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Projekt Befreiung

Die Tagebuchnotizen von Walter Skrobanek aus Saigon 1975 sind erschienen

Von Rainer Werning *

Zu Beginn der 1960er Jahre grassierte unter hochrangigen Politikern und Militärstrategen in Washington die Phobie des Antikommunismus. Dort war man allen Ernstes der Meinung, daß in einer ihrer Haupteinflußsphären, in Südost­asien nämlich, ein gefährlicher Prozeß einsetzen könnte, in dessen Verlauf sämtliche Länder der Region kommunistisch würden. Um das mit allen Mitteln zu verhindern, erfand man die »Dominotheorie«. Fiele erst einmal ganz Vietnam den Kommunisten in die Hände, kippten auch die Anrainerstaaten wie Dominosteine einer nach dem anderen um.

Seit 1960 war die Zahl der in Südvietnam eingesetzten US-amerikanischen Militärberater stetig angestiegen. Ende 1960 waren es 2000, 1962 bereits 11300 und im Jahre 1963 16300. Anfang 1969 waren schließlich 543000 GIs, 29300 südvietnamesische und 71000 alliierte Soldaten - darunter Truppen aus den Philippinen, Thailand, Südkorea, Australien und Neuseeland - in Vietnam stationiert. Trotz dieses gigantischen Militäraufgebots und pausenloser Bombenangriffe gegen Stellungen der Nationalen Befreiungsfront Südvietnams (FNL), Nordvietnam und später auch gegen Kambodscha und Laos gelang es den selbsterklärten Bannerträgern von freedom and democracy nicht, den Kriegsschauplatz siegreich zu verlassen.

Unvergeßlich die Bilder, als schließlich am 30. April 1975 der 30jährige Krieg in Vietnam mit dem Sieg der kommunistischen Truppen endet. Auf dem Dach der US-amerikanischen Botschaft in Südvietnams Metropole Saigon, die bald in Ho-Chi-Minh- Stadt umbenannt wird, spielen sich dramatische Szenen ab. Wer immer es sich leisten kann und noch das Wohlwollen der in heillose Panik geratenen Verlierer genießt, ergattert einen Sitz im letzten Flug eines US-Helikopters. Diese aufwühlenden Momente und die ebenso bewegten wie bewegenden Monate bis zum Jahresende 1975 bilden den Stoff, aus dem Walter Skrobaneks (1941-2006) Buch »Nach der Befreiung« gewebt ist. Der Autor, in Heidelberg ausgebildeter Historiker und Politikwissenschaftler, leistete als Mitarbeiter des Kinderhilfswerks terre des hommes gemeinsam mit seinem vietnamesischen Team unschätzbare Dienste - sie setzten sich dafür ein, daß Verstümmelte, Traumatisierte und Verwaiste (Über-)Lebenshilfe erhielten. Eine Sisyphusarbeit, die nicht abrupt mit dem Ende des Krieges stoppte.

Zeitzeugnis

Walter Skrobanek glaubt an das Projekt Befreiung, bleibt bis Ende 1975 im Lande und engagiert sich mit Verve dafür, daß wenigstens die sozialmedizinische Arbeit von terre des hommes fortgesetzt werden kann. Seine damaligen Tagebuchnotizen hatte er später beiseite gelegt und, wie seine thailändische Frau Siriporn sagt, sogar vergessen. Erst drei Jahrzehnte später, kurz vor Skrobaneks Tod, tauchen sie wieder auf. Ein Glücksfall, zumal dieses ungeschminkte und sensible Zeitzeugnis nunmehr auch in Buchform einem interessierten Leserkreis zugänglich ist.

Auch nach dem 30. April 1975 brodelt in Saigon die Gerüchteküche. Noch seien, so vermutet damals der Autor, nicht sämtliche militärischen Verbände des alten Thieu-Regimes aufgerieben. Einerseits machen sich in der Metropole Mangel und Entbehrung breit. Zum anderen sitzen gewiefte Händler auf beträchtlichen Beständen US-amerikanischer Waren. Wenngleich Schwarzmarkt und Unsicherheit dominieren, gelingt es den neuen Machthabern, langsam Tritt zu fassen und ihre Herrschaft zu festigen. Das aber vollzieht sich keineswegs gradlinig. Zwischen dem Norden und Süden des Landes bestehen Differenzen, die selbst Jahre später noch für sozialpolitischen Zündstoff sorgen. Letztlich waren es Panzer aus dem Norden, die siegreich in Saigon einrollten. Deren Kommandeure haben bald ungleich mehr zu sagen als die Partisanen der FNL.

Kein Automatismus

Ho Chi Minhs Epigonen sind zwar kampferprobt, aber nicht unbedingt fachlich - vor allem in verwaltungstechnischen Fragen - ausgebildet und versiert. Skrobanek läßt wiederholt seiner Frustration freien Lauf, wenn er »Dilettantismus und Mittelmäßigkeit« geißelt, sich darüber mokiert, daß »nichts Konkretes geschieht« und »nach wie vor geplündert wird.« Zu häufig werden er und sein Team hingehalten und in der täglichen Arbeit entmutigt; Scharfsinnig beobachtet der Verfasser, welche Fallstricke sich auftun, in denen sich schließlich auch jene verheddern, die zuvor den Kampf gegen Korruption und Opportunismus groß auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Bei aller Kritik bleibt Skrobanek solidarisch. Häme und Zynismus waren ihm stets ebenso fremd wie Eitelkeit und Besserwisserei.

Irritierend wirkt zunächst der Untertitel »Damit ihr wißt, daß das Leben weitergeht«. Eigentlich war der Vietnamkrieg für die 1968er das »Schlüsselereignis ihrer Politisierung«, wie Rüdiger Siebert im Nachwort zu Recht konstatiert. Und als solches war gerade mit dessen Ende die große Hoffnung, daß sich nunmehr erst recht ein neues, würdevolles Leben in einem sozialistischen Vietnam mit menschlichem Antlitz entfalten würde. Doch dank Skrobaneks einfühlsamer Skizzen erfahren wir, daß es diesen Automatismus nicht gab.

Für Alt- wie Jung-68er, die sich für die Geschichte des Landes und der Region interessieren, dürfte dieses Zeitdokument eine bereichernde Lektüre sein.

Walter Skrobanek: Nach der Befreiung - Damit ihr wißt, daß das Leben weitergeht, Tagebuch aus Vietnam 1975. Horlemann Verlag, Unkel 2008, 256 Seiten, 16,90 Euro

* Aus: junge Welt, 15. Dezember 2008


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