Die Waffenruhe in Vietnam vereinbarten die DRV, vertreten durch die Volksarmee, und Frankreich, federführend auch für die Verwaltung des 1945 abgedankten Kaisers Bao Dai, der zur Zeit der Verhandlungen dennoch Staat- und Regierungschef eines »Staates Vietnam« war. Damit war einzig die DRV für die Maßnahmen verantwortlich gemacht, die die vietnamesische Seite für die Feuereinstellung zu treffen hatte.

Die Genfer Beschlüsse stellten mit keiner Silbe die Einheit Vietnams in dem mit der Augustrevolution 1945 begründeten Staatswesen in Frage. Festgeschrieben wurde nicht die Spaltung Vietnams, sondern ein Neubeginn als unabhängiger, souveräner und ganzheitlicher Staat nach einer für die Umgruppierung der militärischen Kräfte notwendigen Übergangsphase. Der Terminus »zeitweilige militärische Demarkationslinie« ließ keinen Raum für eine Auslegung als administrative Grenze. Die Einrichtung der Umgruppierungszonen war ein rein organisatorischer Akt auf dem Gebiet der militärrelevanten Regelungen, aber kein Beschluß, die DRV auf den Landesnorden zu reduzieren und dem Süden einen eigenständigen Staat zu verordnen. die gelegentlich im Westen anzutreffende Lesart, daß Genf zwei Staaten mit unterschiedlichen Regierungssystemen hervorgebracht habe, entbehrt jeder Grundlage.

Die vietnamesische Führung wertete den Ausgang der Konferenz als Erfolg im erbitterten Existenzkampf, hatte es doch erst einmal eine urkundlich fixierte internationale Bestandsgarantie für die DRV gegeben. Doch das Land war vorerst in Zonen unterteilt. Zu diesem schmerzenden Kompromiß sagte Ho Chi Minh gegen Konferenzende auf einem Plenum des ZK der Partei der Werktätigen Vietnams (PWV): »Um Frieden zu haben, muß dem Krieg ein Ende gemacht und eine Feuereinstellung erreicht werden. Um die Waffenruhe zu realisieren, ist es wichtig, die Umgruppierungszonen festzulegen. (…) Umgruppierungszonen abzugrenzen will nicht heißen, das Land zu teilen, es ist eine provisorische Maßnahme, um zur Wiedervereinigung zu gelangen.« Damit aber kamen in der südlichen Landeshälfte weite befreite Gebiete nach opfervollen Kriegsjahren erst einmal wieder in die blutigen fremden Hände. Dazu sagte Ho Chi Minh: »Mit der Abgrenzung der Umgruppierungszonen könnten unsere Landsleute, die in bisher befreiten Zonen lebten, von Unzufriedenheit und Enttäuschung erfaßt werden und sich auch vom Gegner benutzen lassen. Wir müssen ihnen verständlich machen, daß sie im Interesse des ganzen Landes Geduld an den Tag legen müssen. Das wird ihnen zur Ehre gereichen, und die Nation wird sich ihnen dankbar erweisen.« Aufgabe sei, auf diesem Weg zu Frieden zu gelangen und die geplanten allgemeinen Wahlen im ganzen Land zu nutzen, um die »nationale Wiedervereinigung« zu erringen.

Die vietnamesische Delegation hatte sich verpflichtet gefühlt, am Konferenztisch im Geiste eines im März 1951 besiegelten Solidaritäts- und Beistandspaktes auch die Interessen der laotischen und kambodschanischen patriotischen Kräfte zu vertreten. Sie bestand nicht nur auf der Repräsentanz von deren Widerstandsregierungen in Genf, sondern forderte auch die Einrichtung von Umgruppierungszonen in diesen beiden Ländern. Weiter wurde verlangt, in Laos und Kambodscha binnen sechs Monaten freie, allgemeine Wahlen abzuhalten. Die Bemühungen der DRV-Delegation scheiterten am Widerstand der anderen Teilnehmer; die Haltung der UdSSR in dieser Frage ist nicht dokumentiert. Großer Verlierer wurde die Front Freies Laos (Neo Lao Itsala), deren Truppen zusammen mit ihren vietnamesischen Waffenbrüdern seit Anfang 1954 mehr als die Hälfte des Landesterritoriums kontrollierten. Sie hatten sich in eine winzige Umgruppierungszone im äußersten Norden an der chinesischen Grenze zurückzuziehen. Gänzlich leer gingen die noch schwachen Kräfte der Einheitsfront Freies Khmer (Nekoum Khmer Issarak) aus.

Die schleichende Intervention der USA in Indochina seit Anfang der 50er Jahre und ihre destruktive Haltung gegenüber der Genfer Konferenz machten deutlich, daß Frieden noch nicht garantiert war. So geißelte Ho Chi Minh denn auch auf dem ZK-Plenum von 1954 die Politik Washingtons, das den Krieg verlängern und sich der Halbinsel bemächtigen wolle, sowie den ruchbar gewordenen Druck, den Vertreter der USA auf Teilnehmer der Genfer Konferenz ausübt hatten. In deren Vorfeld hatten die USA als ersten Gegner einer brutalen diplomatischen Konteroffensive China auserkoren, eigentliches Ziel aber war zweifellos Vietnam. Wie Ho Chi Minh auf dem ZK-Plenum berichtete, hatte Washington Frankreich, Großbritannien und einigen anderen Ländern eine »gemeinsame Deklaration« vorgeschlagen, in der die Volksrepublik der Einmischung in den Indochinakrieg bezichtigt werden sollte, um dann davon ausgehend Drohungen auszusprechen. Vor allem London widersetzte sich, andere Länder vermieden eine Zustimmung. Hintergrund war, daß Hilfstransporte ziviler und militärischer Art aus der UdSSR und den osteuropäischen Bruderländern nur auf dem Landweg über China nach Nordvietnam gelangen konnten. Vietnams Häfen und Flugplätze befanden sich damals sämtlich in der Hand der Franzosen.

Washington trachtete offenkundig danach, mit Druck von vornherein Chinas Verhalten in Genf zu beeinflussen, es zu veranlassen, Vietnam dort den Beistand zu versagen. Wie ernst die Drohgebärden zu nehmen waren, dürfte in keinem Archiv zu eruieren sein. Außerdem fehlt es an handfesten Belegen für ihre Wirkung. Fakten lassen aber darauf schließen, daß sich die chinesische Seite als erpreßbar erwies. Inwieweit dabei das historisch bedingt latent gespannte vietnamesisch-chinesische Verhältnis eine Rolle gespielt haben könnte, bleibt Spekulation. Diverse Quellen besagen, daß Peking nicht unbedingt mit einem Militärschlag gegen Vietnam rechnete. Der österreichische Historiker Professor Rolf Steininger resümierte in seiner Überblicksdarstellung »Der Vietnamkrieg« von 2004, Zhou Enlai sei es mehr darum gegangen, »den USA keinen Anlaß für eine Intervention in Vietnam zu geben, die möglicherweise auch China bedrohen würde. Gegenüber einem französischen Delegierten meinte er: ›Wir sind hier, um Frieden zu schließen, nicht um die Viet Minh zu unterstützen.‹ Das wurde in der Tat in den folgenden Wochen deutlich.«

Steiningers Wertung korrespondiert mit dem Fazit in einer laotischen Publikation (Laos: An outline of ancient and contemporary history, 1982): »Eine USA-Militärintervention in Indochina fürchtend, die seine Sicherheit gefährden würde, hat China seine Position als Hauptstütze des vietnamesischen Widerstands zu dem Versuch genutzt, einen französisch-chinesischen Kompromiß durchzusetzen. (...) China verriet die Interessen der drei indochinesischen Völker, es kungelte mit den Franzosen mit dem Ziel, seine Südgrenze zu ›sichern‹, den nördlichen Teil der indochinesischen Halbinsel unter seine Kontrolle zu bringen und den südlichen Teil den Franzosen zu überlassen.« Das aber dürfte nicht nach dem Geschmack Washingtons gewesen sein.

Die Abgesandten Frankreichs hatten es von Anfang an und bis Ende Juni abgelehnt, mit der DRV-Delegation zusammenzutreffen, führten aber lange Verhandlungen mit den Chinesen. Nguyen Khac Vien, Nestor der Zeitgeschichtsschreibung Vietnams, bilanzierte: »Beide Seiten verständigten sich über die großen Linien eines für Frankreich und China annehmbaren Kompromisses: Der südliche Teil Indochinas, Südvietnam und Kambodscha umfassend, werde unter französischem Einfluß bleiben, die Nordhälfte von Vietnam und zwei Provinzen von Laos werden von den vietnamesischen und den laotischen patriotischen Kräften kontrolliert werden. Die südlichen Grenzen Chinas werden so von Pufferzonen geschützt, kontrolliert von Kräften, welche Peking leicht überwachen zu können glaubte.« Die chinesische Regierung habe »ein doppeltes Ziel« verfolgt: »Eine direkte Konfrontation mit den gegenüber China noch immer sehr aggressiven USA vermeiden; Vietnam außerhalb der imperialistischen Einflußsphäre halten, es aber daran hindern, völlig unabhängig zu werden; ein schwaches Vietnam wird völlig von China abhängig sein«.

Peking schreckte auch nicht davor zurück, auf Vietnams Führung außerhalb der Konferenz direkt Druck auszuüben. Zhou Enlai habe »vor seiner Reise nach Genf Ho Chi Minh in China getroffen und ein Ende der Hilfe angedroht, falls er sich nicht flexibel zeigen werde«, liest man bei Steininger. Während der Konferenz, am 5. Juli, soll es in Südchina noch einmal zu einem Treffen Zhous, der kurz Genf verlassen habe, mit Ho Chi Minh und dem Oberkommandierenden der Volksarmee, General Vo Nguyen Giap, gekommen sein. Über beide Begegnungen müssen die Archive in Peking und Hanoi Auskunft geben. Der UdSSR waren bei all dem quasi die Hände gebunden, konnte doch ihre materielle Hilfe jeder Art zu jener Zeit eben nur per Bahn via China Vietnam erreichen.

Installation einer Marionette

Die USA ließen Frankreich in Genf noch gewähren, hatten in Sachen Indochina jedoch längst eigene Pläne. Sie waren in die schweizerische Stadt gekommen, »um ein Abkommen zur Unabhängigkeit Vietnams zu verhindern, weil sie eine Ausbreitung des Kommunismus im asiatischen Raum fürchteten«, konstatierte Claude Cheysson, Berater von Premierminister Mendès France und Mitglied der französischen Delegation. Mitte 1954, kurz nach Beginn der Genfer Verhandlungen, installierte Washington in einem ersten Schritt direkten bewaffneten Engagements eine 200 Mann starke Militärmission in Saigon (Saigon Military Mission – SMM). Am 21. Juli, dem Tag der Unterzeichnung der Verträge in Genf, tat Präsident Dwight D. Eisenhower kund: »Die Vereinigten Staaten hatten nicht teil an den von der Konferenz gefaßten Beschlüssen und sind nicht an sie gebunden.« Der Nationale Sicherheitsrat in Washington nannte die Abkommen am 3. August eine »Katastrophe« und verpflichtete die Regierung, »einen kommunistischen Sieg durch gesamtvietnamesische Wahlen zu verhindern«. Eisenhower bekannte später in seinen Memoiren: »Allgemein herrschte die Überzeugung, im Falle freier Wahlen wäre Ho Chi Minh zum Ministerpräsidenten gewählt worden.« Es hätten »möglicherweise 80 Prozent der Bevölkerung für den Kommunisten Ho Chi Minh gestimmt«.

Bei der folgenden Sabotage an den Genfer Abkommen, die in direkter Aggression gipfeln sollte, ging den USA zunächst der katholische Intellektuelle Ngo Dinh Diem zur Hand, dazu auserkoren, »Gegenspieler« Ho Chi Minhs zu werden. Schon im Juni 1954, noch während der Genfer Beratungen, an Bao Dais Stelle zum Chef der Marionettenregierung in Hue gemacht, durfte er im Oktober 1955 in Saigon eine »Republik Vietnam« proklamieren. Weisungsgemäß lehnte Diem die für Juli 1956 vereinbarten allgemeinen Wahlen im ganzen Lande kategorisch ab. Er ignorierte auch Initiativen der DRV-Regierung zur Aufnahme wahlvorbereitender Gespräche, die ab 20. Juli 1955 hatten geführt werden sollen. In den ersten Jahren enthielt sich die Bevölkerung des Südens im Geiste von Genf gewaltsamen Widerstands gegen den einsetzenden antikommunistischen Terror. Ab Ende der 50er Jahre aber war bewaffneter Kampf geboten, schließlich auch mit Unterstützung durch den Norden.

Hellmut Kapfenberger ist Autor des Buchs Berlin–Bonn–Saigon–Hanoi – Zur Geschichte der deutsch-vietnamesischen Beziehungen. Verlag Wiljo Heinen, Berlin 2013, 510 Seiten, 19,80 Euro

* Aus: junge Welt, Montag 21. Juli 2014


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