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Ausflug nach Pinkville

My Lai 1968: US-Truppen säubern in Südvietnam ein Vietcong-Gebiet

Von Lutz Herden *

Am Morgen des 16. März 1968, gegen acht Uhr Ortszeit, werden mehrere Kompanien der US-Sondereinheit Task Force Barker auf dem Gebiet des Gemeindeverbandes My Lai abgesetzt, um dieses Terrain in der mittelvietnamesischen Küstenprovinz Quang Ngai zu durchkämmen. Man vermutet dort ein Aufklärungsbataillon der Nationalen Befreiungsfront (FLN), im Westen seinerzeit "Vietcong" (VC), von den amerikanischen Frontsoldaten "Charly" genannt.

Als die Helikopter knapp drei Stunden später, gegen elf Uhr, zurückkehren, um die Männer abzuholen, ist Son My ausradiert. Etwa 500 Tote liegen in Wassergräben und Reisfeldern, auf Feldwegen oder im Dorf selbst - Frauen und Kinder, Männer mittleren Alters, Greise und Säuglinge. Die C-Kompanie unter dem Kommando des Leutnants William Calley hat keinen Vietcong aufgespürt, keine Waffen gefunden, keine Verluste erlitten, keine Gefangenen gemacht, aber einige tausend Schuss abgefeuert.

Ronald Haeberle, Fotograf für die Armeezeitung Stars & Stripes, ist von Anfang an dabei. Was er sieht, wird ihn nicht wieder loslassen, er wird seinen Job aufgeben und ein Jahr danach über diese drei Stunden schreiben, er habe es als Soldat nicht fertiggebracht, seine Kameraden beim Töten zu fotografieren. "Ich fotografierte nur ihre Opfer."

Haeberle wird zum Chronisten des Grauens, er wird es auch wegen der knappen Kommentare, mit denen er seine Bilder versieht. Wer das Massaker nacherleben, wer es rekonstruieren will, muss sich daran halten. In Haeberles Bildlegenden ist zu lesen: "Frauen und Kinder werden zusammengetrieben. In Todesangst sehen sie, dass die Soldaten ihre Gewehre auf sie richten." - "Um das Feuer anzufachen, wirft ein Soldat Strohmatten, die zum Trocknen von Reis benutzt werden, über die Toten." - "Der Körper vor dem brennenden Haus zuckt noch. Ein GI sagt mir, er sehe seither Gespenster."

Als Haeberle ein Jahr nach dem Massaker, inzwischen aus der Armee entlassen, öffentliche Vorträge hält und dabei Bilder aus My Lai zeigt, die bis dahin niemand außer ihm gesehen hat, hört er den Vorwurf, Handlanger des Vietcong zu sein und Fälschungen zu verbreiten. Doch beschreibt Ron Ridenhour - als Soldat 1968 in Mittelvietnam stationiert - zur gleichen Zeit in ungezählten Briefen und Petitionen an Kongressabgeordnete, Senatoren und Journalisten immer wieder, was ihm Calleys Männer über den 16. März 1968 erzählt haben - bis auch die Army einräumt, dass an jenem Tag "die Dinge etwas aus dem Ruder gelaufen sind". Sie ringt sich zu halbherzigen und zähen Recherchen durch, bei denen zu guter Letzt ein Einzeltäter übrig bleibt: Leutnant William Calley, kein monströser Killer, sondern ein überforderter junger Offizier, wie es heißt, dem einfach die Sicherungen durchgebrannt seien und mit ihm den Soldaten der C-Kompanie. Vorsätzliche Tötung gewiss, aber kein Mord, werden später beim Calley-Prozess die Richter sagen

"Wir hatten einen Weg gefunden, wie wir uns keine Vorwürfe zu machen brauchten", räsoniert Captain Willard in Francis Coppolas Vietnam-Film Apocalypse Now über den Umgang mit Zivilisten in Vietcong-Gebiet, "wir zerhackten sie mit Maschinengewehren in zwei Hälften und legten ihnen dann einen Verband an."

Der schlimmste aller Teufel

Ende 1967, drei Monate vor My Lai, hat die CIA in Südvietnam das Phoenix-Programm zur Matrix ihres Handelns erklärt und kein Hehl daraus gemacht, "jeden zu neutralisieren", der "Vietcong verdächtig" ist. Die Botschaft an jeden Südvietnamesen: Wann immer ihr mit dem Feind in Berührung gekommen seid, ob er euch kontrolliert hat oder sich nur in eurer Nähe aufhielt - wir werden darauf zurückkommen. Denn der Phoenix ist ein Königsvogel, er erhebt sich aus seiner Asche und kehrt zurück, ob es sich nun um die südvietnamesische Regierungsarmee oder um uns, die Amerikaner, handelt.

"Ja, es gab keinen Zweifel, dass von einem gewissen Zeitpunkt des Krieges an alle wie Tiere abgeschossen werden konnten", erinnerte sich Jahre später Barton Osborn, Phoenix-Resident der CIA für Da Nang, in einem Interview für einen Dokumentarfilm des Studios Heynowski & Scheumann. Das Phoenix-Raster habe den Gegner drei Kategorien zugeordnet: Zur Gruppe A zählen nordvietnamesische Berater und Militärs sowie Vietcong in Uniform, als Gruppe B gelten verdeckte Kader in Städten und Dörfern. Kategorie C, nach dem entsprechenden südvietnamesischen Gesetz auch "On Tri" genannt, umfasst jedermann, der mit den Vietcong kooperiert oder im Verdacht steht, es zu tun. Ab 1968 fallen unter das "On Tri"-Gesetz sämtliche Personen, die in den so genannten "Feuer-Frei-Zonen" leben, also jenen Gebieten, in denen es mutmaßlich Aktivitäten des Vietcong gibt. Ob Flugblätter auftauchen oder ein Phoenix-Agent einen "Schläfer" aus der Kategorie B enttarnt hat - es kann genügen, ein Dorf dem "On Tri"-Gesetz zu unterwerfen. Für My Lai kommt das einem Todesurteil gleich.

Noch einmal Barton Osborn: "Wie bekannt ist, zog eine Einheit der Army nach My Lai 4 und brachte alles um. Frauen, Kinder, alte Menschen, Hühner und Enten. Alles Lebende, was da war. Die weit gezogenen Grenzen dieser Kategorie C von Phoenix machten es möglich, jeden, der nur aussah wie ein Asiat, gleich als einen Feind zu betrachten."

Wer Phoenix beim Wort nimmt, darf sich über My Lai nicht wundern. Das Massaker liegt in der Logik des Programms. Es gab keine Verabredung zum Töten, keine skrupellos befohlene Strafaktion - es gab den Alltag des Krieges, der einmündet in Horror und Schrecken und alle anderen Gefühle erstickt. Als Hauptmann Ernest Medina am 15. März 1968 die Einheiten der Task Force Barker auf die am nächsten Tag anstehende Operation in der Provinz Quang Ngai einstimmt, redet er vom "Ausflug nach Pinkville", so der Army-Spitzname für My Lai, bei dem es darauf ankomme, seinen "gesunden Menschenverstand" zu gebrauchen und ein Gebiet zu säubern, "in dem Charly nichts verloren hat".

Der "gesunde Menschenverstand" sorgt für 503 Tote, ausnahmslos Zivilisten, sie haben Reis gesteckt, Schöpfräder bewegt, Wasserbüffel von einem Feld zum anderen getrieben, vor ihren Häusern gesessen und Reis gesiebt. Keiner hat einen Schuss abgefeuert oder die falsche Fahne gehisst. Man braucht fünf Tage, die Toten zu bestatten. Der Hang zum totalen Verdacht, der in jedem Vietnamesen den potenziellen Feind sieht, zeigt an, wie sehr für die Amerikaner ab 1968 "die Dinge aus dem Ruder laufen".

"Ich habe den Teufel der Gewalt, der Gier und der Begierde erblickt. Doch ich ahnte, dass ich in diesem sonnenüberfluteten Land, dem schlimmsten aller Teufel begegnen würde, dem aufgedunsenen Dämon der unerträglichen Dummheit", hatte Joseph Conrad Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem Roman Herz der Finsternis über eine Reise ins Reich der Finsternis im Kongo geschrieben. In Vietnam gesellte sich zum "Dämon der unerträglichen Dummheit" die Dreistigkeit der unerträgliche Lüge. Der Süden sollte der freien Welt erhalten bleiben. Eine historische Mission. Und die Missionare wollten sich der Leichenfelder nicht schämen, auf denen sie unterwegs waren.

Zur eigenen Rettung

Anderthalb Monate vor dem Massenmord in My Lai geschieht in Südvietnam, was bis dahin undenkbar scheint. Am 30. Januar 1968 läutet der Vietcong das "Jahr des Affen" mit einer Neujahrsoffensive zum Tet-Fest ein. Erstmals geraten die Metropolen Südvietnams in den Sog eines Feuersturms, der sich für Wochen nicht legt. In der Kaiserstadt Hue - dem Kernland von Annam - weht die blau-rote Fahne mit dem gelben Stern 40 Tage über der Zitadelle, bevor das US-Marinekorps nach mehreren vergeblichen Versuchen das Gelände zurückerobert. Der Stützpunkt Da Nang, das größte Nachschubdepot und Truppenlager der Amerikaner in Mittelvietnam, liegt unter dem Feuer von Granatwerfern. Im Delta des Mekong - dem Kernland von Cochinchina - stehen fast alle Städte vorübergehend unter dem Kommando der Aufständischen. Die Schmach, überrascht und überrannt worden zu sein, weitet sich zum Desaster, als in Saigon - im Kernland des südvietnamesischen Staates - Vietcong-Kommandos einsickern und die zur Festung ausgebaute US-Botschaft angreifen. Nachdem ein altersschwacher Ford wie ein Rammbock das Eingangstor durchbrochen hat, kann Botschafter Ellsworth Bunker hinter dem kugelsicheren Glas seines Büros zusehen, wie Marines das Selbstmordkommando des Vietcong massakrieren.

Während die südvietnamesische Nationalarmee in den Tagen nach dem 30. Januar 1968 wie paralysiert wirkt und in Hue ganze Einheiten den Angriffsbefehl verweigern, ziehen die Amerikaner blank. Sie haben im Dschungel verbrannte Erde hinterlassen, sie können es auch in den Städten. Das südliche Ben Tre, wo ein Volkskomitee über Aushänge mitteilt, dass es die Geschicke der Kommune in die Hand zu nehmen gedenke, wird eingeäschert. "Ben Tre musste zur eigenen Rettung vernichtet werden", teilt ein Kommuniqué der südvietnamesischen Regierung unter General Van Thieu ungerührt mit.

Für die Amerikaner verbreitet die Tet-Offensive eine Ahnung von der heraufziehenden Niederlage - für den Vietcong ist sie ein teuer erkaufter Achtungserfolg. Zuweilen entsteht der Eindruck, zwischen Da Nang und Ben Tre sei ein einziges großes Selbstmordkommando zum letzte Gefecht angetreten, um sich zu opfern. Die Befreiungsfront riskiert viel, wirft Eliteeinheiten aus Laos in die Schlacht, kämpft mit schweren Waffen, meidet in den Städten die Luftüberlegenheit der Air Force - und hofft auf eine Erhebung der Bevölkerung, doch vergeblich. Die Bonne Société von Saigon ist außer sich, schreit nach Rache und bekommt sie, als Polizeichef Nguyen Ngoc Loan einen gefangenen Vietcong vor laufenden Kameras mit seinem Revolver in die Schläfe schießt. Dieses Bild macht Geschichte.

Ein Schock für das vermeintlich gute Gewissen Amerikas. Das also sind die good guys, die Verbündeten, für die zu kämpfen, eine Frage der Ehre sein soll: Henker, die keinen Richter brauchen und sich nicht scheuen, einen gefesselten Gefangenen auf offener Straße zu töten. Anderthalb Jahre später, im November 1969, als die My-Lai-Untersuchungen der Army ein Massaker zu Tage fördern, wird man zu dieser Episode noch mehr wissen: Nguyen Ngoc Loan besitzt einen Wiedergänger, nur hat Leutnant William Calley seinen Tatort nicht auf dem Le-Loi-Boulevard von Saigon, sondern zwischen Wasserkanälen und Reisfeldern gefunden.

Am 13. November 1969 drucken alle großen US-Blätter, auch die Washington Post und die New York Times, den ersten My Lai-Report des Journalisten Semour Hersh über das Verbrechen vom 16. März 1968 - und immer mehr Amerikaner verlieren die Lust, mit diesem Krieg ihren Frieden zu machen. Anfang Mai 1970 demonstrieren Tausende Studenten der Kent State University und der Jackson University (Staat New York) gegen den Vietnam-Krieg - auf ihren Plakaten auch die Bilder von Ronald Haeberle. Als die Nationalgarde den Campus räumen will, kommt es zu Zusammenstößen, vier Studenten werden erschossen.

"Wir hatten einen Weg gefunden, wie wir uns keine Vorwürfe zu machen brauchten, wir zerhackten sie mit Maschinengewehren in zwei Hälften und legten ihnen dann einen Verband an." - Der Dämon der Dummheit und der Lüge. Millionen Amerikaner konnten ihn nach My Lai nicht länger ertragen.

William Calley -Hausarrest und Begnadigung

Der am 8. Juni 1943 geborene Calley war der einzige Offizier aus der US-Armee, der wegen des Massakers vom 16. März 1968 zu Verantwortung gezogen wurde. Der Prozess gegen ihn begann nach mehrfachem Aufschub schließlich am 16. November 1970. Aus Solidarität mit dem Angeklagten setzten einige US-Bundesstaaten an diesem Tag die Flaggen aus Halbmast. Unter den Gouverneuren, die dies veranlassten, war auch James Earl Carter, der sich während seiner 1977 beginnenden US-Präsidentschaft als Anwalt der Menschenrechte in Szene setzte.

Calley wurde der vorsätzlichen Tötung von 22 Zivilisten für schuldig befunden und am 31. März 1971 zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Einen Tag später wandelte Präsident Nixon die Strafe in Hausarrest um, bevor er Calley 1974 vollends begnadigte.

* Aus: Wochenzeitung "Freitag", Nr. 11, 14. März 2008


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